Washingtons Shutdown-Theater: Eine Falle für die Demokratie

Illustration: KI-generiert

Der Countdown in Washington läuft, und wieder einmal droht der mächtigsten Nation der westlichen Welt die Selbstlähmung. Mit dem nahenden Ende des Fiskaljahres am 30. September steht die Bundesregierung vor einem Shutdown, einem Regierungsstillstand, der längst zum ritualisierten Bestandteil des politischen Kalenders geworden ist. Doch was auf den ersten Blick wie eine weitere Episode parteipolitischer Obstruktion aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als etwas weitaus Gefährlicheres: ein gezielter Angriff auf die Gewaltenteilung und die Aushöhlung der legislativen Macht. Die Absage eines entscheidenden Verhandlungstreffens durch Präsident Donald Trump ist dabei kein blosser Akt des Starrsinns, sondern ein strategisches Manöver in einem Konflikt, in dem die Demokraten gefangen scheinen. In einer perfiden politischen Zwickmühle führt für sie jeder Weg, ob Konfrontation oder Kompromiss, zu einem Machtzuwachs der Exekutive. Die eigentliche Tragödie dieses Schauspiels ist nicht der drohende Stillstand des Regierungsapparats, sondern der schleichende Funktionsverlust des Kongresses selbst.

Die Mechanik der Eskalation

Um die aktuelle Blockade zu verstehen, muss man die prozeduralen Feinheiten des US-Senats kennen. Obwohl die Republikaner in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit stellen, sind sie im Senat auf die Kooperation der Demokraten angewiesen. Um eine Debatte zu beenden und eine endgültige Abstimmung über ein Gesetz zu erzwingen, ist eine qualifizierte Mehrheit von 60 Stimmen erforderlich – eine Hürde, die als „Filibuster“ bekannt ist und die Minderheitspartei mit einem erheblichen Vetorecht ausstattet. Genau diesen Hebel nutzen die Demokraten unter Führung von Senator Chuck Schumer, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen. Ihre Zustimmung zu einer Übergangsfinanzierung, einer sogenannten „Continuing Resolution“ (CR), die die Regierung bis zum 21. November am Laufen halten würde, knüpfen sie an Bedingungen. Sie verlangen die Wiederherstellung von Subventionen für die Krankenversicherung unter dem Affordable Care Act, die Rücknahme von Kürzungen bei Medicaid und die Freigabe eingefrorener Haushaltsmittel.

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Die Republikaner hingegen präsentieren ihren Vorschlag als „saubere“ Verlängerung ohne politische Anhängsel – genau das, was die Demokraten in der Vergangenheit oft selbst gefordert hatten. Ihre Kommunikationsstrategie zielt darauf ab, die Demokraten als die eigentlichen Blockierer darzustellen, die aus parteitaktischem Kalkül eine landesweite Krise provozieren. Präsident Trump wiederum giesst Öl ins Feuer, indem er die demokratischen Forderungen als „unseriös und lächerlich“ diffamiert und jede Verhandlungsgrundlage verweigert, bis die Opposition ihre Positionen aufgibt. Beide Seiten inszenieren sich so für die Öffentlichkeit als die einzig vernünftigen Akteure und weisen dem politischen Gegner die alleinige Verantwortung für den drohenden Kollaps zu.

Die Macht des Provisoriums

Der Kern des Problems liegt jedoch tiefer als im tagespolitischen Gezänk. Er verbirgt sich in der Natur der Übergangsfinanzierung selbst. Eine Continuing Resolution ist kein vollwertiger Haushalt, sondern lediglich eine Verlängerung der existierenden Ausgabenniveaus. Während ein reguläres Haushaltsgesetz von detaillierten Berichten begleitet wird, die vom Kongreß ausgehandelt werden und den Ministerien präzise vorschreiben, wie die Gelder zu verwenden sind, fehlen diese Leitplanken bei einer CR oft. Dieses rechtliche Vakuum schafft einen enormen Ermessensspielraum für die Exekutive. Die Regierung kann Gelder innerhalb der Behörden nach eigenem Gutdünken umverteilen und so die vom Kongreß intendierten Prioritäten unterlaufen.

