
Ein Schatten gleitet über die Karibik. Es ist der 100.000-Tonnen-Schatten der USS Gerald R. Ford, des modernsten und teuersten Kriegsschiffs, das die Menschheit je gebaut hat. Begleitet von einem Geschwader aus Zerstörern, unterstützt von B-1-Bombern und Spezialeinheiten, führt dieser Trägerverband eine Armada von rund 15.000 US-Soldaten an. Der Name der Mission: „Operation Southern Spear“. Das offizielle Ziel: die Jagd auf kleine Schnellboote von Drogenschmugglern.
Seit Beginn der Operation sind mindestens 80 Menschen in den Wellen gestorben, getötet durch US-Angriffe. Doch je lauter die Salven dieser Operation dröhnen, desto lauter wird auch die Frage: Was geschieht hier wirklich?
Eine Analyse der Faktenlage zeigt: „Operation Southern Spear“ ist keine kohärente Anti-Drogen-Strategie. Sie ist ein rücksichtsloser Akt der „America First“-Machtpolitik, eine Rückkehr zur Kanonenbootdiplomatie des 19. Jahrhunderts, verpackt in die Rhetorik des 21. Jahrhunderts. Die Operation operiert in einem dichten Nebel strategischer Widersprüche, gestützt auf ein juristisches Fundament, das bei näherer Betrachtung zerbricht, und hinterlässt eine Spur diplomatischer Zerstörung, die Amerikas Position in der Hemisphäre auf Jahre hinaus untergraben könnte.

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Die verkehrte Eskalation: Wenn Kanonen auf Spatzen schießen
Der erste Riss in der offiziellen Erzählung ist einer der Proportionen. Die US-Regierung möchte die Welt glauben machen, sie setze einen Flugzeugträgerverband – das ultimative Instrument zur Projektion globaler Macht, konzipiert für den Krieg gegen Supermächte – ein, um eine Aufgabe zu erfüllen, die jahrzehntelang von der Küstenwache und leichten Patrouillenbooten erledigt wurde.
Der militärische Fußabdruck ist schlichtweg disproportional. Es geht nicht nur um die Schiffe; die Operation bindet auch die Eliteeinheit Delta Force und Langstreckenbomber ein. Das sind Fähigkeiten, die auf die Ausschaltung von Landzielen, auf Enthauptungsschläge oder auf die Vorbereitung einer Invasion hindeuten – nicht auf das Aufbringen von Drogenkurieren auf See.
Die Begründung des Drogenkampfes wirkt noch fadenscheiniger, wenn man den Blick hebt. Die Droge, die die Vereinigten Staaten derzeit am tiefsten verwundet, das Fentanyl, stammt primär aus Mexiko und nicht aus dem Kokain-Korridor Südamerikas, der nun im Zentrum der Militäraktion steht. Die Operation zielt geografisch am Kern des erklärten Problems vorbei. Es ist, als würde man ein brennendes Haus in New York löschen, indem man die Feuerwehr nach Florida schickt.
Ein Krieg per Dekret: Das juristische Vabanquespiel
Um eine derartige Militäraktion zu rechtfertigen, die den Tod von 80 Menschen – ob Schmuggler oder, wie im Fall des kolumbianischen Fischers Alejandro Carranza, mutmaßlich Unbeteiligte – zur Folge hat, bedarf es eines soliden rechtlichen Fundaments. Da es dieses nicht gab, hat das US-Justizministerium eines konstruiert.
Ein geheimes Memorandum des Office of Legal Counsel (OLC) vollführt einen juristischen Salto: Es deklariert die Drogenkartelle kurzerhand zu „Narko-Terroristen“ und behauptet, die USA befänden sich in einem formalen „bewaffneten Konflikt“ mit ihnen.
Diese Umdeutung ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Operation. Sie zielt darauf ab, das Völkerrecht und das nationale Kriegsrecht auszuhebeln. Menschen, die zuvor als Kriminelle galten (mit Rechten auf ein faires Verfahren), werden zu Kombattanten (legitimen Zielen in einem Krieg) umetikettiert. Tötungen, die man als extralegale Hinrichtungen oder Mord bezeichnen müsste, werden zu legalen Kriegshandlungen.
Doch diese Konstruktion ist ein juristisches Kartenhaus. Kritiker und die Familien der Opfer sehen darin genau das: Mord unter dem Deckmantel einer erfundenen Kriegserklärung. Für die ausführenden Soldaten entsteht ein unkalkulierbares Risiko: Sollte diese fragile „Gefechtsfeld-Immunität“ von internationalen Gerichten oder einer zukünftigen US-Regierung nicht anerkannt werden, könnten sie persönlich für völkerrechtswidrige Tötungen zur Verantwortung gezogen werden.
Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen Wort und Tat in Washington. Während hochrangige Regierungsvertreter dem US-Kongress versichern, es gäbe keine Pläne für einen Angriff auf Venezuela, sammeln sie genau die militärischen Mittel an, die für einen solchen Angriff nötig wären. Die Glaubwürdigkeit der Regierung erodiert mit jedem Schiff, das in der Karibik aufkreuzt, und mit jedem Opfer, für dessen Tod sie keinerlei Beweise vorlegt.
Strategische Inkohärenz: Was ist das wahre Ziel?
