Washingtons Belagerung: Wie Trumps Kampf gegen die Kriminalität zum Angriff auf den Rechtsstaat wird

Illustration: KI-generiert

Washington im Spätsommer. Die Luft ist mild, die Touristenströme fließen wieder durch die Adern der amerikanischen Hauptstadt. Am Tidal Basin, wo im Frühling die Kirschbäume in einem zarten Rosa explodieren, bietet sich ein Bild von fast surrealer Friedfertigkeit: Junge Soldaten der Nationalgarde, in Tarnuniform, harken Beete, verteilen Mulch, pflegen die Grünanlagen. Es ist eine Szene, die so gar nicht zu der apokalyptischen Rhetorik passen will, mit der Präsident Donald Trump seine zweite Amtszeit untermalt. Er spricht von „Verbrechen, Blutvergießen, Chaos und Elend“, das in der Hauptstadt herrsche, und hat daraus die Legitimation für einen beispiellosen Akt der Machtdemonstration abgeleitet: die faktische Föderalisierung der Polizeigewalt in Washington, D.C.

Doch dieses Bild der gärtnernden Soldaten ist mehr als nur eine kuriose Randnotiz. Es ist eine Metapher. Eine Metapher für eine Politik, die unter dem Banner von Recht und Ordnung einen tiefgreifenden Umbau staatlicher Autorität vorantreibt. Die Operation in Washington ist kein gewöhnlicher Polizeieinsatz. Sie ist ein politisches Schauspiel, ein Labor, in dem die Grenzen des Föderalen ausgetestet und die lokale Autonomie systematisch demontiert werden. Während die Regierung eine Erzählung von Anarchie und Verfall spinnt, um ihr Handeln zu rechtfertigen, regt sich im Herzen des Systems, in den Gerichtssälen der Stadt, ein leiser, aber entschlossener Widerstand. Es ist die Geschichte eines Kampfes, der nicht primär auf den Straßen stattfindet, sondern um die Seele des amerikanischen Rechtsstaats selbst.

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Die Inszenierung einer Krise: Washington im Zerrspiegel der Macht

Um die massive Entsendung von tausenden Nationalgardisten und hunderten Bundesagenten aus mindestens acht verschiedenen Behörden – von der FBI bis zur Border Patrol – zu rechtfertigen, bedarf es einer überzeugenden Bedrohungslage. Die Trump-Administration liefert diese in Form einer düsteren, fast dystopischen Darstellung der Hauptstadt. Der Präsident selbst malt das Bild einer gesetzlosen Zone, die von brutalen Kriminellen überrannt wird. Seine Justizministerin, Jeanine Pirro, befiehlt ihren Staatsanwälten, in jedem Fall die härtestmöglichen Anklagen zu erheben. Es ist eine Rhetorik der Stärke, die Handlungsentschlossenheit signalisieren und eine verunsicherte Öffentlichkeit beruhigen soll.

Das Problem an dieser Erzählung ist nur: Sie scheint in einem fundamentalen Widerspruch zur Realität zu stehen. Denn während der Präsident das Bild einer Stadt am Rande der Anarchie zeichnet, sprechen die offiziellen Zahlen der D.C. Police eine andere, weit nüchternere Sprache. Die Gewaltkriminalität ist im laufenden Jahr nicht etwa eskaliert, sondern im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 27 Prozent gesunken. Seit Beginn der föderalen Intervention am 11. August ist der Rückgang mit 51 Prozent sogar noch deutlicher. Selbst die Administration verwies zu Beginn des Jahres auf sinkende Kriminalitätsraten, um den späteren Kontrast umso dramatischer erscheinen zu lassen.

Die Diskrepanz zwischen Narrativ und Statistik ist so eklatant, dass sie eine entscheidende Frage aufwirft: Dient die massive Präsenz von Sicherheitskräften tatsächlich der Bekämpfung einer akuten Kriminalitätswelle oder vielmehr der Erzeugung eines politischen Bildes? Die Beobachtung, dass sich die föderalen Einsatzkräfte bislang vor allem auf touristische Hotspots, Verkehrsknotenpunkte und Ausgehviertel konzentrieren, anstatt auf die Gegenden mit den höchsten Kriminalitätsraten, nährt den Verdacht, dass es hier weniger um effektive Polizeiarbeit als um sichtbare Machtprojektion geht. Die Operation wird zu einer Kulisse, vor der eine politische Agenda aufgeführt wird.

