Schüsse in Washington, Deals im Hinterzimmer: Die Demontage der amerikanischen Gewissheiten

Illustration: KI-generiert

Es war eine Woche, in der sich die politische Atmosphäre in Washington nicht nur metaphorisch, sondern physisch verdichtete. Was traditionell als Zeit der Dankbarkeit, des Innehaltens und der familiären Zusammenkunft – Thanksgiving – gedacht ist, entpuppte sich in diesem Jahr als Bühne für eine radikale Neuvermessung der amerikanischen Realität. Die Ereignisse zwischen dem 24. und 30. November 2025 zeichnen das Bild einer Nation, die im Eiltempo ihre institutionellen Fesseln abstreift und in eine Ära eintritt, in der Loyalität über Gesetz steht, Gnade käuflich scheint und politische Gegner zu militärischen Feinden erklärt werden.

Der Kontrast könnte kaum schärfer sein: Während im Rosengarten des Weißen Hauses eine bizarre Parodie auf Gnade zelebriert wurde, fielen nur wenige Blocks entfernt Schüsse, die das Leben zweier junger Menschen zerstörten und zugleich das Fundament der US-Migrationspolitik erschütterten. Doch die Gewalt auf der Straße war nur das lauteste Symptom einer tiefergehenden Verschiebung. Im Stillen, in Gerichtssälen und Hinterzimmern, vollzog sich ein Umbau des Staates, der von der Demontage des Gesundheitswesens bis zur Neudefinition der Außenpolitik reicht.

Dieser Wochenrückblick analysiert die drängendsten Entwicklungen einer Woche, in der die Grenzen zwischen Satire, Tragödie und politischem Kalkül endgültig verschwammen.

Der Schattenkrieg kehrt heim: Die Tragödie von D.C. und ihre politischen Folgen

Das einschneidendste Ereignis der Woche ereignete sich am Vorabend von Thanksgiving an der Ecke 17th und H Street in Washington, D.C. Was als routinemäßige Patrouille der Nationalgarde zur Kriminalitätsbekämpfung begann, endete in einem Blutbad, das sofort zum Katalysator für eine drastische Verschärfung der Innen- und Migrationspolitik wurde. Der Angriff auf die 20-jährige Spezialistin Sarah Beckstrom, die ihren Einsatz mit dem Leben bezahlte, und ihren schwer verletzten Kollegen Staff Sergeant Andrew Wolfe, ist mehr als eine individuelle Tragödie; er ist ein politischer Wendepunkt.

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Der mutmaßliche Schütze, Rahmanullah Lakanwal, ist kein gewöhnlicher Krimineller, sondern eine Personifizierung der gescheiterten US-Außenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte. Als ehemaliges Mitglied der von der CIA aufgebauten und finanzierten Zero Units in Afghanistan gehörte er zu jenen paramilitärischen Einheiten, die einst als Speerspitze im Kampf gegen den Terror galten. Es ist eine bittere Ironie, dass ein Mann, dessen Loyalität und Härte durch jahrelange Zusammenarbeit mit amerikanischen Diensten vermeintlich verbürgt war, nun die Waffe gegen US-Soldaten im eigenen Land richtete. Die psychischen Narben eines Lebens im permanenten Kriegszustand, die Lakanwal laut Weggefährten am Ende sein ließen, wurden von den Sicherheitsüberprüfungen offenbar nicht erkannt.

Die politische Reaktion der Trump-Administration erfolgte prompt und mit einer Härte, die wenig Raum für Differenzierung ließ. Anstatt den Vorfall als Tat eines traumatisierten Einzeltäters zu behandeln, wurde er als Beweis für ein systemisches Versagen der Einwanderungspolitik der Vorgängerregierung gebrandmarkt. Dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass Lakanwals Asylstatus erst im April dieses Jahres – also unter der aktuellen Administration – final genehmigt wurde.

