Putins Spiel mit dem Feuer – und Trumps Zündeln am Pulverfass

Illustration: KI-generiert

Der Himmel über dem Baltikum ist zur Bühne eines Nervenkrieges verkommen. Russische Kampfjets, die bewusst den Luftraum der NATO verletzen, Drohnenschwärme, die tief nach Polen eindringen, und eine stete Flut an Desinformation – all das sind keine unglücklichen Zufälle, sondern die präzisen Nadelstiche einer kalkulierten Strategie. Wladimir Putin testet die Grenzen des westlichen Bündnisses, seine Reaktionszeit, seine Entschlossenheit und vor allem seine innere Zerrissenheit. Doch während der Kreml ein gefährliches, aber rationales Spiel mit dem Feuer betreibt, wird die Antwort des Westens von einem Akteur dominiert, dessen Unberechenbarkeit die größte Gefahr darstellt: Donald Trump. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat mit seinem plötzlichen Schwenk zu einer Rhetorik der maximalen Härte die strategische Gleichung fundamental verändert. Seine Drohungen, russische Flugzeuge abschießen zu lassen, sind jedoch weniger Ausdruck einer neuen, kohärenten Eindämmungspolitik als vielmehr das impulsive Manöver eines Mannes, der sich persönlich von Putin hintergangen fühlt. In dieser toxischen Melange aus kalkulierter russischer Aggression und amerikanischer Unberechenbarkeit liegt die eigentliche, existenzielle Bedrohung für die europäische Sicherheit. Es ist nicht mehr der geplante Angriff, den die NATO fürchten muss, sondern die fatale Fehlkalkulation in einem Konflikt, der längst nicht mehr nur mit militärischen Mitteln geführt wird.

Die Grammatik der Grauzone: Moskaus hybrider Feldzug

Um die aktuelle Eskalation zu verstehen, muss man die Doktrin entziffern, die hinter Russlands Handeln steht. Militärstrategen bezeichnen dieses Vorgehen treffend als „Grauzonen-Aggression“. Es sind Aktionen, die bewusst unterhalb der Schwelle eines offenen kriegerischen Aktes angesiedelt sind, aber dennoch klare militärische und politische Ziele verfolgen. Das Eindringen der drei MiG-31-Kampfjets in den estnischen Luftraum war kein Versehen eines Piloten, sondern eine sorgfältig inszenierte Machtdemonstration. Ihr Zweck ist es, Unsicherheit zu säen, die Allianz zu zwingen, kostspielige Abwehrmaßnahmen zu ergreifen und vor allem, ein Signal an die Bevölkerungen der NATO-Staaten zu senden: Eure Regierungen ziehen euch in einen Konflikt hinein, der nicht der eure ist.

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Moskaus Kalkül ist dabei ebenso zynisch wie vielschichtig. Erstens soll der Fokus der NATO von der Unterstützung der Ukraine auf die Verteidigung des eigenen Territoriums gelenkt werden. Jede Alarmrotte, die über der Ostsee aufsteigt, bindet Ressourcen, die Kiew fehlen. Zweitens zielt die Strategie auf die psychologische Zermürbung. Ein permanenter Zustand „zwischen Krieg und Frieden“, wie es eine Analystin treffend beschreibt, soll in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas eine Kriegsmüdigkeit erzeugen, die populistischen und pro-russischen Kräften in die Hände spielt. Parteien, die eine Verhandlungslösung mit Moskau fordern und die umfangreiche Hilfe für ukrainische Flüchtlinge infrage stellen, finden in diesem Klima der Verunsicherung fruchtbaren Boden. Die Erfolge dieser Strategie sind bereits sichtbar: In der Slowakei und Ungarn sind solche Kräfte an der Macht, in anderen Staaten gewinnen sie an Zuspruch.

Drittens geht es um die gezielte Spaltung des Bündnisses selbst. Die Provokationen treffen auf eine Allianz, deren Mitglieder die russische Bedrohung höchst unterschiedlich wahrnehmen. Während Polen, die baltischen Staaten und andere osteuropäische Partner, historisch geprägt durch die Erfahrung russischer Dominanz, eine harte und unmissverständliche Reaktion fordern, überwiegt bei den großen westlichen Hauptstädten – allen voran Washington, aber auch Berlin, Paris und London – die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation. Diese unterschiedliche Risikobereitschaft ist die Sollbruchstelle, an der der Kreml mit seinen Nadelstichen ansetzt. Die Hoffnung Moskaus ist, dass der Riss zwischen den Falken im Osten und den vermeintlich zögerlichen Tauben im Westen so tief wird, dass die viel beschworene Bündnissolidarität zur bloßen Floskel verkommt. Es ist ein hybrider Feldzug, der nicht nur auf Radarschirmen, sondern auch in den Parlamenten, den Medien und den Köpfen der Menschen stattfindet – und Fälle wie die Bestechung des britischen Politikers Nathan Gill, der für russische Interessen in Brüssel lobbyierte, zeigen, wie tief diese Einflussnahme reicht.

