
Es ist ein stiller, aber synchronisierter Angriff an allen Fronten. Während die Welt auf die physischen Bewegungen an der ukrainischen Front blickt, vollendet der russische Staat im Inneren die Versiegelung des Landes. Der Kreml ist dabei, Rußland in eine „Black Box“ zu verwandeln – einen Raum, in dem die Realität nicht mehr überprüfbar ist, weil die Daten verschwinden, und in dem abweichende Gedanken nicht mehr geäußert werden können, weil die Kanäle dafür gekappt werden.
Es ist ein Prozeß, der weit über die bekannte Zensur hinausgeht. Er umfaßt die Schaffung einer totalen digitalen Überwachungssphäre nach chinesischem Vorbild, die systematische Kriminalisierung jeder noch so vorsichtigen Kritik und die gezielte Verdunkelung der eigenen staatlichen Realität. Paradoxerweise geschieht dies in dem Moment, in dem die letzten unabhängigen Stimmen Rußlands im Exil finanziell ausbluten – ein Vakuum, das Moskau und Peking bereits nutzen, um ihre eigene Propaganda global neu aufzustellen.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Die digitale Festung: „Max“ als Blaupause der Kontrolle
Den Kern der neuen Kontrollarchitektur bildet ein digitales Werkzeug: die App „Max“. Entwickelt vom Kreml-nahen Tech-Konzern VK, ist sie weit mehr als ein weiterer Messenger. Sie ist die russische Antwort auf Chinas WeChat – eine „Super-App“, die das tägliche Leben vollständig durchdringen soll. Bürger sollen mit ihr nicht nur chatten und bezahlen, sondern auch mit Schulen kommunizieren und sich gegenüber Behörden identifizieren. Seit dem 1. September 2025 ist die Installation auf jedem neuen in Rußland verkauften Smartphone Pflicht. Die Vision ist die Schaffung einer „souveränen“ digitalen Sphäre.
Doch warum sollte dieser Versuch gelingen, wo frühere Anläufe wie „Rutube“ als YouTube-Ersatz kläglich an der mangelnden Akzeptanz der Nutzer scheiterten? Die Antwort liegt in der Kombination aus Zwang und Funktionalität. Im Gegensatz zu Rutube wird „Max“ nicht nur beworben, sondern regulatorisch durchgesetzt. Der Staat schränkt parallel die Nutzung westlicher Konkurrenten massiv ein. Sprachanrufe über WhatsApp – das in Rußland 96 Millionen monatliche Nutzer hat – und Telegram wurden im August 2025 stark limitiert. Die Begründung, man wolle kriminelle Aktivitäten unterbinden, ist ein durchschaubarer Vorwand. Das Ziel ist die Kanalisierung. Während Chinas WeChat organisch wuchs, wird „Max“ als staatliches Instrument implementiert, dessen Spezifikationen Berichten zufolge direkt vom Inlandsgeheimdienst FSB diktiert wurden. Die App soll dem Staat den Zugriff auf alles ermöglichen: Geolokalisierung, Kontakte, Fotos, Audio. Der plianten Kooperation von VK, dessen Gründer bereits 2014 aus dem Land gedrängt wurde, kann sich der Kreml sicher sein.
Doch dieser Totalansatz birgt immense Risiken. Indem der Staat essenzielle Funktionen – von der Identitätsprüfung bis zum Bankwesen – in einer einzigen App bündelt, schafft er einen gigantischen „Single Point of Failure“. Ein technischer Fehler, ein Serverausfall oder ein Cyberangriff könnte Teile des öffentlichen Lebens mit einem Schlag lahmlegen. Ein Preis, den der Kreml für die totale Überwachung offenbar zu zahlen bereit ist.
Das kulturelle Minenfeld: Zensur als „Artefakt der Ära“
Die digitale Versiegelung wird von einer kulturellen Säuberung flankiert. Die Repression trifft nicht mehr nur offensichtliche politische Gegner, sondern sickert tief in den Alltag, in Buchhandlungen und Verlage. Buchläden wie das „Podpisniye Izdaniya“ in St. Petersburg waren lange „sichere Anker“, Refugien der Ideen in einem zunehmend illiberalen Umfeld. Doch auch sie stehen nun im Visier. Im Mai 2025 wurde die Buchhandlung für den Verkauf von Büchern von Susan Sontag und Olivia Laing mit einer Geldstrafe belegt. Der Vorwurf: „Spuren von Propaganda nontraditioneller sexueller Beziehungen“. Diese Kriminalisierung von Inhalten, insbesondere zu LGBTQ-Themen, hat langfristige Folgen. Sie zerstört nicht nur die Funktion von Buchhandlungen als intellektuelle Freiräume, sondern stranguliert die russische Literatur- und Verlagsszene.
