Schattenkrieg in der Karibik: Wie die US-Regierung das Völkerrecht versenkt

Illustration: KI-generiert

Der Ozean ist längst kein neutraler Raum mehr, sondern ein juristisches Schlachtfeld, auf dem die Grenzen zwischen Polizeiarbeit und Kriegführung verschwimmen. Während im Pentagon geheime Memos zirkulieren, die Kokain zu einer chemischen Waffe umdeuten, sterben im Wasser Zivilisten durch präzise gesteuerte Raketen. Eine Analyse der schleichenden Demontage humanitärer Normen im Namen der nationalen Sicherheit.

Es ist der 2. September, ein Tag, an dem das azurblaue Wasser der Karibik seine Unschuld verliert. Auf den Bildschirmen im Operationszentrum der US-Streitkräfte flimmert ein Live-Feed, gestochen scharf und gnadenlos. Er zeigt das, was nach einem ersten Raketeneinschlag von einem mutmaßlichen Drogenschmugglerboot übrig geblieben ist: Trümmer, groß wie ein Esstisch, und zwei Männer, die sich verzweifelt an das Treibgut klammern. Sie sind unbewaffnet. Sie haben ihre Hemden ausgezogen. Einer winkt, den Blick gen Himmel gerichtet, dorthin, wo der Tod in Form einer Drohne kreist. In einer Welt, in der die Gesetze der Menschlichkeit gelten, wäre dies der Moment für eine Rettung. Doch in der neuen Logik des Pentagons ist es der Moment für den finalen Schlag. Admiral Frank Bradley, der kommandierende Offizier, gibt den Befehl. Eine zweite Rakete wird abgefeuert. Das Wasser schäumt auf, die Männer sind tot.

Dieser Vorfall, der erst Monate später durch Sickerstellen im Sicherheitsapparat an die Öffentlichkeit drang, ist weit mehr als ein militärischer Zwischenfall. Er ist das Symptom einer radikalen Neuausrichtung der amerikanischen Sicherheitsarchitektur unter der Trump-Administration – ein Paradigmenwechsel, der Drogenkriminalität nicht mehr als strafrechtliches Problem, sondern als existenzielle kriegerische Bedrohung definiert. Doch während die Regierung von einem bewaffneten Konflikt spricht, sehen Kritiker und Völkerrechtler etwas ganz anderes: die systematische Aushöhlung des Kriegsrechts und die Etablierung einer Lizenz zum Töten, die weit über das hinausgeht, was demokratische Rechtsstaaten bislang für vertretbar hielten.

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Die Alchemie des Rechts: Wenn Kriminelle zu Kombattanten werden

Das Fundament dieser tödlichen Kampagne ist ein juristisches Konstrukt, das in den fensterlosen Büros des Office of Legal Counsel im Justizministerium gezimmert wurde. Ein geheimes, über 40 Seiten starkes Memo liefert die Rechtfertigung, die den Soldaten an der Front den Rücken freihalten soll: Battlefield Immunity – Immunität auf dem Schlachtfeld. Um diese Immunität zu gewähren, mussten die Juristen der Regierung die Realität umschreiben. Sie erklärten die Drogenkartelle kurzerhand zu organisierten bewaffneten Gruppen und den Kampf gegen sie zu einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt.

Experten für internationales Recht laufen Sturm gegen diese Definition. Ein bewaffneter Konflikt setzt voraus, dass der Gegner eine militärähnliche Struktur besitzt und in anhaltende Kampfhandlungen verwickelt ist. Drogenkartelle mögen brutal sein, doch sie erfüllen diese Kriterien gegenüber den USA kaum. Um diese Hürde zu nehmen, greift die Administration zu einem rhetorischen Taschenspielertrick: Sie definiert die geschmuggelten Drogen um. In der Logik von Verteidigungsminister Pete Hegseth sind Betäubungsmittel gleichbedeutend mit chemischen Waffen. Wer Drogen transportiert, schmuggelt also keine Handelsware, sondern bringt Gift an die amerikanischen Küsten, um Zivilisten zu ermorden.

Diese Argumentation ist nicht nur juristisch waghalsig, sie steht auch auf tönernen Füßen, wenn man die Fakten betrachtet. Die Regierung rechtfertigt die Dringlichkeit ihrer Angriffe mit der Fentanyl-Krise, die jährlich zehntausende Amerikaner das Leben kostet. Doch die Boote, die in der Karibik und im Ostpazifik ins Visier genommen werden, transportieren fast ausschließlich Kokain – eine Droge, die zwar illegal, aber bei weitem nicht die tödliche Wirkung von Fentanyl entfaltet. Zudem gelangt Fentanyl primär über die Landgrenzen in die USA, nicht über den Seeweg. Indem die Regierung Kokain und Fentanyl in einen Topf wirft und beides zur Massenvernichtungswaffe erklärt, schafft sie eine künstliche Bedrohungskulisse, die den präventiven Einsatz tödlicher Gewalt legitimieren soll.

