Washingtons Belagerung: Wie Donald Trump die amerikanische Hauptstadt in ein Labor für den autoritären Staat verwandelt

Illustration: KI-generiert

Soldaten patrouillieren auf der National Mall, das Kapitol als stumme Kulisse im Hintergrund. Humvees parken vor der historischen Union Station. Es sind Bilder, die man aus Krisengebieten kennt, nicht aus dem Herzen der ältesten ununterbrochenen Demokratie der Welt. Doch die Männer und Frauen in Uniform sind keine Besatzer. Sie sind Amerikaner. Und sie sind auf Befehl ihres Präsidenten hier. Die offizielle Begründung für diesen Aufmarsch im August 2025 ist so simpel wie schlagkräftig: die Bekämpfung einer angeblich außer Kontrolle geratenen Kriminalität.

Doch wer genauer hinsieht, erkennt, dass es sich bei den Vorgängen in Washington, D.C. um weit mehr handelt als eine simple Polizeiaktion. Wir werden Zeugen eines präzise inszenierten politischen Theaterstücks, dessen Drehbuch nicht in den Polizeirevieren der Stadt, sondern im Weißen Haus geschrieben wird. Es ist ein Angriff auf das Fundament der lokalen Selbstverwaltung, ein Testlauf zur Aushebelung demokratischer Strukturen und ein Fanal für das, was anderen amerikanischen Städten unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump drohen könnte. Die Belagerung Washingtons ist keine Antwort auf eine Krise – sie ist die Krise selbst, ein gezielt herbeigeführter Stresstest für die amerikanische Demokratie.

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Die Fiktion vom unregierbaren Moloch

Jede Machtdemonstration braucht einen Vorwand, eine erzählbare Bedrohung, die drastische Maßnahmen rechtfertigt. Für die Trump-Administration ist diese Bedrohung die Kriminalität in der Hauptstadt. Die Rhetorik ist martialisch und zeichnet das Bild eines gesetzlosen Molochs, den nur die harte Hand des Bundes retten kann. Angeführt von der neuen, von Fox News direkt ins Amt der U.S.-Staatsanwältin gewechselten Jeanine Pirro, wird eine Law-and-Order-Agenda vorangetrieben, die große Städte pauschal als gescheiterte, von Demokraten regierte Zonen des Chaos darstellt.

Doch die Realität, wie sie die Quellenlage zeichnet, ist widersprüchlich und weitaus komplexer. Zwar stimmt es, dass die Mordrate in D.C. im Jahr 2023 einen Höchststand erreichte, doch seitdem sind die Zahlen für Gewaltverbrechen signifikant rückläufig. Kritiker der Intervention, wie der demokratische Senator Tim Kaine, verweisen darauf, dass die Kriminalität sich auf einem 30-Jahres-Tief befinde. Wie passt das zusammen? Die Antwort liegt in der selektiven Wahrnehmung von Daten. Während die Gesamtzahlen sinken, bleibt die Pro-Kopf-Mordrate in Washington, D.C. im Vergleich zu Metropolen wie New York City oder Chicago alarmierend hoch.

Noch entscheidender ist die Binnenperspektive: Die Gewalt ist nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt, sondern konzentriert sich auf bestimmte, meist von Armut und sozialer Ungleichheit gezeichnete Viertel. Mehr als die Hälfte der Tötungsdelikte findet in den mehrheitlich von Afroamerikanern bewohnten Wards 7 und 8 statt, wo über 40 Prozent der Kinder in Armut leben. Die wohlhabenden, überwiegend weißen Viertel westlich des Rock Creek Park weisen hingegen eine Sicherheitslage auf, die mit europäischen Hauptstädten vergleichbar ist. Diese tiefe sozioökonomische und rassische Spaltung der Stadt wird von der Trump-Administration geflissentlich ignoriert. Stattdessen wird die Angst und das Leid der Bewohner der ärmsten Viertel instrumentalisiert, um ein Narrativ zu schaffen, das eine Intervention in der gesamten Stadt legitimieren soll. Es ist ein zynisches Spiel, bei dem die Opfer von Kriminalität zur Staffage für eine politische Agenda werden, die nicht auf ihre Sicherheit, sondern auf die Unterwerfung der lokalen Regierung zielt.