Verleger stehen vor einem Dilemma, das an die Sowjetzeit erinnert – und doch fundamental anders ist. Damals war die Zensur präliminär; die Regeln waren klar, wenn auch erdrückend. Heute, so beschreiben es Betroffene, agieren sie in einem Minenfeld. Die Gesetzgebung ist vage und wird willkürlich angewandt. Es herrscht eine „opake“ Zensur, die Verlage zu einer vorauseilenden Selbstzensur zwingt, weil sie nie wissen, was als nächstes verboten wird.
Einige Verlage haben eine subtile Form des Protests gewählt: die offene Schwärzung. Rußlands größter Verlag, Eksmo-AST, nutzt inzwischen KI, um Bücher zu scannen, und redigierte kürzlich ein Buch über den homosexuellen Regisseur Pier Paolo Pasolini massiv. Mehr als 15 Prozent des Textes wurden geschwärzt, die Seiten ähneln klassifizierten Geheimdokumenten. Der Verlag selbst bezeichnete dies als „ehrlichere Wahl“, als Absätze stillschweigend zu streichen. Es mache das Buch zu einem „Artefakt der Ära“. Es ist eine gespenstische Debatte: Ist diese sichtbare Zensur ein Akt des Widerstands, der den Lesern das Problem vor Augen führt? Oder ist sie, wie der Verlag selbst andeutet, bereits die Normalisierung der Zensur, ein museales Dokument des eigenen Verstummens?
Die Eliminierung des „Dazwischen“: Vom Politiker zum Teenager
Parallel zur kulturellen Zensur eskaliert der Kreml die direkte politische Repression. Das Neue daran: Es trifft nicht mehr nur prominente Regimegegner, sondern auch jene, die bisher als vorsichtige, systemische Kritiker galten.
Ein Exempel wird an der liberalen Partei Jabloko statuiert. Ihr Vizevorsitzender Lew Schlossberg, ein angesehener Regionalpolitiker, wurde zu 420 Stunden Zwangsarbeit verurteilt und steht wegen „wiederholter Diskreditierung“ der Armee unter Hausarrest. Ein weiterer Vize, Maxim Kruglow, sitzt seit Oktober 2025 in Untersuchungshaft. Sein Verbrechen: Er hatte im April 2022 UN-Angaben über getötete ukrainische Zivilisten veröffentlicht und eine internationale Untersuchung der Massaker von Butscha gefordert. Die strategische Bedeutung dieser Verfolgungen ist klar: Der Staat beansprucht die absolute Definitionsmacht über die Realität des Krieges. Das Teilen von UN-Daten wird zum Akt des Extremismus.
Doch warum diese Nervosität gegenüber einer Partei, die keine reale Machtbedrohung darstellt? Beobachter vermuten, daß der Kreml Lehren aus dem „Nadjeschdin-Phänomen“ Anfang 2024 gezogen hat. Die Zehntausenden, die damals für den Antikriegskandidaten Boris Nadjeschdin unterschrieben, paßten nicht ins offizielle Bild der totalen Geschlossenheit. Mit Blick auf die Scheinwahlen zur Duma 2026 soll nun offenbar jede Plattform für auch nur moderate Kritik präventiv zerstört werden.
Wie dünnhäutig das Regime geworden ist, zeigt die Verfolgung der jungen Sankt Petersburger Straßenband „Stoptime“. Die 18-jährige Sängerin Diana Loginowa und ihre Bandkollegen wurden zu Arreststrafen verurteilt, weil sie Lieder von Musikern spielten, die als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt sind. Der Journalist Dmitrij Kolesew kommentierte, die Diktatur zwinge „ernsthafte Leute in Uniform dazu, ganze Sonderoperationen gegen Teenager durchzuführen“.
Gegen die Musiker wird nun die Methode der „Karussellarreste“ angewandt – eine Kette aufeinanderfolgender Kurzinhaftstrafen, die Menschen zermürben und psychologisch brechen soll. Es ist eine Taktik, die die verbliebene Zivilgesellschaft in einen Zustand permanenter Angst versetzt und jede Solidarität im Keim erstickt.
Der Staat als „Black Box“: Das Verschwinden der Daten
Die vielleicht tiefgreifendste Form der Versiegelung ist die „proaktive Zensur“ von Daten. Rußland wird zur statistischen „Black Box“, was eine rationale Zukunftsplanung außerhalb der Kriegswirtschaft fast unmöglich macht. Die Statistikbehörde Rosstat veröffentlicht fundamentale demografische Kennzahlen nicht mehr: Bevölkerungszahlen, Geburten, Sterbefälle. Auch Daten zu Migration, Umweltverschmutzung, Ölförderung und Kriminalität sind verschwunden. Ein Drittel der Haushaltsausgaben wird geheim gehalten.
