
Zehn Jahre, nachdem sich die Welt in Paris auf ein historisches Versprechen geeinigt hat, trifft sie sich nun am Tor zum Amazonas, in Belém, Brasilien. Die Luft ist feucht und schwer, nicht nur vom tropischen Klima, sondern auch von der Last der Erwartungen – und der Schwere einer offensichtlichen Enttäuschung.
Das offizielle Motto dieses 30. Klimagipfels (COP30) lautet „Umsetzung“. Doch während die Delegierten über die Rettung des Amazonas und die Zukunft der Landwirtschaft beraten, wird die Konferenz von einem mächtigen Geist heimgesucht: dem der Abwesenheit. Die Vereinigten Staaten von Amerika, einst Architekt des Pariser Abkommens und größter historischer Emittent, boykottieren das Treffen auf höchster Ebene. Die Administration unter Präsident Trump hat sich nicht nur aus dem Pariser Abkommen zurückgezogen, sie signalisiert der Welt damit auch ein tiefes Desinteresse an multilateraler Klimapolitik. Dieses Vakuum ist das eigentliche Zentrum der Konferenz. Die COP30 in Belém ist weniger ein Gipfel über das Klima als vielmehr eine Bühne für einen fundamentalen geopolitischen Machtwechsel. Sie zeigt eine Welt im Übergang, die ihre alte Führung verloren hat und nun zusieht, wie ein neuer Akteur die Regeln der globalen Energiewende ökonomisch neu definiert.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Das Washingtoner Vakuum und der kalifornische Gegenentwurf
Die Abwesenheit der offiziellen US-Delegation ist mehr als eine diplomatische Leerstelle; sie ist ein Brandbeschleuniger für die Erosion von Vertrauen. Ohne die Beteiligung der USA fehlt den Verhandlungen der entscheidende Hebel, um verbindliche Beschlüsse für die größten Emittenten zu erzielen. Jede Zusage, jede Finanzierungsrunde wirkt vorläufig, solange einer der mächtigsten Spieler nicht am Tisch sitzt. Langfristig untergräbt dieser Rückzug die globalen Klimaziele fundamental, da er anderen Nationen einen Vorwand liefert, ihre eigenen Ambitionen ebenfalls zurückzuschrauben.
In dieses Vakuum tritt ein Mann, der ein anderes Amerika repräsentieren will: Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien. Sein Auftritt in Belém ist eine sorgfältig inszenierte politische Demonstration. Er präsentiert Kalifornien als „stabilen und verlässlichen Partner“ und nutzt die globale Bühne für eine Generalabrechnung mit der Trump-Administration. Newsom nennt die Abwesenheit Washingtons „doubling down on stupid“ (etwa: „die Dummheit auf die Spitze treiben“). Seine Vision ist klar: Die kalifornische Klimapolitik, geprägt von ambitionierten Emissionszielen und massiven Investitionen in grüne Technologien, ist kein ökologischer Luxus, sondern knallharte Wirtschaftspolitik. Er warnt eindringlich vor den ökonomischen Konsequenzen der US-Isolation. Während Washington den Klimawandel leugne, so Newsom, dominiere China längst die Zukunftsmärkte. Für die USA bedeute dies nicht weniger als den Verlust der globalen Wettbewerbsfähigkeit und der technologischen Führung im 21. Jahrhundert.
Chinas grüne Flut: Wie Peking die Energiewende dominiert
Wo Washington eine Lücke hinterlässt, stößt Peking mit ökonomischer Wucht hinein. China füllt das Vakuum nicht primär mit Diplomatie, sondern mit Hardware. Eine Flut von bemerkenswert günstigen Solarpaneelen, Windturbinen und Batterien überschwemmt den Weltmarkt. Dies ist das Ergebnis einer unerbittlichen, staatlich gesteuerten Industriepolitik, die auf massive Skaleneffekte und Technologieführerschaft setzt. Chinas strategisches Ziel ist offensichtlich: Es will die globale Energiewende nicht nur begleiten, sondern sie materiell kontrollieren.
Für Schwellenländer von Vietnam über Chile bis nach Nigeria ist dies ein Wendepunkt. Die chinesische Technologie verändert ihre Entwicklungs- und Emissionspfade radikal. Sie können ihre Energieversorgung nun schneller und billiger dekarbonisieren, als es mit westlicher Technologie je möglich gewesen wäre – oft ohne auf die zögerlichen Finanzhilfen der Industrienationen warten zu müssen, die ihnen lange versprochen, aber nie ausreichend geliefert wurden. Doch dieser schnelle Fortschritt hat einen geopolitischen Preis. Es entstehen neue, massive Abhängigkeiten. Länder, die ihre kritische Energieinfrastruktur fast ausschließlich auf chinesische Technologie stützen, begeben sich in eine strategische Verwundbarkeit. Die Abwesenheit von US-Wirtschaftsführern bei der COP30 unterstreicht diese Verschiebung. Während amerikanische CEOs das Treffen meiden – vielleicht aus Furcht vor der eigenen Regierung –, sichert sich China die globalen Investitionsströme und die Lieferketten der Zukunft.