Home Rule: Das ausgehöhlte Herz der städtischen Freiheit

Der eigentliche Kern des Konflikts ist ein juristischer und verfassungsrechtlicher: der Kampf um das sogenannte „Home Rule“. Seit dem Home Rule Act von 1973 besitzen die Bürger von Washington, D.C. das Recht, ihren eigenen Bürgermeister und einen Stadtrat zu wählen – eine begrenzte Form der Selbstverwaltung, die es in der Hauptstadt über ein Jahrhundert lang nicht gab. Doch diese Autonomie ist fragil, denn der Kongress und der Präsident behielten sich weitreichende Kontroll- und Eingriffsrechte vor. Die Kontrolle über die Nationalgarde von D.C. beispielsweise liegt nicht bei der Bürgermeisterin, sondern direkt beim Präsidenten – eine Anomalie im föderalen System der USA.

Genau diese Schwachstelle nutzt Donald Trump nun mit einer bisher nie dagewesenen Aggressivität. Er beruft sich auf eine Notstandsklausel im Home Rule Act, die es dem Präsidenten erlaubt, die Kontrolle über die städtische Polizei für „föderale Zwecke“ zu übernehmen. Was als absolute Ausnahmeregelung für Krisenfälle wie Terroranschläge gedacht war, wird nun umgedeutet, um gegen Obdachlosencamps vorzugehen oder die Einwanderungspolitik des Bundes durchzusetzen.

Der Versuch der Administration, mit Terry Cole, dem Chef der Drogenbekämpfungsbehörde DEA, einen eigenen „Notfall-Polizeikommissar“ zu installieren, markierte den vorläufigen Höhepunkt dieser Machtübernahme. Es war ein direkter Versuch, die amtierende Polizeichefin Pamela A. Smith zu entmachten und die Befehlskette der D.C. Polizei ins Justizministerium umzuleiten. Nur das schnelle und entschiedene juristische Vorgehen des Generalstaatsanwalts von D.C., Brian Schwalb, und eine unmissverständliche Warnung der zuständigen Bundesrichterin Ana C. Reyes konnten diesen Schritt vorerst stoppen. Das Justizministerium musste zurückrudern und anerkennen, dass die Polizeichefin vorerst im Amt bleibt. Doch der Sieg ist brüchig. Der grundsätzliche Anspruch des Präsidenten, die städtische Polizei nach seinen politischen Zielen zu dirigieren, bleibt bestehen und wird die Gerichte weiter beschäftigen. Was wir erleben, ist die systematische Aushöhlung eines demokratischen Grundprinzips von innen – mit den Werkzeugen des Gesetzes selbst.

Eine Stadt zwischen Protest und Normalität

Die Ankunft von Hunderten zusätzlichen Nationalgardisten aus Ohio, South Carolina und West Virginia – allesamt von republikanischen Gouverneuren auf Bitten Trumps entsandt – hat die Zahl der uniformierten Kräfte in der Hauptstadt auf über 1.500 anwachsen lassen. Diese massive Präsenz hat die Stadt verändert und den Widerstand auf die Straße getragen. Hunderte Demonstranten ziehen mit Schildern wie „Trump Must Go Now“ und „Free D.C.“ durch die Straßen und blockieren den Verkehr. Es kommt zu angespannten Konfrontationen, bei denen Bürger die Soldaten als „Verräter“ beschimpfen und die Polizei eingreifen muss, um die Lager mit Fahrrädern zu trennen.

Die Stimmung ist aufgeheizt, eine Mischung aus Wut, Angst und dem Gefühl, in der eigenen Heimatstadt angegriffen zu werden. Ein Justizbeamter, der ein Sandwich auf einen Bundesbeamten warf, wird für einige zu einer Art lokalem Volkshelden, dessen Tat auf Protestschildern zitiert wird – ein Symbol des zivilen Ungehorsams gegen eine als übergriffig empfundene Staatsmacht.

Doch nur wenige Kilometer entfernt zeigt sich ein völlig anderes Bild. Im Fort Dupont Park, auf der anderen Seite des Anacostia River, versammeln sich Tausende zum jährlichen Go-Go-Musikfestival zu Ehren der lokalen Legende Chuck Brown. Hier, in einem der Viertel, das am stärksten von der Gewalt betroffen ist, die Trump zu bekämpfen vorgibt, ist von der Anspannung nichts zu spüren. Es gibt keine Nationalgarde, keine gepanzerten Fahrzeuge, nur die übliche Parkpolizei, die den Verkehr regelt. Familien feiern, tanzen und genießen die Gemeinschaft. Ein lokaler Aktivist bringt es auf den Punkt: „Was unsere Stadt jetzt braucht, ist Liebe und Ordnung, nicht unbedingt Recht und Ordnung“. Dieser Kontrast könnte größer nicht sein. Er zeigt eine Stadt, die sich ihre Lebensfreude und ihre Kultur nicht nehmen lassen will, die aber gleichzeitig in ihrem Herzen, rund um die Monumente der Macht, einen Kampf um ihre Seele und ihre Autonomie austrägt.