Besonders perfide ist die „reaktive Zensur“. Daten verschwinden oft erst dann, wenn sie von Journalisten genutzt werden, um dem Regime unangenehme Wahrheiten nachzuweisen. Als das Exil-Medium Mediazona die Statistik der Gefängnisinsassen nutzte, um die Massenrekrutierung von Häftlingen durch die Wagner-Gruppe zu belegen, verschwanden diese Daten.
Diese Verdunkelung dient nicht nur der Kriegsführung. Sie ist auch ein Akt der Selbstbedienung der Eliten. Duma-Abgeordnete müssen ihre Einkommen und Immobilienbesitz nicht länger offenlegen. Große Staatsunternehmen wie Gazprom-Neft publizieren keine Finanzdaten mehr. Während das Land im Krieg blutet, wird die Korruption der Elite unsichtbar gemacht.
Die zerrissene Nation: Zwischen Kriegswirtschaft und Apathie
Diese Repression trifft auf eine Gesellschaft, die tief gespalten ist und von einer absurden ökonomischen Realität geprägt wird. Die Journalistin Anastasiia Romanova faßt die Verzerrung der Kriegswirtschaft in einem bitteren Satz zusammen: „Der Tod ist in Rußland besser bezahlt, als das Leben“. Sicherheitskräfte, Söldner und Rüstungsarbeiter gehören zu den hochbezahlten Branchen.
Gleichzeitig warnt der Journalist Alexei Makartsev vor westlichen Hoffnungen auf einen Wandel von innen. Eine Revolution von unten werde nicht passieren, der Staat sei zu mächtig, die Opposition ohne Basis. Und selbst wenn es einen Wandel von oben gäbe, stünden im Schatten Putins Figuren bereit, „die genauso radikal sind, wie er“.
Welche realistischen Szenarien bleiben also? Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch bietet eine scharfsinnige Außenperspektive. Er beschreibt die paradoxe Situation der Ukrainer, die nun gezwungen sind, ihren eigenen, „imperfekten Staat, dieses Monster“, mit Händen und Blut zu stützen – eine Notwendigkeit, die aus einer tiefen „horizontalen Solidarität“ erwächst.
Andruchowytsch sieht die Wurzel des Krieges nicht in der NATO-Erweiterung, sondern in der fundamentalen Unfähigkeit Rußlands, den eigenen Kolonialismus aufzuarbeiten. Während westliche Imperien sich zumindest zu einer Entschuldigung durchrangen, sieht sich Rußland bis heute als Opfer des Sowjetzerfalls und betrachtet die Ukraine als „Mißverständnis“. Diese imperiale Grundhaltung, so Andruchowytsch, sei der Treibstoff des Krieges.
Das globale Vakuum: Das Sterben der Exilmedien
Während Rußland sich im Inneren verbarrikadiert, eröffnet sich auf globaler Ebene eine neue, gefährliche Front. Die letzten unabhängigen russischen Medien, die aus dem Exil berichten, kämpfen ums Überleben.
Katerina Abramova vom renommierten Portal Meduza, das seinen Sitz in Riga hat, berichtet, daß 2025 das „härteste Jahr“ der Geschichte war. Der Grund: Der wichtigste Geldgeber, die US-Entwicklungsagentur USAID, hat seine Förderung eingestellt. Der Wegfall dieser Mittel – USAID gab zuletzt rund 270 Millionen Dollar jährlich für Medienförderung aus – ist eine existenzielle Bedrohung für das gesamte Ökosystem der Exilmedien, auch der belarussischen.
In dieses Vakuum stoßen nun andere Akteure. Berichten zufolge springen ausgerechnet Rußland und China als alternative Geldgeber ein und versuchen, die Berichterstattung, insbesondere in Afrika, zu ihren Gunsten zu formen. Hier schließt sich der Kreis auf tragische Weise. Während der Westen zusieht, wie die letzten unabhängigen russischen Stimmen aus finanziellen Gründen verstummen, nutzt der Kreml die freiwerdenden Ressourcen, um sein eigenes Propagandanarrativ global zu exportieren. Die Versiegelung nach innen wird durch die Expansion der Desinformation nach außen ergänzt. Die „Black Box“ Rußland bleibt nicht nur verschlossen; sie beginnt, die Dunkelheit zu exportieren.