Die Konsequenzen sind weitreichend: Die US-Einwanderungsbehörde USCIS stoppte umgehend die Bearbeitung aller Asylanträge afghanischer Staatsbürger. Ein Moratorium, das Tausende, die vor den Taliban flohen, in einen rechtlichen Limbus stürzt. Besonders gravierend ist das faktische Einfrieren des Special Immigrant Visa-Programms, jenes zentralen Versprechens der USA an ihre Verbündeten. Ein internes Kabel wies Diplomaten sogar an, bereits gedruckte Visa zu vernichten – ein Vorgang, der das Vertrauen in die USA als Schutzmacht nachhaltig beschädigen dürfte. Die Rhetorik der kollektiven Bestrafung weitet sich zudem auf eine Liste von 19 als besorgniserregend eingestuften Ländern aus, deren Staatsbürger nun mit einer rigorosen Neuprüfung ihres Status rechnen müssen. Der Schusswechsel in Washington dient somit als Rechtfertigung, um eine ethnisch und kulturell definierte Selektion durchzusetzen und die Nationalgarde dauerhaft als Ordnungsmacht im Inneren zu etablieren, obwohl deren Einsatz von lokalen Behörden und Gerichten als rechtlich fragwürdig eingestuft wird.

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Institutionalisierter Zynismus: Von begnadigten Vögeln und käuflicher Freiheit

Während in Washington die Trauerfahnen wehten, bot der Rosengarten des Weißen Hauses eine Szenerie, die den Verlust politischer Unschuld symbolisierte. Die traditionelle Truthahnbegnadigung, einst ein Moment harmloser überparteilicher Folklore, wurde von Präsident Trump zu einer Tribüne der Abrechnung umfunktioniert. Anstatt Barmherzigkeit zu zeigen, nutzte der Präsident das Ritual, um politische Gegner zu beleidigen und die Amtshandlungen seines Vorgängers Biden symbolisch zu annullieren, indem er behauptete, dessen Begnadigungen seien aufgrund der Nutzung eines Unterschriftenautomaten ungültig.

Doch hinter diesem bizarren Theater verbirgt sich eine weitaus düsterere Realität der Gnade. Der Fall des Pflegemagnaten Joseph Schwartz, der in dieser Woche für Schlagzeilen sorgte, illustriert eine beunruhigende Kommerzialisierung des Rechtsstaats. Schwartz, verurteilt wegen massiver Steuerhinterziehung und verantwortlich für den Kollaps eines Pflegeimperiums, das Tausende Patienten im Stich ließ, erlangte eine volle Begnadigung – nur sieben Monate nach seiner Verurteilung.

Das Brisante daran: Schwartz hatte im Vorfeld 960.000 Dollar an zwei Lobbyisten überwiesen, Jack Burkman und Jacob Wohl, die selbst wegen Wählerunterdrückung und Desinformation verurteilt sind. Obwohl das Weiße Haus offizielle Treffen bestreitet, legen die zeitliche Abfolge und die Umgehung der üblichen fünfjährigen Wartezeit nahe, dass hier eine Marktlogik Einzug gehalten hat: Gnade als Dienstleistung für jene, die zahlen können. Die Begnadigung untergräbt nicht nur die Abschreckungswirkung des Strafrechts bei Wirtschaftskriminalität, sondern sendet das fatale Signal, dass Gerechtigkeit verhandelbar ist.

Parallel dazu erleben wir den Versuch, den Staatsapparat als Waffe gegen Kritiker einzusetzen. Der Fall des Senators und ehemaligen Astronauten Mark Kelly markiert dabei einen neuen Tiefpunkt. Weil Kelly Soldaten an ihre Pflicht erinnerte, illegale Befehle zu verweigern, leitete Verteidigungsminister Pete Hegseth eine Untersuchung ein, um den Senator möglicherweise nach dem Militärstrafrecht (UCMJ) zu belangen. Zwar steht die juristische Haltbarkeit auf tönernen Füßen, doch das Ziel ist Einschüchterung: Der Staat wird instrumentalisiert, um politischen Dissens als Aufruhr zu kriminalisieren. Dass dieses Vorgehen nicht immer gelingt, zeigte das Scheitern der Anklage gegen Ex-FBI-Chef James Comey in dieser Woche. Eine Bundesrichterin wies den Fall ab, weil die leitende Staatsanwältin illegal ernannt worden war – ein seltener Sieg der institutionellen Regeln über den politischen Willen zur Vergeltung.