Der Tod der Schiffbrüchigen: Eine Frage der Definition

Die Ereignisse vom 2. September demonstrieren auf erschütternde Weise, was passiert, wenn diese abstrakten Rechtsbegriffe auf die operative Realität treffen. Als Admiral Bradley den Befehl zum Zweitschlag gab, stand er vor einer Entscheidung, die über Leben und Tod entschied: Waren die Männer im Wasser Schiffbrüchige im Sinne der Genfer Konventionen?

Das Völkerrecht ist hier eindeutig. Personen, die durch ein Unglück auf See in Gefahr geraten und keine feindlichen Handlungen mehr begehen, gelten als hors de combat – außerhalb des Kampfes. Sie dürfen nicht angegriffen werden, unabhängig davon, ob sie Uniformen tragen oder nicht. Admiral Bradley jedoch entschied anders. In den Anhörungen vor dem Kongress argumentierte er später, er habe nicht sicher sein können, ob unter den Trümmern noch Drogen versteckt waren oder ob die Männer über Funkgeräte verfügten, um Hilfe zu rufen. Er interpretierte ihr Winken nicht als Kapitulation.

Es ist eine Argumentation, die von einer tiefen Unsicherheit zeugt – und von einem Missionsdruck, der keine Überlebenden vorsieht. Verteidigungsminister Hegseth hatte vorab angeordnet, die Besatzung zu töten, das Boot zu versenken und die Drogen zu zerstören. Als der erste Schlag dieses Ziel verfehlte, wurde der zweite zur zwingenden Notwendigkeit, um die Mission zu erfüllen. Dass dabei grundlegende humanitäre Schutzrechte ignoriert wurden, erscheint als Kollateralschaden einer Politik, die den Gegner entmenschlicht und ihn pauschal als Narco-Terroristen labelt. Ex-Militärjuristen bezeichnen Bradleys Theorie, man könne jemanden töten, nur weil er möglicherweise ein Funkgerät besitzt oder auf Rettung hofft, als abwegig.

Die Widersprüche in der offiziellen Darstellung sind eklatant. Während das Militär intern argumentiert, der Zweitschlag habe der Zerstörung der Ladung gegolten, behauptete Präsident Trump öffentlich, die Männer hätten versucht, das gekenterte Boot wieder aufzurichten, um weiterzufahren. Angesichts der Tatsache, dass das Wrack kaum größer als ein Esstisch war, wirkt diese Erklärung wie der verzweifelte Versuch, eine Handlung zu rationalisieren, die rational kaum zu fassen ist.

Das juristische Vakuum: Flucht vor dem Habeas Corpus

Noch aufschlussreicher als die Angriffe selbst ist der Umgang der Regierung mit denen, die das Inferno überleben. Es herrscht eine bemerkenswerte Panik im Pentagon, sobald ein Überlebender aus dem Wasser gefischt wird. Der Grund dafür ist simpel: Die Regierung fürchtet ihre eigenen Gerichte.

Würden Überlebende in die USA oder nach Guantánamo gebracht, hätten Anwälte sofort die Möglichkeit, sogenannte Habeas Corpus-Klagen einzureichen. Ein Richter würde dann die Frage stellen, auf welcher Rechtsgrundlage die USA diese Menschen festhalten. Die Regierung müsste beweisen, dass tatsächlich ein bewaffneter Konflikt besteht – ein Nachweis, der vor einem unabhängigen Gericht kaum zu erbringen wäre, da der Kongress einen solchen Krieg nie autorisiert hat. Ein Urteil, das die Rechtmäßigkeit des Kriegs gegen die Kartelle verneint, würde das gesamte Kartenhaus der Administration zum Einsturz bringen.

Um dieses Szenario zu verhindern, entwickelte sich hinter den Kulissen ein bürokratisches Hütchenspiel. In internen Videokonferenzen wurde diskutiert, Überlebende in Drittstaaten abzuschieben, um sie dem Zugriff der US-Justiz zu entziehen. Ein besonders drastischer Vorschlag sah vor, die Männer in das berüchtigte salvadorianische Gefängnis CECOT zu verlegen – eine Hochsicherheitsanlage, die für ihre unmenschlichen Bedingungen und Foltervorwürfe bekannt ist. Dass Anwälte des Außenministeriums diesen Plan blockierten, ist ein schwacher Trost angesichts der Tatsache, dass er überhaupt ernsthaft erwogen wurde.

