
Ein Lautsprecher knackt. Eine anonyme Stimme verkündet das Ende einer urbanen Gewissheit. Für die Tausenden, die in den Bahnhöfen und an den Haltestellen von Philadelphia stehen, ist diese Durchsage mehr als nur eine Betriebsinformation. Sie ist das Geräusch einer sich schließenden Tür. In den Gesichtern der Wartenden spiegelt sich die ganze Tragweite: der ältere Herr, der seine Fahrkarte umklammert, als wäre sie ein Rettungsanker; die junge Mutter, die sorgenvoll überschlägt, wie sie nun zur Kinderbetreuung und zur Arbeit kommen soll; der Student, der fürchtet, seinen Nebenjob zu verlieren. Für sie alle, deren Leben vom Puls des öffentlichen Nahverkehrs abhängt, bedeutet die angekündigte Kappung der Linien eine drastische Einschränkung ihrer Freiheit, eine Art verordneter Hausarrest im eigenen Stadtteil.
Dieses kollektive Schicksal ist kein Einzelfall. Es ist das Echo einer Krise, die wie ein Seismograf die tektonischen Verwerfungen der amerikanischen Gesellschaft anzeigt. Die drohende Implosion des öffentlichen Nahverkehrs in Philadelphia ist weit mehr als eine lokale Haushaltsmisere. Sie ist ein Lehrstück über politischen Stillstand, soziale Ungleichheit und das langsame Aushöhlen des öffentlichen Gemeinwesens in einem Land, das unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump mit einer erneuten Welle der Austeritätspolitik und einer tiefen Abneigung gegen urbane Lebenswelten konfrontiert ist. Philadelphia steht an der Klippe – und blickt in einen Abgrund, der bald auch andere Städte verschlingen könnte.

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Anatomie eines Kollapses: Das Gift des politischen Stillstands
Wie konnte es so weit kommen? Die unmittelbaren Ursachen für das 231-Millionen-Dollar-Loch im Budget der Southeastern Pennsylvania Transportation Authority (SEPTA) lesen sich wie das Bulletin einer angekündigten Katastrophe. Es ist ein toxischer Cocktail, gebraut aus den Nachwehen der Pandemie: Die Fahrgastzahlen haben sich zwar erholt, verharren aber bei nur 80 Prozent des Vorkrisenniveaus. Gleichzeitig sind die großzügigen Bundesmittel aus der Covid-Ära, die das System künstlich am Leben hielten, im Juni 2024 vollständig aufgebraucht. Hinzu kommen explodierende Kosten für Treibstoff, Wartung und vor allem für Personal, in einem Arbeitsmarkt, der es immer schwieriger macht, Fahrer und Techniker zu halten. Ein „perfekter Sturm“, wie es ein Sprecher von SEPTA nennt.
Doch dieser Sturm wäre beherrschbar, gäbe es einen politischen Willen zur Lösung. Stattdessen tobt im Parlament von Pennsylvania in Harrisburg ein ideologischer Grabenkampf. Auf der einen Seite stehen die Demokraten um Gouverneur Josh Shapiro, die die Metropolregionen Philadelphia und Pittsburgh vertreten und auf eine nachhaltige Finanzierung der urbanen Lebensadern drängen. Auf der anderen Seite stehen die Republikaner, die mehrheitlich ländliche Wahlkreise repräsentieren und den milliardenschweren Verkehrsbetrieben mit tiefem Misstrauen begegnen. Für sie ist SEPTA ein ineffizienter Moloch, dessen Privatisierung man zumindest prüfen sollte.
Der jüngste Versuch eines Kompromisses entlarvte die ganze Tiefe des Konflikts: Die Republikaner im Senat schlugen vor, ungenutzte Gelder aus dem Baubudget des Staates umzuschichten, um die operativen Löcher der Verkehrsbetriebe zu stopfen. Ein Vorschlag, der von den Demokraten im Repräsentantenhaus als zynisches Verschiebespiel zurückgewiesen wurde. „Sie berauben buchstäblich Peter, um Paul zu bezahlen“, konstatierte der demokratische Haushaltspolitiker Jordan Harris. Man könne nicht die Instandhaltung von Straßen und Brücken opfern, um den laufenden Betrieb der Busse zu sichern. Das Ergebnis: eine Pattsituation. Der Senat vertagte sich bis September, während in Philadelphia die Lichter auszugehen drohen. In einem politischen Klima, das von der Bundesregierung in Washington kaum Impulse für den Erhalt städtischer Infrastruktur erwarten lässt, sind die Städte auf sich allein gestellt – und auf den guten Willen ihrer regionalen Parlamente. In Pennsylvania ist dieser Wille versiegt.