Die Ideologen der harten Hand

Diese Konfrontation ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis einer gezielten Strategie, umgesetzt von loyalen Akteuren. Eine Schlüsselfigur in diesem Gefüge ist Jeanine Pirro. Ihre Ernennung zur obersten Bundesanwältin für den District of Columbia ist ein klares politisches Statement. Pirro, die ihre Karriere als Staatsanwältin vor Jahrzehnten gegen eine weitaus lukrativere als polarisierende Persönlichkeit bei Fox News eintauschte, ist eine langjährige Freundin und lautstarke Verteidigerin Trumps. Ihre Rückkehr in den Staatsdienst dient einem klaren Zweck: Sie soll die juristische Speerspitze für die Law-and-Order-Agenda des Präsidenten sein und die Aktionen in D.C. mit der nötigen Härte durchsetzen.

Sie füllt damit das Vakuum, das Rudy Giuliani hinterlassen hat, und bedient das klassische republikanische Narrativ von den unregierbaren, von Kriminalität zerfressenen demokratischen Städten. Ihre Rhetorik ist unmissverständlich, wenn sie von „jungen Punks“ spricht, die man zur Rechenschaft ziehen müsse. Ihr Büro treibt bereits eine Anklage wegen Körperverletzung gegen einen Mann voran, der das bereits erwähnte Sandwich auf einen schwer bewaffneten Bundesbeamten warf. Es ist ein klares Signal: Widerstand, selbst symbolischer, wird nicht toleriert.

Diese Ideologie der harten Hand wird durch die Gouverneure von South Carolina, Ohio und West Virginia aktiv unterstützt. Ihre Bereitschaft, die eigene Nationalgarde nach Washington zu entsenden, ist ein Akt der politischen Solidarität mit dem Präsidenten. Es ist eine Neuauflage der Dynamik, die bereits während der Proteste nach dem Tod von George Floyd im Jahr 2020 zu beobachten war, als ebenfalls vor allem republikanisch geführte Staaten Truppen schickten, während demokratische Gouverneure sich verweigerten. Damit wird die Nationalgarde, die eigentlich ein Instrument zur Katastrophenhilfe und zur Verteidigung des Landes sein soll, zunehmend zu einer parteipolitischen Ressource, die der Präsident zur Durchsetzung seiner innenpolitischen Agenda mobilisieren kann.

Ein Menetekel für Amerika?

Was in Washington, D.C. geschieht, ist weit mehr als ein lokaler Konflikt. Es ist ein Präzedenzfall mit nationaler Tragweite. Die systematische Demontage der lokalen Autonomie, die Instrumentalisierung von Kriminalitätsstatistiken und der Einsatz von Militär im Inneren zur Durchsetzung einer politischen Agenda – all das bildet eine Blaupause, die jederzeit auf andere, von der Opposition regierte Städte übertragen werden könnte. Die vagen Notstandsbefugnisse, auf die sich der Präsident beruft, könnten zur Allzweckwaffe gegen unliebsame Bürgermeister oder Stadträte werden.

Der Kampf, den die Bürgermeisterin Muriel Bowser und der Generalstaatsanwalt Brian Schwalb führen, ist daher nicht nur ein Kampf für ihre Stadt. Es ist ein Kampf um die Grundprinzipien des amerikanischen Föderalismus und der Gewaltenteilung. Die Frage, die in den Gerichtssälen Washingtons verhandelt wird, lautet: Wo endet die Macht des Bundes, und wo beginnt das unveräußerliche Recht einer Gemeinschaft, sich selbst zu regieren?

Die Bilder der Soldaten vor dem Kapitol sind eine eindringliche Warnung. Sie zeigen, wie schnell die Grenzen zwischen innerer Sicherheit und politischer Machtdemonstration verschwimmen können und wie fragil die demokratischen Normen sind, die eine solche Verschiebung eigentlich verhindern sollen. Die Belagerung Washingtons mag heute noch eine Ausnahme sein. Doch sie könnte morgen zur neuen Normalität werden. Die entscheidende Frage für die Zukunft Amerikas wird sein, ob die juristischen und politischen Institutionen stark genug sind, um diesen autoritären Testlauf zu stoppen – oder ob die Hauptstadt der freien Welt nur das erste von vielen Laboren für einen neuen, zentralistischeren und autoritäreren Regierungsstil war.

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