Wenn der Rechtsstaat zurückbeißt: Der stille Aufstand der Richter

Doch diese sorgfältig konstruierte Bühne bekommt Risse. Und zwar dort, wo die Inszenierung auf die unbestechliche Mechanik des Justizsystems trifft. In den Gerichtssälen von Washington, D.C. entfaltet sich ein bemerkenswertes Schauspiel des Widerstands. Es sind nicht Politiker oder Demonstranten, die sich der föderalen Übernahme am lautesten widersetzen, sondern Richter und die Bürger in den Grand Jurys – jene Institutionen, die als letzte Kontrollinstanz zwischen staatlicher Macht und dem Individuum stehen.

Die Grand Jury, im amerikanischen Rechtssystem dafür zuständig, die Stichhaltigkeit einer Anklage vor einem eigentlichen Prozess zu prüfen, verweigert der Regierung auffällig oft die Gefolgschaft. Dieses Gremium, das normalerweise als verlängerter Arm der Staatsanwaltschaft gilt und nur eine minimale Beweisschwelle („probable cause“) anlegt, hat in mehreren Fällen die Erhebung von Anklagen verweigert. Ein Fall, der landesweit für Aufsehen sorgte, betraf einen Mann, der einen Bundesbeamten mit einem Sandwich beworfen hatte; die Grand Jury weigerte sich, ihn wegen eines schweren Verbrechens anzuklagen. In einem anderen Fall verweigerte eine Grand Jury sogar dreimal in Folge die Anklage gegen eine Frau, die beschuldigt wurde, eine FBI-Agentin tätlich angegriffen zu haben.

Noch direkter und schärfer fällt die Kritik von den Richterbänken aus. Insbesondere der Bundesrichter Zia M. Faruqui, selbst ein ehemaliger Staatsanwalt, hat sich zu einer zentralen Figur des richterlichen Unmuts entwickelt. Seine Worte hallen nach, weil sie nicht nur juristische Verfahren rügen, sondern die grundlegende Legitimität des Vorgehens infrage stellen. Eine Durchsuchung, die zur Verhaftung eines Mannes führte, bezeichnete er als „die illegalste Durchsuchung, die ich in meinem Leben gesehen habe“. Den Betroffenen, einen schwarzen Mann, der lediglich auf dem Weg zu einem Supermarkt war, habe man eine Woche lang seiner Freiheit beraubt und von seiner schwangeren Frau und seinen Kindern getrennt. In einem anderen Fall, bei dem ein Essenslieferant von maskierten Bundesagenten zu Boden gerissen wurde, sprach Faruqui von einer Verletzung der „grundlegenden Menschenwürde“ und stellte klar: „Wir haben keine Geheimpolizei“. Diese richterlichen Zurechtweisungen sind mehr als nur prozessuale Korrekturen. Sie sind ein Alarmsignal, das darauf hindeutet, dass die Exekutive in ihrem Eifer, Stärke zu demonstrieren, die Leitplanken der Verfassung zu überfahren droht.

Theater der Stärke: Wenn Soldaten Gärten pflegen und Agenten im Dunkeln agieren

Die Absurdität der Situation manifestiert sich nirgends deutlicher als in den neuen Aufgaben der Nationalgarde. Über 2.200 Truppen wurden in die Hauptstadt beordert, um die lokale Polizei zu unterstützen. Doch ihre Mission hat sich schleichend gewandelt. Statt an vorderster Front die Kriminalität zu bekämpfen, sind sie nun für „Verschönerungsprojekte“ zuständig. Sie entfernen Müll, beseitigen Graffiti und widmen sich, wie eingangs beschrieben, der Landschaftspflege.

Diese Degradierung von hochtrainierten Soldaten zu städtischen Hilfsarbeitern wirft nicht nur die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und den immensen Kosten auf, sondern stößt auch innerhalb der Truppe auf Unverständnis und Sorge. Erfahrene Unteroffiziere fragen sich, wie sie unter diesen Umständen die militärische Einsatzbereitschaft ihrer Einheiten aufrechterhalten sollen. Es ist eine paradoxe Situation: Während die Regierung von einem Notstand spricht, werden die zur Abwehr dieses Notstands herbeigerufenen Kräfte mit Routineaufgaben betraut, für die eigentlich eine chronisch unterbesetzte Nationalparkverwaltung zuständig wäre.

Parallel dazu agiert eine Truppe von rund 500 Bundesagenten, deren Vorgehen oft im Verborgenen bleibt. Viele von ihnen tragen Masken oder operieren aus unmarkierten Fahrzeugen heraus, ihre Westen tragen nur vage Aufschriften wie „Police“ oder „Federal Agent“, was eine Identifizierung der zuständigen Behörde erschwert. Sie verfolgen eine Art „Broken Windows“-Strategie, bei der kleinste Vergehen wie ein kaputtes Rücklicht oder ungültige Nummernschilder zum Anlass für intensive Kontrollen, Durchsuchungen und Befragungen genommen werden. Ein erheblicher Teil der über 1.000 Festnahmen richtet sich zudem gegen Einwanderer ohne gültige Papiere, was die Vermutung nahelegt, dass die Operation auch als Instrument zur Verschärfung der Migrationspolitik dient. Die Föderalisierung der Polizeiarbeit wird so gleichzeitig zur Föderalisierung der Einwanderungskontrolle, was die lokalen Richtlinien der Stadt gezielt untergräbt.