Daß dies keine theoretische Gefahr ist, hat die jüngste Vergangenheit bewiesen. Nach der Verabschiedung einer sechsmonatigen CR im März dieses Jahres nutzte die Trump-Administration ihre neu gewonnene Flexibilität umgehend aus. Gelder, die für eine Suizid-Präventionshotline für LGBTQ+-Jugendliche vorgesehen waren, wurden ebenso gestrichen wie Mittel für frühkindliche Bildung und Zuschüsse für Lehrer. Stattdessen flossen die Mittel in die Förderung von Charter-Schulen, in zivile Bildungsprogramme und an Ingenieurkorps der Armee in republikanisch regierten Bundesstaaten. Dieses Vorgehen bricht mit einer langjährigen politischen Konvention, nach der auch nicht rechtlich bindende Berichte des Kongresses von der Exekutive respektiert wurden, um zukünftige Verhandlungen nicht zu belasten. Die amtierende Regierung hat diese ungeschriebenen Gesetze jedoch aufgekündigt und damit die Macht des Parlaments über den Haushalt – das sogenannte „power of the purse“, das Herzstück der legislativen Kontrolle – empfindlich geschwächt.

Trumps asymmetrische Kriegsführung

Sollten die Demokraten bei ihrer Blockade bleiben und es zu einem Shutdown kommen, verbessert sich ihre Position keineswegs. Im Gegenteil: In diesem Szenario wächst die Macht des Präsidenten sogar noch weiter. Das Weisse Haus und das ihm unterstellte Office of Management and Budget (OMB) erhalten die alleinige Befugnis zu definieren, welche Regierungsfunktionen als „essentiell“ für den Schutz von Leben und Eigentum gelten und daher weiterlaufen müssen, und welche nicht. Während beispielsweise Sicherheitskontrollen an Flughäfen aufrechterhalten werden, bleiben die Mitarbeiter der Umweltbehörde EPA zu Hause.

Diese Autorität lässt sich als politisches Werkzeug missbrauchen. Die Administration kann Programme, die ihr politisch missfallen, rigoros stilllegen, während sie jene, die ihr am Herzen liegen, grosszügig als unverzichtbar einstuft und am Leben erhält. Ein Shutdown ist somit keine neutrale Massnahme, die alle Teile der Regierung gleichermassen trifft, sondern eine Form der asymmetrischen Kriegsführung, die es dem Präsidenten erlaubt, den Schmerz gezielt auf die Wählerschaft und die Interessengruppen des politischen Gegners zu lenken, um dessen Verhandlungsposition zu untergraben. Vor diesem Hintergrund erscheint Trumps Weigerung zu verhandeln nicht als impulsiver Wutanfall, sondern als kalkulierte Eskalation hin zu einem Zustand, in dem er über die mächtigsten Instrumente verfügt.

Ein Kampf auf dem falschen Schlachtfeld?

Angesichts dieser fast ausweglosen Lage stellt sich die Frage nach der strategischen Klugheit der Demokraten. Sie haben sich auf das Thema Gesundheitspolitik als ihre zentrale Forderung festgelegt – ein populäres Anliegen, das jedoch erhebliche Risiken birgt. Die Konzentration auf die Wiederherstellung von ACA-Subventionen und Medicaid-Mitteln gleicht den Verhandlungstaktiken vergangener Haushaltskämpfe und signalisiert eine gewisse Berechenbarkeit. Schlimmer noch, sie könnte den Republikanern in die Hände spielen. Ein Kompromiss in der Gesundheitspolitik könnte für moderate Republikaner in umkämpften Wahlkreisen attraktiv sein und ihnen erlauben, ein für sie gefährliches Thema vor den Zwischenwahlen 2026 abzuräumen.