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Transaktionale Außenpolitik: Der Pakt mit den Narcos und der leere Stuhl

Auch auf der internationalen Bühne vollzieht sich ein radikaler Paradigmenwechsel, der moralische Prinzipien durch transaktionale Loyalitäten ersetzt. Die angekündigte Begnadigung von Juan Orlando Hernández (JOH), dem ehemaligen Präsidenten von Honduras, gleicht einem Offenbarungseid der US-Drogenpolitik. Hernández, der zu 45 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er sein Land in einen Umschlagplatz für Kokain verwandelte und dafür den Schutzapparat des Staates nutzte, wird nun rehabilitiert.

Diese Entscheidung steht in einem grotesken Widerspruch zur gleichzeitigen militärischen Eskalation in der Karibik. Während die US-Navy unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung den Luftraum über Venezuela sperrt und Schießbefehle gegen mutmaßliche Schmugglerboote ausführt, öffnet sich für einen überführten Narco-Präsidenten das Gefängnistor. Der Grund für diese Dissonanz ist rein politisch: Hernández ist ein Verbündeter der Trump-Familie, und seine Begnadigung dient als Wahlkampfhilfe für die konservative Nationale Partei in Honduras, deren Sieg Washington präferiert. Damit wird der Begriff des Narco-Staates entwertet; er bezeichnet nicht mehr eine kriminelle Realität, sondern dient lediglich als Label für politische Feinde wie Nicolás Maduro, während Freunde Straffreiheit genießen.

Dieses Verständnis von Politik als Deal prägte auch das globale Geschehen beim G20-Gipfel in Johannesburg. Erstmals blieb der Stuhl der USA leer – ein boykottierter Gipfel, begründet mit angeblicher Verfolgung weißer Minderheiten in Südafrika. Die Abwesenheit Washingtons führte zu einer Fragmentierung der Weltordnung, in der Europa versuchte, die Ukraine-Unterstützung gegen Trumps 28-Punkte-Friedensplan zu verteidigen, während der Globale Süden Themen wie Ungleichheit auf die Agenda setzte. Es zeigte sich: Die Welt dreht sich auch ohne die USA weiter, doch sie wird instabiler, und die Mechanismen des Multilateralismus erodieren zusehends.

Der Angriff auf die öffentliche Gesundheit: Ideologie vor Evidenz

Im Inland formiert sich derweil eine Front gegen die wissenschaftliche Moderne. Unter der Führung von Robert F. Kennedy Jr. erlebt das Gesundheitsministerium (HHS) einen epistemologischen Bruch. Die neue Administration propagiert eine Rückkehr zu vorwissenschaftlichen Konzepten, in denen das Terrain – also der Körperzustand – wichtiger ist als der Erreger. Diese Ideologie manifestiert sich in der systematischen Säuberung offizieller Webseiten: Klare Aussagen, dass Impfungen keinen Autismus verursachen, wurden entfernt oder relativiert – ein Sieg der Desinformation durch Bürokratie.

Gleichzeitig wird Personalpolitik als Waffe eingesetzt: Sämtliche Mitglieder des beratenden Impfausschusses wurden entlassen und durch Skeptiker ersetzt. Während Forschungsgelder für mRNA-Technologie gestrichen werden, empfiehlt die Regierung bei Masernausbrüchen Vitamin A statt Impfungen.

Paradoxerweise geht diese wissenschaftsfeindliche Haltung Hand in Hand mit einem Deal mit der Pharmaindustrie. Die Administration feierte eine Preissenkung für die Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy, die nun auch über Medicare zugänglich gemacht werden sollen. Was als sozialer Segen verkauft wird, ist jedoch ein Milliardengeschäft für die Hersteller Eli Lilly und Novo Nordisk, die Margen gegen massives Volumen tauschen. Dieser chemische Imperativ birgt Risiken: Während die Gesellschaft auf die Spritze als Lösung für Adipositas setzt, zeigen Studien das Scheitern der Hoffnung, damit auch Alzheimer heilen zu können, und warnen vor seltenen, aber schweren Nebenwirkungen wie Erblindung. Es entsteht eine Gesellschaft, die zunehmend am pharmakologischen Tropf hängt, während präventive öffentliche Gesundheitsstrukturen demontiert werden.