Stattdessen setzte man auf Repatriierung nach Kolumbien oder Ecuador, wohl wissend, dass die dortigen Strafverfolgungsbehörden oft überfordert sind. Im Fall des Angriffs vom 2. September gab es keine Überlebenden, die man hätte abschieben müssen – ein Umstand, der Fragen aufwirft, ob die Tötung nicht auch eine Lösung für das juristische Problem der Inhaftierung war. Die Inkonsistenz im Vorgehen – Tötung im September, Rettung und Abschiebung im Oktober – lässt auf ein operatives Chaos schließen, in dem politische Vorgaben und militärische Realitäten heftig kollidieren.

Der Aufstand der Legislative: Das Ringen um die Bilder

In Washington hat sich derweil ein Machtkampf entzündet, der die Grundfesten der Gewaltenteilung erschüttert. Der Kongress, sonst oft gespalten, zeigt sich in seltener Einigkeit empört über die Intransparenz des Pentagons. Das Instrument des Widerstands ist das Budget: Im aktuellen Verteidigungsgesetz (NDAA) drohen die Abgeordneten, 25 Prozent des Reisebudgets von Verteidigungsminister Hegseth einzufrieren, solange er das ungeschnittene Videomaterial der Angriffe und die zugrunde liegenden Befehle nicht herausgibt.

Dieser Schritt ist mehr als eine bürokratische Schikane; er ist ein Warnschuss. Dass das Repräsentantenhaus das Gesetz mit breiter Mehrheit verabschiedete, signalisiert eine parteiübergreifende Abkehr von der blinden Loyalität gegenüber der Exekutive. Demokraten wie Republikaner fühlen sich in ihrer Kontrollfunktion missachtet. Wenn Hegseth lapidar erklärt, man müsse die Veröffentlichung prüfen, und gleichzeitig behauptet, die Operationen seien vom Völkerrecht gedeckt, wirkt dies auf viele Parlamentarier wie Hohn. Die Weigerung, Beweise vorzulegen, nährt den Verdacht, dass die gefolterte juristische Logik einer externen Überprüfung nicht standhalten würde.

Sollte das Budget tatsächlich gekürzt werden, hätte dies gravierende Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Ministers, der auf Reisen angewiesen ist, um Allianzen zu pflegen und die Truppe zu führen. Doch es geht um Prinzipien: Hat der Präsident das Recht, im Alleingang Kriege zu erklären und neu zu definieren, gegen wen sie geführt werden? Die geplante Aufhebung der alten Kriegsvollmachten (AUMF) von 1991 und 2003 im selben Gesetzespaket unterstreicht den Willen des Kongresses, sich seine verfassungsmäßige Hoheit über Krieg und Frieden zurückzuholen.

Ein globaler Präzedenzfall der Gewalt

Die Implikationen dieser Kampagne reichen weit über die Gewässer der Karibik hinaus. Die Rhetorik der Regierung, die Drogenkartelle zur Al-Qaida unserer Hemisphäre erklärt, erinnert fatal an die Entgrenzung des Kriegsbegriffs nach dem 11. September 2001. Damals wurde der Krieg gegen den Terror ausgerufen, heute ist es der Krieg gegen eine kriminelle Ökonomie. Die Mechanismen sind dieselben: Die Ausweitung militärischer Gewalt auf nicht-staatliche Akteure, die Umgehung ordentlicher Gerichte und die Schaffung rechtsfreier Räume.

Gleichzeitig findet eine gefährliche Verschiebung der Prioritäten statt. Während Flugzeugträger und Kampfjets in der Karibik patrouillieren und Drohungen gegen Venezuela ausstoßen, depriorisiert das Justizministerium die strafrechtliche Verfolgung von Schmugglern auf niedriger Ebene. Der Rechtsstaat zieht sich zurück und überlässt das Feld dem Militär.

Die langfristigen Risiken sind immens. Wenn sich die Ansicht durchsetzt, dass der Verdacht auf Drogenhandel ausreicht, um Zivilisten summarisch hinzurichten, erodiert der Schutzstatus von Nicht-Kombattanten weltweit. Andere Nationen könnten diesem Beispiel folgen und ihre eigenen innenpolitischen Probleme militärisch lösen, indem sie Kriminelle zu Staatsfeinden erklären.

Was bleibt, ist das Bild der zwei Männer im Wasser. Ihr Winken war kein taktisches Manöver, sondern eine menschliche Geste der Hilflosigkeit. Dass sie mit einer Rakete beantwortet wurde, ist vielleicht das ehrlichste Eingeständnis einer Politik, die im Rausch der Härte vergessen hat, was sie eigentlich verteidigen wollte: nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Werte einer zivilisierten Nation. Der Schattenkrieg auf See ist nicht nur ein juristisches Problem – er ist eine moralische Bankrotterklärung.

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