Eine scharfsinnige Analyse legt nahe, daß die Demokraten ihre Kräfte auf ein gänzlich anderes Schlachtfeld konzentrieren sollten: die Zölle. Aus mehreren Gründen wäre dies der strategisch überlegene Ansatz. Erstens haben Trumps protektionistische Massnahmen seine Zustimmungswerte nachweislich stärker beschädigt als jede andere Kontroverse. Nach der Verkündung seiner „Liberation Day“-Zölle im April stürzte sein Nettowert in Umfragen von -3 auf -9,7 Punkte ab. Die Wähler sind zunehmend besorgt über die wirtschaftliche Entwicklung und die Inflation, wo der Präsident katastrophale Werte aufweist. Zweitens entlarvt die Zollpolitik Trumps Missachtung der Verfassung. Indem er im Alleingang Zölle erhebt, masst er sich Befugnisse an, die gemäss der Verfassung eindeutig dem Kongreß zustehen – nämlich Steuern zu erheben und den Handel zu regulieren. Ein Kampf um die Zölle wäre somit nicht nur ein Streit um Wirtschaftspolitik, sondern eine Verteidigung der institutionellen Integrität des Kongresses. Und drittens könnte dieses Thema einen Keil in die Reihen der Republikaner treiben, von denen viele traditionell dem Freihandel zugeneigt sind.

Das Dilemma der Opposition

Die demokratische Führung unter Chuck Schumer steht somit vor einer fundamentalen Entscheidung, die von dem Druck der eigenen Basis zusätzlich erschwert wird. Nachdem eine Gruppe demokratischer Senatoren im März einer Übergangsfinanzierung zugestimmt hatte, um einen Shutdown zu verhindern, der nach ihrer damaligen Einschätzung die Administration nur noch weiter ermächtigt hätte, schlug ihnen heftige Kritik aus den eigenen Reihen entgegen. Man warf ihnen vor, vor Trump eingeknickt zu sein und den Kampf um die Macht des Parlaments aufgegeben zu haben. Diesen Fehler will Schumer nun offenbar nicht wiederholen und hat eine härtere Gangart angekündigt.

Die Alternative zur Konfrontation über spezifische Politikfelder wäre eine noch radikalere Strategie: die prinzipielle Verweigerung jeglicher Kooperation. Die Demokraten könnten argumentieren, daß sie einer Partei, die in böser Absicht handelt und die exekutiven Machtmissbräuche duldet, keine Stimmen zur Aufrechterhaltung des Regierungsbetriebs leihen werden. Sie würden die Republikaner damit zwingen, ihre Regierungsverantwortung allein zu schultern und die Konsequenzen zu tragen – oder aber die letzten Reste der überparteilichen Verfahrensregeln wie den Filibuster endgültig zu beseitigen, was die Einparteienherrschaft der Republikaner für alle sichtbar machen würde. Eine solche Taktik erfordert jedoch ein Höchstmass an Geschlossenheit und Disziplin, das bei den Demokraten nicht immer vorhanden ist. Zudem könnte die dadurch erzeugte Krisenatmosphäre genau das sein, was Trump anstrebt, um sich als starker Mann zu inszenieren.

Mehr als nur ein Regierungsstillstand

Das Drama, das sich derzeit in Washington abspielt, ist somit weit mehr als ein bizarrer politischer Streit um Haushaltszeilen. Es ist der sichtbare Ausdruck einer fortschreitenden Erosion institutioneller Normen und einer signifikanten Machtverschiebung hin zur Exekutive. Die wiederholte Notwendigkeit von Übergangsfinanzierungen, gepaart mit einer Regierung, die die damit verbundenen Spielräume strategisch zur Entmachtung des Parlaments nutzt, droht das provisorische Regieren zur neuen Normalität zu machen. Der Kongreß wird dabei von einem gestaltenden Souverän zu einem reaktiven Akteur degradiert, dessen wichtigstes Kontrollinstrument stumpf wird. Die Demokraten befinden sich in einer strategischen Falle, in der jeder ihrer Züge denselben ungewollten Effekt zu haben scheint: die Stärkung jenes Präsidenten, den sie eigentlich kontrollieren wollen. Der grösste Schaden eines erneuten Shutdowns wäre daher nicht die vorübergehende Schliessung von Nationalparks oder Behörden, sondern die dauerhafte Beschädigung des demokratischen Gleichgewichts.

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