
Es sind Bilder, die in ihrer Banalität eine fast surreale Wucht entfalten. Schwer bewaffnete Beamte der Drogenbekämpfungsbehörde DEA, gekleidet in schusssichere Westen, patrouillieren auf der National Mall in Washington D.C., jenem weitläufigen grünen Herzen der amerikanischen Hauptstadt. Jogger ziehen an ihnen vorbei, Eisverkäufer preisen ihre Waren an, Touristen schlendern durch einen sonnigen Sommertag. Die Szene wirkt wie aus einem schlechten Drehbuch, eine Farce, die sich als ernste Mission tarnt. Doch diese Bilder sind keine Fiktion. Sie sind das sichtbarste Zeichen einer Machtdemonstration, die tief in das empfindliche Gefüge der amerikanischen Demokratie eingreift.
Präsident Donald Trump hat, in seiner zweiten Amtszeit, einen sogenannten „Kriminalitätsnotstand“ für die Hauptstadt ausgerufen. Mit diesem Federstrich hat er nicht nur die Nationalgarde auf die Straßen beordert, sondern auch die gesamte Polizeibehörde der Stadt, das Metropolitan Police Department (MPD), unter föderale Kontrolle gestellt. Es ist ein beispielloser Akt, eine Geste der Stärke, die bei genauerem Hinsehen vor allem eines offenbart: eine tiefgreifende politische Schwäche und die Bereitschaft, die Realität für eine wirkungsvolle Inszenierung zu opfern. Denn die Intervention in Washington ist keine Antwort auf eine Krise – sie ist die Krise.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Ein Notstand ohne Not: Die Fiktion der Kriminalität
Die Rhetorik des Weißen Hauses zeichnet das Bild einer Stadt am Abgrund. Trump spricht von Washington als einem gesetzlosen Höllenloch, heimgesucht von „blutrünstigen Kriminellen“ und „wilden Jugendbanden“. Als unmittelbarer Anlass dient der medienwirksame, versuchte Raubüberfall auf Edward Coristine, einen jungen Mitarbeiter aus dem Umfeld von Elon Musk. Dieses Ereignis wurde zum Zündfunken für eine längst geplante Erzählung. Das Weiße Haus nutzt den Vorfall, um ein Narrativ von explodierender Gewalt zu zementieren und die Übernahme der Polizeigewalt als unausweichliche Rettungsaktion zu verkaufen.
Doch diese Erzählung ist ein politisches Konstrukt, das an den Fakten zerschellt. Ein Blick in die offiziellen Kriminalitätsstatistiken entlarvt den ausgerufenen Notstand als eine bewusste Fiktion. Die Administration stützt ihre Argumentation auf veraltete Zahlen aus dem Jahr 2023. Die aktuellen Daten für 2024 und 2025 zeichnen ein völlig anderes Bild: Die Mordrate in Washington ist signifikant gesunken, bewaffnete Raubüberfälle sind stark zurückgegangen, und selbst die als Begründung herangezogenen Carjackings haben sich mehr als halbiert. Insgesamt befindet sich die Gewaltkriminalität in der Stadt auf einem 30-Jahres-Tief.
Die Diskrepanz zwischen der behaupteten Krise und der statistischen Realität ist so eklatant, dass sie nicht als Versehen abgetan werden kann. Sie ist der Kern der Strategie. Es geht nicht darum, ein reales Problem zu lösen, sondern darum, ein Problem zu erfinden, um eine politische Agenda durchzusetzen. Diese Agenda hat weniger mit der Sicherheit der Bürger Washingtons zu tun als mit dem Bedürfnis des Präsidenten nach einem „schnellen, visuell ansprechenden PR-Sieg“, einer Ablenkung von anderen politischen Schwierigkeiten und einer Demonstration von Härte gegenüber einer Stadt, die ihn bei der letzten Wahl mit überwältigender Mehrheit abgelehnt hat.
Das Labor der Macht: Warum Washington ein so leichtes Ziel ist
Warum aber kann der Präsident eine solche Operation ausgerechnet in der Hauptstadt so mühelos durchführen? Die Antwort liegt in der einzigartigen und prekären rechtlichen Stellung Washingtons. Der District of Columbia ist kein Bundesstaat und genießt daher nicht den gleichen Schutz seiner Autonomie. Der sogenannte „Home Rule Act“ von 1973, der der Stadt eine begrenzte Selbstverwaltung zugestand, enthält eine entscheidende Schwachstelle: eine vage formulierte Klausel, die es dem Präsidenten erlaubt, im Falle von „Notstandsbedingungen besonderer Art“ die Kontrolle über die städtische Polizei für bis zu 30 Tage zu übernehmen. Eine Verlängerung wäre nur mit Zustimmung des Kongresses möglich.
Diese Klausel, die noch nie zuvor angewendet wurde, wird nun zu einem machtpolitischen Instrument. Sie macht D.C. zu einem „einzigartig weichen Ziel“, einem politischen Labor, in dem der Präsident eine militarisierte Form der inneren Sicherheit erproben kann, ohne sich mit dem Widerstand eines Gouverneurs oder einer bundesstaatlichen Legislative auseinandersetzen zu müssen. Diese strukturelle Verwundbarkeit, gepaart mit der Tatsache, dass die Stadt mehrheitlich von Demokraten und Afroamerikanern bewohnt wird, macht sie zum idealen Sündenbock in der republikanischen Vorstellungswelt. Trump nutzt Washington als Bühne, um eine Botschaft an andere demokratisch regierte Städte wie Chicago oder Baltimore zu senden, in denen er jedoch nicht über dieselben direkten Eingriffsmöglichkeiten verfügt.