Der Faktor Trump: Ein unberechenbarer Hegemon

In dieses fragile strategische Umfeld platzt nun die erratische Politik des amerikanischen Präsidenten. Donald Trumps abrupter Wandel vom Putin-Versteher zum Hardliner, der den Abschuss russischer Jets fordert und der Ukraine die Rückeroberung ihres gesamten Territoriums in Aussicht stellt, hat die Verbündeten ebenso verblüfft wie den Kreml. Doch wer diesen Schwenk für eine nachhaltige Wende in der US-Politik hält, verkennt die Motive, die Trumps Handeln leiten. Es ist keine strategische Neuausrichtung, sondern eine zutiefst persönliche Reaktion. Trump fühlt sich von Putin getäuscht. Der pompöse Gipfel in Alaska, der den Anschein einer Einigung erwecken sollte, brachte keine Ergebnisse. Stattdessen eskalierte Russland die Angriffe in der Ukraine und die Provokationen gegen die NATO. Für einen Mann, dessen Politikverständnis auf persönlichen Deals und dem Bild des starken Mannes basiert, ist dies eine öffentliche Demütigung.

Seine aggressive Rhetorik ist daher primär eine Verhandlungstaktik, ein Versuch, den Druck auf Moskau zu erhöhen und sich selbst als unnachgiebigen Führer zu inszenieren. Ein hochrangiger Beamter des Weißen Hauses formulierte es unmissverständlich: Alles, was der Präsident tue, geschehe aus der Perspektive, wie man einen Deal machen könne. Diese Fixierung auf den Deal macht die amerikanische Politik jedoch gefährlich inkonsistent. Sie ist nicht an Prinzipien oder langfristigen Bündnisinteressen ausgerichtet, sondern an der Tagesform und dem Ego des Präsidenten. Für die europäischen Verbündeten ist diese Unberechenbarkeit eine Katastrophe. Abschreckung beruht auf Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit. Ein Gegner muss wissen, wo die roten Linien verlaufen und dass ihre Überschreitung verlässliche Konsequenzen hat. Trumps sprunghafte Politik, die heute den totalen Sieg der Ukraine verspricht und morgen Gebietsabtretungen ins Spiel bringen könnte, untergräbt genau diese Glaubwürdigkeit.

Schlimmer noch, Trump richtet seine Drohungen nicht nur gegen den Gegner, sondern auch gegen die eigenen Partner. Seine Forderung, dass die europäischen Staaten den Import russischen Öls und Gases vollständig einstellen müssten, um weiteren US-Sanktionen gegen Russland den Weg zu ebnen, ist ein direkter Angriff auf die Bündnissolidarität. Er zielt damit bewusst auf Länder wie die Türkei oder Ungarn, deren Staatschefs er eigentlich als Verbündete betrachtet. Diese Politik des „Teile und Herrsche“ innerhalb der NATO spielt direkt in die Hände Putins. Sie schwächt den Zusammenhalt und verwandelt die Allianz von einem Sicherheitsgaranten in einen Schauplatz interner Machtkämpfe. Russlands Kalkül, den Westen zu spalten, benötigt kaum noch aktive Desinformation, wenn der amerikanische Präsident diese Arbeit selbst erledigt.

Am Rande des Abgrunds: Die Logik der Eskalation

Die gefährlichste Konsequenz dieser Gemengelage ist das dramatisch gestiegene Risiko einer unbeabsichtigten militärischen Konfrontation. Die Abläufe bei der Abfangjagd von Luftraumverletzern folgen einer präzisen Eskalationsleiter. Westliche Piloten signalisieren dem Eindringling zunächst durch Manöver wie das Wackeln mit den Flügeln, dass er identifiziert wurde und den Anweisungen folgen soll. Die nächste Stufe kann das Zeigen der eigenen Bewaffnung sein, gefolgt vom Abwurf von Täuschkörpern oder sogar Warnschüssen. Die letzte und unwiderrufliche Stufe ist der Befehl zum Abschuss. Bislang haben Besonnenheit und eine klare Befehlskette auf NATO-Seite dafür gesorgt, dass diese letzte Schwelle nie überschritten wurde.

Doch die Rhetorik von Politikern wie Trump oder dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski, der Russland warnte, sich im Falle eines Abschusses nicht zu beschweren, senkt die Hemmschwelle und erhöht den politischen Druck auf die militärische Führung. Was passiert, wenn eine russische Maschine tatsächlich abgeschossen wird? Die Geschichte bietet hierfür beunruhigende Präzedenzfälle. Als die Türkei im November 2015 einen russischen Suchoi-Bomber abschoss, der ihren Luftraum verletzt hatte, führte dies zu einer schweren diplomatischen Krise, die die beiden Länder an den Rand eines direkten Konflikts brachte. Damals konnte die Lage durch diplomatische Kanäle und eine gewisse Restvernunft auf beiden Seiten deeskaliert werden. Ob dies in der heutigen, weitaus aufgeheizteren Atmosphäre und mit einem impulsiven US-Präsidenten an der Spitze der NATO ebenfalls gelänge, ist höchst fraglich.