Die Todesspirale: Wenn eine Stadt ihre Adern kappt
Die Konsequenzen dieses politischen Versagens sind ab dem kommenden Sonntag auf den Straßen Philadelphias zu besichtigen. Der Service wird pauschal um 20 Prozent gekürzt, 32 Buslinien werden komplett gestrichen. Das bedeutet für die täglich 800.000 Fahrgäste: längere Wartezeiten, überfülltere Fahrzeuge und kompliziertere Wege. Für die 55.000 Schüler, deren Schuljahr am Montag beginnt, wird der Weg zum Unterricht zu einer logistischen Herausforderung. Und dies ist nur der Anfang. Im September sollen die Ticketpreise um 22 Prozent steigen, im Januar droht eine weitere Servicekürzung um 25 Prozent, inklusive der Stilllegung von fünf wichtigen Pendlerzuglinien ins Umland und in die Nachbarstaaten.
Experten nennen dieses Phänomen eine „Todesspirale“. Philip Plotch vom Eno Center for Transportation vergleicht es treffend mit einem sterbenden Einkaufszentrum: Wenn erst die großen Ankermieter gehen, kommen weniger Kunden. Dann schließen die kleineren Läden, und am Ende steht eine leere Hülle. Auf den Nahverkehr übertragen heißt das: Ein schlechteres Angebot führt zu weniger Fahrgästen, was wiederum die Einnahmen schmälert und als Rechtfertigung für die nächsten Kürzungen dient. Ein selbstverstärkender Niedergang.
Dieser Niedergang trifft die Gesellschaft nicht gleichmäßig. Er vollzieht eine brutale soziale Selektion. Er trifft gezielt jene, die keine Alternative haben: den Angestellten im Niedriglohnsektor, dessen Gehalt von den Kosten für alternative Fahrdienste aufgefressen würde; Menschen in prekärer Beschäftigung, für die der Wegfall des Busses den Verlust eines überlebenswichtigen Zubrots bedeutet; mobile Pflegekräfte und Dienstleister, deren Arbeitsalltag auf einen funktionierenden und bezahlbaren Nahverkehr angewiesen ist. Die Kürzungen kappen die Lebensadern für die Schwächsten und zementieren die Ungleichheit.
Philadelphia ist überall: Ein nationales Symptom
Die Krise von SEPTA ist kein lokaler Betriebsunfall. Sie ist ein Menetekel. Verkehrsbetriebe in Chicago, Dallas, Portland und San Francisco stehen vor ganz ähnlichen fiskalischen Klippen. In Chicago droht ohne Eingreifen der Politik ein Defizit von 771 Millionen Dollar. Die Washingtoner Metro konnte einen Kollaps nur durch eine massive Finanzspritze der umliegenden Bundesstaaten abwenden, deren Finanzierung aber noch nicht gesichert ist. Die strukturellen Probleme sind überall dieselben.
Was in Philadelphia auf dem Spiel steht, ist daher mehr als nur ein funktionierender Bus- und Bahnverkehr. Es ist die Frage, welche Art von Gesellschaft Amerika sein will. Eine, in der die öffentliche Infrastruktur als gemeinsames Gut und als Motor für wirtschaftliche Prosperität und soziale Gerechtigkeit verstanden wird? Oder eine, in der jeder auf sich allein gestellt ist und die Mobilität dem Diktat des individuellen Autobesitzes und der teuren Fahrdienst-Apps unterworfen wird? Die Antwort, die das Parlament von Pennsylvania gerade gibt, ist ernüchternd. Sie droht, Philadelphia seiner urbanen Identität zu berauben und seine Fähigkeit zu untergraben, eine Bühne für die Welt zu sein, wie bei der kommenden Fußball-WM. Die Expresszüge zu den Stadien der Eagles und Phillies sind bereits gestrichen. Es ist ein starkes Symbol: Eine Stadt, die ihre eigenen Fans nicht mehr zu den Spielen bringen kann, verliert mehr als nur ein Spiel. Sie verliert ein Stück ihrer Seele.