
Der Himmel über Peking ist an diesem Morgen von einer unnatürlichen Klarheit. Er ist das Ergebnis wochenlanger, drakonischer Maßnahmen: Fabriken wurden gedrosselt, der Verkehr umgeleitet, das Leben von Millionen Menschen in einen Zustand erzwungener Stille versetzt. Alles für diesen einen Moment. Unten, auf dem Boulevard des Ewigen Friedens, rollt die Zukunft Chinas vorbei, gegossen in den kalten Stahl von Hyperschallraketen, autonomen Drohnen und dem bedrohlichen Glanz neuer Interkontinentalraketen. Tausende Soldaten marschieren im perfekten Stechschritt, ihre Bewegungen so synchron, dass sie wie eine einzige, unaufhaltsame Maschine wirken. An der Spitze dieses präzise choreografierten Theaterstücks steht Xi Jinping, gekleidet in einen Mao-Anzug, sein Gesicht eine undurchdringliche Maske der Entschlossenheit.
Dies ist mehr als nur eine Parade zum 80. Jahrestag des Sieges über Japan. Es ist eine Botschaft. Eine an die Welt und insbesondere an die Vereinigten Staaten gerichtete Erklärung, dass die Zeit der Demütigung endgültig vorüber ist. Flankiert von Wladimir Putin und Kim Jong-un – einer sorgfältig kuratierten Versammlung von Führern, die Washingtons globale Ordnung infrage stellen – sendet Xi ein unmissverständliches Signal: China fürchtet keine Tyrannen mehr. Es ist bereit, seinen Platz als Supermacht nicht nur zu beanspruchen, sondern ihn notfalls auch zu erzwingen.

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Doch während die Welt den Atem anhält angesichts dieser erdrückenden Zurschaustellung von Macht, liegt ein unsichtbarer Schatten über der Szenerie. Es ist das Paradox von Pekings Stärke: Je lauter die Trommeln des Nationalismus schlagen und je glänzender die Waffen poliert werden, desto deutlicher werden die feinen Risse im Fundament des Systems sichtbar. Denn diese Parade ist nicht nur eine Demonstration von militärischer Potenz, sondern ebenso ein verzweifelter Versuch, eine innere Brüchigkeit zu überdecken – ein politisches Fieber, das im Inneren des Machtapparats grassiert und dessen Symptome Xi Jinping mit eiserner Hand zu unterdrücken versucht.
Die Inszenierung der Unbesiegbarkeit für ein verunsichertes Volk
Jede große Inszenierung braucht ein Publikum. Während die Kameras auf die Ehrentribüne schwenken, wo Putin und ein lächelnder Kim Jong-un Platz genommen haben, und während in den USA Präsident Donald Trump auf seiner Plattform Truth Social wütend in die Tasten hämmert und China der Geschichtsfälschung bezichtigt, ist das wichtigste Publikum an diesem Tag nicht im Ausland zu finden. Es sind die Hunderte von Millionen chinesischer Bürger, die diese Bilder auf ihren Bildschirmen verfolgen. Für sie ist diese Parade eine dringend benötigte Dosis nationalen Stolzes, ein Beruhigungsmittel in Zeiten wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit.
Die chinesische Wirtschaft, einst das unaufhaltsame Schwungrad globalen Wachstums, stottert seit Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit bereitet Sorgen, der Immobiliensektor steckt in einer tiefen Krise, und das unausgesprochene Versprechen der Kommunistischen Partei – Wohlstand im Tausch gegen politische Freiheit – verliert an Überzeugungskraft. In diesem Klima wendet sich Xi Jinping einer bewährten Strategie zu: dem Nationalismus. Die Parade dient als machtvolles Instrument, um die Bevölkerung hinter der Flagge und der Partei zu vereinen. Sie erzählt eine einfache, verführerische Geschichte: Die Partei hat China aus einem „Jahrhundert der Demütigung“ befreit und macht es nun wieder groß und unangreifbar.