Die Militärs im Bündnis sind sich dieser Gefahr bewusst. Sie argumentieren hinter verschlossenen Türen weitaus zurückhaltender als die politischen Scharfmacher. Sie weisen darauf hin, dass die russischen MiG-31 in Estland, ein für den Luftkampf und nicht für Bombenangriffe ausgelegter Flugzeugtyp, keine unmittelbare Gefahr darstellten. Ihr Rat lautet daher: kühlen Kopf bewahren, militärisch entschlossen, aber rhetorisch zurückhaltend reagieren und nicht in die von Moskau gestellte Falle einer Überreaktion tappen. Doch in einer Zeit, in der politische Entscheidungen zunehmend von medialer Inszenierung und dem Wunsch nach starken Bildern geprägt sind, droht diese professionelle militärische Besonnenheit ins Hintertreffen zu geraten. Eine fatale Fehlkalkulation eines Piloten, ein missverstandener Befehl oder eine politische Entscheidung unter Druck könnten eine Kettenreaktion auslösen, die niemand mehr kontrollieren kann.

Jenseits der Raketen: Der Kampf um Geld und Recht

Angesichts der militärischen Risiken suchen die Europäer verzweifelt nach alternativen Wegen, um den Druck auf Moskau zu erhöhen und die Ukraine zu unterstützen, ohne selbst Kriegspartei zu werden. Im Zentrum dieser Überlegungen steht ein kühner und juristisch hochkomplexer Plan: die Nutzung der nach der Invasion 2022 eingefrorenen russischen Zentralbankvermögen. Es handelt sich um Hunderte von Milliarden Dollar, die größtenteils in Belgien lagern. Die Idee, die von der EU-Kommission und nun auch von der deutschen Regierung vorangetrieben wird, sieht vor, diese Vermögen als Sicherheit für einen gigantischen, zinslosen Kredit an die Ukraine zu nutzen.

Dieser Vorschlag ist ein Versuch, ein politisches und rechtliches Dilemma zu lösen. Eine direkte Konfiszierung der russischen Gelder wird von vielen, insbesondere von Deutschland, aus Sorge vor einem gefährlichen Präzedenzfall und möglichen Vergeltungsmaßnahmen gegen westliches Eigentum im Ausland abgelehnt. Der Kreditmechanismus umgeht dieses Problem scheinbar elegant: Die Vermögen selbst würden nicht angetastet, sondern nur als Garantie dienen. Die Rückzahlung des Kredits, so die Theorie, soll eines Tages aus den russischen Reparationszahlungen an die Ukraine erfolgen.

Doch dieser Plan birgt erhebliche rechtliche und politische Hürden. Er beruht auf der optimistischen Annahme, dass Russland jemals bereit sein wird, für die von ihm verursachten Schäden zu zahlen – eine Annahme, für die es derzeit keinerlei Anhaltspunkte gibt. Sollte es zu keiner Reparationsvereinbarung kommen, stünden am Ende die europäischen Staaten in der Haftung oder müssten sich doch zur Konfiszierung der russischen Gelder durchringen. Der Plan schiebt die schwierigsten Entscheidungen also in die Zukunft. Dennoch signalisiert er dem Kreml eine neue Entschlossenheit der Europäer, kreative und langfristige Finanzierungsmechanismen für die Ukraine zu schaffen, gerade jetzt, wo die finanzielle Unterstützung aus den USA unter Trump versiegt ist. Es ist ein Versuch, Russland klarzumachen, dass es den Krieg nicht einfach aussitzen kann, weil dem Westen irgendwann das Geld ausgeht. Es ist ein entscheidender Baustein in einem Abnutzungskrieg, der längst auch auf der ökonomischen Ebene entschieden wird.

Letztlich offenbart sich in diesem Ringen um Strategien, Sanktionen und rote Linien die tiefgreifende Verunsicherung eines Westens, der sich einer doppelten Herausforderung gegenübersieht. Auf der einen Seite steht ein revanchistischer, autoritärer Staat, der mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts – Cyberangriffe, Desinformation, ökonomischer Druck und militärische Nadelstiche – die Ordnung des 20. Jahrhunderts herausfordert. Auf der anderen Seite steht eine Führungsmacht, die USA, deren sprunghafter und egozentrischer Präsident die Grundfesten der eigenen Allianz erodiert und deren Verlässlichkeit infrage stellt. Wladimir Putin hat dieses Machtvakuum und die inneren Widersprüche des Westens erkannt und nutzt sie meisterhaft aus. Seine Provokationen sind ein Stresstest für ein System, dessen größte Schwäche nicht in seiner militärischen Ausrüstung, sondern in seinem mangelnden politischen Willen und seiner strategischen Orientierungslosigkeit liegt. Der gefährliche Tanz am Abgrund wird weitergehen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und die Hoffnung, dass die Akteure die Nerven behalten, schwindet mit jedem Tag.

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