Die Falle schnappt zu: Das politische Kalkül hinter dem Chaos

Warum also dieser immense Aufwand, wenn die Kriminalität sinkt und die Justiz Widerstand leistet? Die Antwort liegt weniger in der Sicherheits- als in der politischen Arena. Donald Trump selbst hat das strategische Ziel offen benannt: Er will die Demokraten in eine „Falle“ locken. Es ist ein altbewährtes politisches Manöver, das auf einem tief verwurzelten Dilemma der liberalen Politik basiert. Indem man die Debatte auf das emotionale Terrain von „Recht und Ordnung“ verlagert, zwingt man den politischen Gegner in eine defensive Position. Jede Kritik an überzogenen Polizeimaßnahmen, jeder Appell zur Wahrung der Bürgerrechte kann leicht als „soft on crime“, als Nachgiebigkeit gegenüber Kriminellen, umgedeutet werden.

Diese Strategie hat eine lange, schmerzhafte Geschichte in der amerikanischen Politik. Viele erinnern sich an die berüchtigte „Willie Horton“-Anzeige aus dem Wahlkampf 1988, die den demokratischen Kandidaten Michael Dukakis als verantwortungslos im Umgang mit Schwerverbrechern darstellte. Auch der Slogan „Defund the Police“ aus dem Jahr 2020 wurde von den Republikanern erfolgreich als Beleg für eine angebliche radikale Gesetzlosigkeit der Demokraten instrumentalisiert, obwohl die meisten führenden Politiker der Partei sich davon distanzierten.

Trump reaktiviert dieses Muster mit kühlem Kalkül. Er weiß, dass das Gefühl von Unsicherheit oft mehr wiegt als jede Statistik. Indem er die Hauptstadt zur Bühne seiner Law-and-Order-Politik macht, sendet er eine Botschaft an das ganze Land und positioniert sich für die kommenden Wahlen als der einzige Garant für Sicherheit. Die Demokraten stehen vor der schwierigen Aufgabe, eine Antwort zu finden, die sowohl die Prinzipien des Rechtsstaats verteidigt als auch die Sorgen der Bürger ernst nimmt. Demokratische Strategen raten dazu, die Debatte umzulenken: auf die republikanische Blockade bei der Waffengesetzgebung, auf die Notwendigkeit, in soziale Prävention und psychische Gesundheitsversorgung zu investieren, anstatt nur auf Repression zu setzen. Es ist ein Ringen um die Deutungshoheit, bei dem es um weit mehr geht als um Kriminalitätsraten.

Blaupause für die Nation? Washington als Labor der neuen Autorität

Die Übernahme der Kontrolle in Washington, die sich inzwischen auch auf zivile Bereiche wie die Verwaltung des Hauptbahnhofs Union Station ausweitet, könnte mehr sein als nur eine temporäre Machtdemonstration. Sie könnte eine Blaupause sein. Ein Testlauf, um zu sehen, wie weit die Bundesregierung die Autonomie von Städten und Bundesstaaten, insbesondere jenen mit demokratischer Führung, aushöhlen kann. Der Präsident hat bereits angedeutet, ähnliche Einsätze in Städten wie Chicago, Baltimore oder New York in Erwägung zu ziehen.

Was in Washington geschieht, ist daher von nationaler Bedeutung. Es wirft fundamentale Fragen über die Balance zwischen föderaler Macht und lokaler Selbstverwaltung („Home Rule“) auf. Es stellt die Unabhängigkeit der Justiz auf die Probe und testet die Widerstandsfähigkeit demokratischer Institutionen. Die gärtnernden Soldaten am Tidal Basin sind am Ende vielleicht das ehrlichste Bild dieser ganzen Operation: eine militärische Macht, die für eine zivile Aufgabe eingesetzt wird, für die sie weder gedacht noch ausgebildet ist. Ein Symbol für eine Politik, die unter dem Vorwand, die Ordnung wiederherzustellen, die bestehende Ordnung und ihre Regeln gezielt untergräbt. Die eigentliche Gefahr für Washington und für Amerika geht womöglich nicht von den Verbrechen aus, die in den Statistiken sinken, sondern von den Methoden, die zu ihrer angeblichen Bekämpfung eingesetzt werden.

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