Diese Erzählung wird durch eine gezielte Neudeutung der Geschichte zementiert. Pekings Propagandamaschine arbeitet seit Wochen daran, die Rolle der USA beim Sieg im Zweiten Weltkrieg herunterzuspielen und stattdessen die Beiträge Chinas und der Sowjetunion in den Vordergrund zu rücken. Die Botschaft ist klar: China und seine Verbündeten waren die wahren Helden im „Weltkrieg gegen den Faschismus“, und sie sind es auch heute, die sich gegen eine neue Form der „Hegemonie“ – die amerikanische – zur Wehr setzen. Es ist ein Narrativ, das die Opfer der Vergangenheit instrumentalisiert, um die Konfrontation der Gegenwart zu legitimieren.
Ein Riss in der Fassade: Die Geister der Säuberung
Doch was, wenn die glänzende Rüstung Risse hat, die für das bloße Auge unsichtbar sind? Während die neuesten Raketensysteme über den Tiananmen-Platz rollen, fehlt eine beunruhigende Anzahl der Männer, die für ihre Entwicklung und Beschaffung verantwortlich waren. In den letzten zwei Jahren sind mindestens zwei Dutzend hochrangige Militärs und Manager der Verteidigungsindustrie spurlos aus der Öffentlichkeit verschwunden oder wurden ihrer Ämter enthoben. Unter ihnen zwei Verteidigungsminister in Folge und sogar Vize-Vorsitzende der Zentralen Militärkommission – Männer, die Xi persönlich befördert hatte und die als seine loyalen Gefolgsleute galten.
Offiziell lautet die Begründung wie immer: Korruption. Und tatsächlich war die Volksbefreiungsarmee (PLA) bei Xis Machtantritt 2012 ein Sumpf aus Vetternwirtschaft und Bestechung, in dem Posten und Beförderungen gekauft wurden. Doch die aktuelle Säuberungswelle geht tiefer. Sie ist mehr als ein Kampf gegen finanzielle Verfehlungen; sie ist ein Ausdruck von Xis tiefem Misstrauen und seinem unbedingten Willen, die totale politische Kontrolle über die Streitkräfte zu erlangen. Er verlangt nicht nur Kompetenz, sondern vor allem „absolute Loyalität“. Xi will eine Armee, die nicht nur modern, sondern auch „rot“ ist – also ideologisch auf Parteilinie.
Hier offenbart sich ein gefährlicher Zielkonflikt. Einerseits investiert China Unsummen in den Aufbau einer technologisch führenden Streitmacht, die es mit den USA aufnehmen kann. Das Ziel, bis 2027 eine Invasion Taiwans durchführen zu können, ist eine offizielle Maxime. Andererseits enthauptet Xi durch seine permanenten Säuberungen eben jene Strukturen, die diese Modernisierung vorantreiben sollen. Ganze Abteilungen, wie die für Rüstungsentwicklung, und Schlüsselbereiche wie die Raketentruppen, die Chinas nukleare Abschreckung verwalten, sind von den Entlassungen betroffen. Es ist, als würde ein Architekt ein Hochhaus bauen, während er gleichzeitig die erfahrensten Ingenieure und Bauleiter feuert, weil er ihre uneingeschränkte persönliche Ergebenheit anzweifelt. Experten im Pentagon vermuten, dass diese Unruhe die militärischen Ziele für 2027 bereits beeinträchtigt haben könnte. Die Frage, die über allem schwebt: Kann eine Armee, deren Führung permanent in Angst vor der nächsten Säuberung leben muss, wirklich jene Initiative und Effizienz entwickeln, die für einen hochkomplexen Militärschlag wie die Invasion Taiwans nötig wäre?