Die ökonomische Zange: KI-Agenten, Zölle und die Alles-Rezession

Wirtschaftlich befinden sich die USA in einem gefährlichen Zangengriff. Auf der einen Seite revolutioniert der Aufstieg autonomer KI-Agenten die Arbeitswelt, bedroht Verwaltungsjobs und entwertet Einstiegspositionen in der Softwareentwicklung. Auf der anderen Seite frisst eine schleichende Alles-Rezession die Kaufkraft der Bürger auf, symbolisiert durch explodierende Strompreise. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt dank Tech-Investitionen wächst, kommt dieser Wohlstand nicht in den Haushalten an, die unter veralteter Netzinfrastruktur und den Kosten der Klimaanpassung ächzen.

Verschärft wird die Lage durch die Rückkehr des Protektionismus. Der drohende Spaghettikrieg mit Strafzöllen von bis zu 92 Prozent auf italienische Pasta zeigt die Absurdität einer Politik, die Lebensmittel in politische Waffen verwandelt und damit die Inflation im eigenen Land anheizt. Auch das Konsumverhalten ändert sich radikal: Der einst chaotische Black Friday ist einem Black November gewichen, in dem Algorithmen den Takt vorgeben und das Gemeinschaftserlebnis dem einsamen Scrollen weicht. Die Menschen kaufen nicht mehr aus Überfluss, sondern nutzen Rabatte für Alltagsgüter wie Zahnpasta – ein Symptom der Preissensibilität in einer fragilen Ökonomie.

Das Ende der Unschuld: Von Zombie-Demokratien und digitalen Geistern

Über all diesen Entwicklungen schwebt die Diagnose einer Zombie-Demokratie. Die Hoffnung, dass Institutionen als autonome Festungen gegen autoritäre Übernahmen standhalten, hat sich als Illusion erwiesen. Wenn Exekutivgewalt nicht mehr durch den Kongress oder Gerichte effektiv kontrolliert wird, bleiben die demokratischen Hüllen zwar bestehen, doch ihr Geist entweicht.

Dieser Verlust an Substanz spiegelt sich auch im Individuellen wider. Die allgegenwärtige Smartphone-Nutzung führt, wie der Sozialpsychologe Jonathan Haidt warnt, zu einer Erosion unserer kognitiven und emotionalen Fähigkeiten. Wir verlernen das tiefe Lesen und die Empathie, während wir uns in digitale Ablenkung flüchten und unsere Kinder in einer Welt aufwachsen lassen, in der soziale Vergleiche und algorithmische Belohnungssysteme die psychische Gesundheit untergraben.

Kuriosum der Woche: Patriotismus an der Parkschranke

Zum Abschluss ein Blick auf eine Entwicklung, die im Getöse der großen Politik fast untergehen könnte, aber viel über den neuen Geist der Nation verrät: Die Nationalparks. Ab 2026 wird der Besuch der amerikanischen Wildnis für ausländische Touristen drastisch teurer. Der Preis für den Jahrespass verdreifacht sich fast auf 250 Dollar, garniert mit zusätzlichen Zuschlägen für die bekanntesten Parks.

Doch es geht nicht nur um Geld. Unter dem Banner von America First wird auch die Geschichte gesäubert. Hinweisschilder zum Klimawandel oder zur Sklaverei verschwinden, weil sie als parteiische Ideologie gebrandmarkt werden. Stattdessen sollen neue Pässe mit Porträts von Donald Trump und patriotischen Motiven die Identität der Parks prägen. Die Natur mag dieselbe bleiben, doch der Zugang zu ihr wird zu einem Privileg für das eigene Volk, während die Geschichte dahinter einer ideologischen Glättung unterzogen wird. Es ist das passende Schlussbild für eine Woche, in der Amerika begann, sich nicht nur politisch, sondern auch physisch und historisch einzumauern.

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