Die zwei Gesichter des Widerstands: Zwischen Pragmatismus und Kapitulation
Die Reaktion der lokalen Politik auf diese föderale Übernahme ist ein Lehrstück in machtpolitischer Asymmetrie. Bürgermeisterin Muriel Bowser (D) wählt einen Weg der vorsichtigen Deeskalation. Sie widerspricht zwar Trumps Darstellung der Kriminalitätslage, betont aber gleichzeitig, dass die Stadt rechtlich zur Kooperation gezwungen sei. Ihre Haltung ist von der Furcht geprägt, den Präsidenten durch offenen Widerstand zu noch drastischeren Maßnahmen zu provozieren. Sie versucht, hinter den Kulissen zu verhandeln und das Schlimmste zu verhindern, eine Strategie, die ihr von einigen als Pragmatismus, von anderen als vorauseilender Gehorsam ausgelegt wird.
Ein starkes Symbol für die Grenzen dieses Ansatzes ist die jüngste Entfernung des „Black Lives Matter“-Schriftzugs von der Straße vor dem Weißen Haus. Was 2020 noch ein sichtbares Zeichen des Trotzes gegen Trump war, wurde nun im Versuch, die Bundesregierung nicht zu verärgern, geopfert – ohne den jetzigen Eingriff verhindern zu können. Einige Stadtratsmitglieder fordern daher eine Kursänderung hin zu offenem Widerstand.
Ganz anders agieren die ideologischen Unterstützer des Präsidenten. Konservative Kommentatoren wie Christopher Rufo feiern die Aktion als Chance für einen „Durchgriff im Stile Bukeles“. Die Anspielung auf den autoritären Präsidenten von El Salvador, Nayib Bukele, der die Verfassung seines Landes aushebelte, um seine Macht zu zementieren, und Zehntausende ohne rechtsstaatliche Verfahren inhaftieren ließ, ist entlarvend. Sie zeigt, dass das eigentliche Ziel nicht die Kriminalitätsbekämpfung ist, sondern die Etablierung eines autoritären Regierungsmodells, bei dem die Opposition delegitimiert und der Rechtsstaat als Hindernis betrachtet wird.
Der Preis der Inszenierung: Kollateralschäden für Militär und Gesellschaft
Während die politische Debatte tobt, sind die praktischen Folgen und Risiken der Operation bereits absehbar. Die Entsendung von rund 800 Nationalgardisten, die für den Kampf und nicht für kommunale Polizeiarbeit ausgebildet sind, birgt erhebliche Gefahren. Militärexperten warnen davor, Soldaten in Situationen zu bringen, in denen sie als Ordnungshüter gegen die eigenen Nachbarn agieren sollen. Frühere Einsätze, wie jener in Los Angeles, haben gezeigt, dass solche politisch motivierten Missionen die Moral der Truppen untergraben und die Rekrutierung erschweren.
Gleichzeitig droht das Vertrauen der lokalen Bevölkerung in ihre Polizei, das ohnehin fragil ist, weiter zu erodieren. Wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, dass ihre Polizei nicht mehr ihnen, sondern dem Weißen Haus dient, könnte ihre Kooperationsbereitschaft bei der Aufklärung von Verbrechen sinken. Darüber hinaus zielt die Rhetorik des Präsidenten, der davon spricht, „die Slums loszuwerden“, direkt auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Hilfsorganisationen bereiten sich bereits auf eine Zunahme von Zwangsräumungen obdachloser Menschen vor, die von den Sicherheitskräften aus dem Stadtbild entfernt werden sollen.
Die Wirksamkeit der gesamten Operation wird zudem stark bezweifelt. Die eingesetzten Bundesbeamten und die von Trump ernannten Leiter der Operation haben keinerlei Erfahrung in der kommunalen Polizeiarbeit. Werden die Truppen an touristischen Hotspots wie der National Mall stationiert, verfehlen sie die tatsächlichen Kriminalitätsschwerpunkte. Werden sie hingegen in den betroffenen Vierteln eingesetzt, bleibt der von Trump erhoffte mediale Effekt aus, da dort die Fernsehkameras fehlen.
Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Besetzung Washingtons weniger eine Demonstration von Stärke als ein Schauspiel ist. Es ist der Versuch, durch die pure Präsenz von Uniformen und Waffen eine politische Realität zu schaffen, die den Fakten widerspricht. Historisch reiht sich dieser Akt in ein Muster ein, bei dem Präsident Trump das Militär wiederholt als Requisite für seine innenpolitische Agenda missbraucht hat – sei es an der Grenze, bei Protesten in Los Angeles oder nun in der Hauptstadt. Sein Zögern, dieselbe Nationalgarde am 6. Januar 2021 zum Schutz des Kapitols einzusetzen, steht dazu in einem schrillen Kontrast.
Die stille Besetzung von D.C. ist somit ein Alarmsignal. Sie zeigt, wie verletzlich demokratische Institutionen sind, wenn ein Akteur bereit ist, rechtliche Grauzonen auszunutzen und die Macht des Staates für politische Inszenierungen zu instrumentalisieren. Was in Washington als Farce beginnt, könnte als gefährlicher Präzedenzfall für das ganze Land enden. Es stellt die fundamentale Frage, was geschieht, wenn die Erzählung der Macht lauter wird als die Stimme der Fakten – und niemand mehr genau weiß, ob er einer Rettungsaktion oder nur einer sehr überzeugenden Aufführung beiwohnt.