Was also will die Trump-Administration? Fragt man drei ihrer Vertreter, erhält man vier verschiedene Antworten. Diese strategische Inkohärenz ist das vielleicht markanteste Merkmal von „Operation Southern Spear“. Da ist erstens die offizielle These vom Drogenkrieg: Präsident Trump selbst beharrt öffentlich auf der Anti-Drogen-Rhetorik, einer einfachen, innenpolitisch wirksamen Botschaft. Zweitens sehen viele Experten und Beobachter in der Region die Operation als das, was sie militärisch zu sein scheint: eine verdeckte Kampagne zum Sturz von Nicolás Maduro in Venezuela. Die massive Drohkulisse soll das Regime in Caracas zermürben, zu einem internen Putsch führen oder einen Vorwand für ein direktes Eingreifen schaffen. Diese Hoffnung wird von der venezolanischen Opposition unter María Corina Machado geteilt, die die militärische Drohung aktiv nutzt, um bei westlichen Investoren für ihre „Tag-Eins“-Pläne für eine Post-Maduro-Ära zu werben – ein riskantes Spiel, das darauf wettet, dass der militärische Druck Maduros Regime bricht. Und drittens sehen andere eine zynischere Motivation: klassische Kanonenbootdiplomatie. Der Flugzeugträger dient als Verhandlungskeule, um die USA in eine vorteilhafte Position bei zukünftigen Verhandlungen über Venezuelas gigantische Ölreserven zu bringen.
Ist diese Kakofonie der Ziele – Drogen, Regime, Öl – ein Zeichen interner Unstimmigkeiten und chaotischer Regierungsführung? Oder ist die strategische Zweideutigkeit selbst ein Werkzeug? Ein absichtlich erzeugter Nebel, der den Gegner im Unklaren lassen soll und Washington alle Optionen offenhält?
Unabhängig von der Absicht bleibt das Risiko. Venezuela, obwohl wirtschaftlich am Boden, verfügt über ernstzunehmende Luftabwehrsysteme aus russischer Produktion. Eine militärische Fehleinschätzung, ein „heißer“ Zwischenfall, könnte eine unkontrollierbare Eskalation auslösen, die niemand – vielleicht nicht einmal das Weiße Haus – gewollt hat.
Toxische Allianzen: Der diplomatische Flächenbrand
Während das militärische Ziel im Nebel bleibt, ist der diplomatische Schaden bereits jetzt verheerend und unübersehbar. Die aggressive, transaktionale „America First“-Politik spaltet den Kontinent. Das sichtbarste Zeichen dieser Zerrüttung ist die Verschiebung des Amerika-Gipfels. Die Atmosphäre wurde von Diplomaten als schlicht „toxisch“ beschrieben – eine Zusammenarbeit ist unter diesen Umständen unmöglich geworden.
Noch schwerer wiegt der Vertrauensbruch mit den engsten Verbündeten. In einem beispiellosen Schritt haben sowohl Großbritannien als auch Kolumbien – jahrzehntelang der wichtigste US-Partner im südamerikanischen Drogenkampf – die geheimdienstliche Zusammenarbeit mit den USA bei dieser Operation eingestellt. Sie wollen sich nicht mitschuldig machen an Tötungen, die sie für illegal halten. Dies ist kein kleiner diplomatischer Eklat; es ist ein fundamentaler Bruch. Es entzieht der US-Operation die Augen und Ohren in der Region und isoliert Washington.
Die Reaktionen in der Region offenbaren die neue, harte Währung der US-Außenpolitik. Wer kooperiert, wird belohnt. Ecuador, das sich den USA andient, winkt Washington mit neuen Militärbasen und wirtschaftlicher Unterstützung. Argentinien erhält ebenfalls Zuspruch.
Wer widerspricht, wird bestraft. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro, der die Tötungen als „Mord“ bezeichnete, wurde von Trump persönlich angegriffen und mit Sanktionen belegt. Diese öffentliche Degradierung eines demokratisch gewählten Präsidenten eines strategischen Partnerlandes zerstört jahrzehntelang gewachsenes Vertrauen.
Selbst Mexiko sieht sich gezwungen, zu reagieren. Um zu verhindern, dass die USA in mexikanischen Gewässern Angriffe fliegen, sieht sich die mexikanische Regierung gezwungen, ihre eigene Marine zu mobilisieren – nicht, um den USA zu helfen, sondern um ihnen zuvorzukommen und die Verdächtigen selbst festzunehmen. Es ist eine defensive Reaktion auf die Aggression des eigenen Partners.
Dieser transaktionale Ansatz, der Loyalität belohnt und Kritik bestraft, mag kurzfristige Zugeständnisse erzwingen, doch er zerstört jede Grundlage für eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Er lädt zudem Amerikas globale Rivalen, China und Russland, ein, das durch die USA gerissene Vakuum in Lateinamerika zu füllen.
Epilog: Die Angst der Fischer
Am Ende jeder geopolitischen Analyse stehen Menschen. Während in Washington über „bewaffnete Konflikte“ und „strategische Zweideutigkeit“ debattiert wird, blicken die Fischer von Santa Marta, Kolumbien, mit Angst aufs Meer. Sie trauen sich nicht mehr hinauszufahren, aus Furcht, mit Schmugglern verwechselt und von einem unsichtbaren Angreifer aus der Luft getötet zu werden. Ihre Lebensgrundlage versiegt.
Und da ist die Familie von Alejandro Carranza, dem Fischer, dessen Tod die kolumbianische Regierung beklagt. Für sie ist dies kein geopolitisches Schachspiel. Für sie ist es ein Mord. Die US-Regierung, die einen Krieg gegen „Narko-Terroristen“ ausgerufen hat, bleibt den Beweis schuldig, dass Carranza einer von ihnen war – oder dass die 79 anderen Getöteten es waren.
„Operation Southern Spear“ mag von einer Logik der Stärke getrieben sein, doch sie offenbart eine tiefe strategische und moralische Schwäche. Es ist die Politik einer Supermacht, die ihre Kraft zur Schau stellt, aber ihren Kompass verloren hat. Die Armada, die in der Karibik kreuzt, ist eine Armada der Widersprüche, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet, und mehr Feinde schafft, als sie besiegt.