Das Paradox von Belém: Grüne Technologie und fossiler Boom
So verheißungsvoll der Boom der Erneuerbaren auch ist, er kann einen fundamentalen Widerspruch nicht überdecken, der die gesamte Klimakonferenz durchzieht: Die globale Förderung fossiler Brennstoffe boomt. Trotz der Pariser Ziele und aller Rhetorik werden weltweit neue Öl- und Gasprojekte genehmigt und die Produktion ausgeweitet. Es ist ein globales Paradox: Wir bauen das Rettungsboot (grüne Technologie) schneller als je zuvor, während wir gleichzeitig das Leck im Rumpf (fossile Emissionen) aktiv vergrößern. Dieser Widerspruch nährt sich aus der Annahme, dass der Übergang noch lange dauern wird, und aus den enormen Profiten, die kurzfristig noch zu machen sind.
Dieser Zielkonflikt zeigt sich exemplarisch in der Debatte um Biokraftstoffe, die etwa in Indien geführt wird. Um die Abhängigkeit von Ölimporten zu reduzieren, forciert die indische Regierung eine massive Ethanol-Beimischung zum Benzin. Was auf dem Papier wie eine Klimalösung aussieht, offenbart bei näherem Hinsehen tiefe Verteilungswirkungen. Bauern werden ermutigt, Mais oder Zuckerrohr für die Ethanolproduktion anzubauen, was die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe treiben und die Ernährungssicherheit gefährden kann. Es entsteht der klassische „Tank-oder-Teller“-Konflikt. Experten warnen zudem, dass die Klimabilanz von Biokraftstoffen oft schlecht ist und Investitionen in Elektromobilität oder Solarenergie weitaus effizienter wären.
Sichtbar, aber machtlos: Die Stimmen der indigenen Völker
Die COP30 in Belém, am Rande des Amazonas, inszeniert sich bewusst als „Gipfel der indigenen Völker“. Sie sind die moralischen Gastgeber, ihre Vertreter bewahren einen Großteil der weltweiten Biodiversität, und ihre Gesichter prägen die Pavillons. Doch hinter den Kulissen klafft eine tiefe Lücke zwischen dieser „Sichtbarkeit“ und der tatsächlichen „Macht“. Während indigene Sprecher für die Kameras tanzen und reden, kämpfen sie mit profanen, aber entscheidenden Hürden. Die Logistik in der Stadt Belém ist überfordert; viele Delegierte müssen auf Kreuzfahrtschiffen im Hafen übernachten. Für indigene Gruppen mit geringem Budget sind die explodierenden Kosten für Unterkünfte eine massive Barriere.
Noch schwerer wiegt der Ausschluss von den eigentlichen Verhandlungen. Vertreter berichten von hochrangigen Sitzungen ohne Dolmetscher oder dem Gefühl, als dekoratives Element missbraucht zu werden, während die Entscheidungen anderswo fallen. Was nützt die Bühne, wenn das Mikrofon für die Verhandlungsräume fehlt? Ihre Forderungen sind daher fundamental: Sie wollen nicht nur gehört werden, sie fordern echte Mitsprache bei der Entwicklung von Politik und, entscheidend, direkte Finanzierung für ihre Schutzprojekte – vorbei an den nationalen Regierungen, denen sie oft misstrauen. Auch das Gastgeberland Brasilien spielt eine ambivalente Rolle. Es präsentiert sich als Schutzmacht des Amazonas und initiiert Programme wie die „Tropical Forests Forever Policy“, die Länder für erfolgreichen Walderhalt finanziell belohnen soll. Gleichzeitig kämpft das Land intern mit den Lobbys der Agrar- und Rohstoffindustrie, die für die Entwaldung mitverantwortlich sind.
Eine Krise der Glaubwürdigkeit und die Last der Klimaangst
Was bedeutet es für die Glaubwürdigkeit des gesamten UN-Prozesses, wenn ein Gipfel von vornherein als „Umsetzungs-COP“ bezeichnet wird, bei der kein Durchbruch erwartet wird? Wenn die Umsetzung darin besteht, dass China den Markt übernimmt, während die USA ihre Pläne kassieren und der fossile Sektor floriert, verliert der Prozess seine legitimierende Kraft. Für viele Beobachter verkommt der Gipfel zu einer bürokratischen Übung, während die globalen Temperaturen weiter steigen.
Dieses Gefühl der Ohnmacht angesichts der sich verschärfenden Krise hat längst auch eine psychologische Dimension erreicht. Die ständige Flut von Schreckensmeldungen rund um die Klimagipfel verstärkt bei vielen Menschen die „Klimaangst“. Experten raten dazu, diese Angst nicht zu verdrängen, sondern als rationale Reaktion auf eine reale Bedrohung anzuerkennen. Der Umgang damit erfordert zweierlei: Zuerst das „Cope and Connect“ – das Bewältigen durch das Sprechen über die Angst und das Knüpfen von Gemeinschaften, um sich nicht allein zu fühlen. Und zweitens: „Find a Purpose“ – den Übergang vom passiven Sorgen ins aktive Handeln, sei es im Kleinen oder im Großen, um ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückzugewinnen.
Die COP30 in Belém ist ein perfekter Spiegel dieser gespaltenen Realität. Sie zeigt den technologischen Fortschritt und die geopolitischen Verwerfungen, den unbedingten Willen der Zivilgesellschaft und die lähmende Ignoranz etablierter Mächte. Die „Umsetzung“ findet statt – aber sie ist chaotisch, widersprüchlich und gefährlich unvollständig.