Die Allianz der Autokraten und der Schatten des Protests
Die Gästeliste der Parade ist ebenso aufschlussreich wie die Waffen, die gezeigt werden. Die Anwesenheit von Putin und Kim Jong-un ist eine bewusste Inszenierung. Es ist der Versuch, eine alternative Weltordnung zu visualisieren, eine Koalition derer, die sich dem westlichen Druck widersetzen. Dass Kim Jong-un bei dieser Gelegenheit seine etwa 12-jährige Tochter Kim Ju-ae auf die internationale Bühne mitbringt, ist mehr als eine Randnotiz. Analysten sehen darin das bisher stärkste Signal, dass sie als seine Nachfolgerin aufgebaut wird – eine dynastische Geste, die die ideologische Nähe der autoritären Regime unterstreicht.
Während der Staat seine totale Kontrolle mit einem erstickenden Sicherheitsapparat demonstriert – Anwohner dürfen nicht kochen, um den Himmel rauchfrei zu halten, Haustiere werden eingesperrt, und die Straßen sind menschenleer –, zeigt ein bemerkenswerter Vorfall, dass der Widerstand im Verborgenen weiterlebt. In der 30-Millionen-Metropole Chongqing inszenierte ein Aktivist namens Qi Hong kurz vor der Parade einen ebenso mutigen wie kreativen Akt des Protests. Aus einem Hotelzimmer projizierte er per Fernsteuerung Slogans wie „Ohne die Kommunistische Partei gibt es ein neues China“ an die Fassade eines Hochhauses. Doch damit nicht genug: Er hatte im Hotelzimmer eine Kamera installiert, die aufzeichnete, wie die herbeieilende Polizei verdutzt den Projektor entdeckte. Die Videos, die er aus dem sicheren Ausland veröffentlichte, wurden zu einem viralen Hit und demütigten den sonst so lückenlosen Überwachungsstaat. Dieser einzelne Akt des zivilen Ungehorsams durchbricht die staatlich verordnete Einstimmigkeit und zeigt, dass selbst im China unter Xi Jinping der Wunsch nach Freiheit nicht erloschen ist.
Das Taiwan-Gambit: Ein Spiel mit dem Feuer
Letztendlich laufen alle Fäden in einem Punkt zusammen: Taiwan. Die Inseldemokratie, die Peking als abtrünnige Provinz betrachtet, ist der Fixpunkt von Xis „chinesischem Traum“ der „nationalen Wiedervereinigung“. Die gesamte militärische Aufrüstung, die nationalistische Rhetorik und die diplomatische Ausrichtung sind auf das Ziel ausgerichtet, die militärische Option zur Eroberung Taiwans glaubhaft zu machen – und die USA von einer Intervention abzuhalten.
Hier liegt die größte Gefahr. Die Parade in Peking war eine Demonstration des Selbstvertrauens, vielleicht sogar der Selbstüberschätzung. Xi Jinping hat die Volksbefreiungsarmee zu einer beeindruckenden Streitmacht geformt. Doch sein obsessiver Fokus auf politische Loyalität könnte ihre größte Schwäche sein. Ein möglicher Angriff auf Taiwan wäre eine der komplexesten Militäroperationen der Geschichte. Sie erfordert eine perfekt koordinierte, innovative und anpassungsfähige Armee. Genau die Eigenschaften, die in einem Klima der Angst und des Misstrauens verkümmern.
Die Welt blickt nun auf ein China, das nach außen hin stärker und selbstbewusster wirkt als je zuvor, im Inneren aber von den Dämonen der Paranoia und der Säuberung heimgesucht wird. Die ohrenbetäubende Stille nach dem letzten Kanonenschuss der Parade ist gefüllt mit drängenden Fragen. Vertraut Xi seinen Generälen wirklich? Glaubt er der perfekt inszenierten Stärke seiner eigenen Propaganda? Und am wichtigsten: Wie wird ein amerikanischer Präsident wie Donald Trump, bekannt für seine Unberechenbarkeit, auf einen chinesischen Führer reagieren, der möglicherweise im Begriff ist, das größte geopolitische Wagnis des 21. Jahrhunderts einzugehen? Die Performance auf dem Boulevard des Ewigen Friedens ist vorbei. Die Welt hält den Atem an und wartet auf den nächsten Akt.