Nach dem Rausch: Wie TikTok unsere Gehirne und Demokratien an ihre Grenzen bringt

Illustration: KI-generiert

Es ist der neue Puls unserer Zeit, ein digitaler Herzschlag, der im Takt von einer Sekunde auf die nächste springt. Ein endloser Strom aus Licht, Ton und Bewegung, der durch die Bildschirme von Millionen Menschen fliesst und eine neue Wirklichkeit formt. Die Rede ist nicht nur von TikTok, sondern von einem ganzen Kosmos an Social-Media-Plattformen, die unsere Art zu kommunizieren, uns zu informieren und zu wirtschaften grundlegend verändert haben. Doch hinter der schillernden Fassade aus viralen Tänzen, blitzschnellen Nachrichten-Updates und scheinbar grenzenlosen kommerziellen Möglichkeiten offenbart sich eine tiefgreifende Krise. Es ist eine Krise, die nicht nur traditionelle Medienhäuser ins Wanken bringt, sondern an den Grundfesten unserer kognitiven Fähigkeiten, unserer politischen Prozesse und des gesellschaftlichen Zusammenhalts rüttelt. Die unbequeme Wahrheit ist: Während wir uns im Rausch der ständigen Stimulation verlieren, könnten wir gerade dabei sein, die Fähigkeit zu verlieren, die komplexen Probleme unserer Zeit noch zu verstehen – und zu lösen. Dies ist die Geschichte einer Revolution, die ihre eigenen Kinder zu fressen droht.

Die neuen Herrscher der Aufmerksamkeit

Wer heute verstehen will, wo Macht und Einfluss im Mediengeschäft entstehen, blickt nicht mehr zwangsläufig auf die verglasten Türme grosser Sendeanstalten. Man blickt auf Persönlichkeiten wie Katie Feeney. Die 22-jährige Influencerin ist das Gesicht einer neuen Ära. Mit Millionen von Followern auf TikTok, Instagram und Snapchat hat sie sich zu einer Medienmacht entwickelt, um die selbst Giganten wie der Sportsender ESPN werben. Ihr Reiseprogramm, das sie vom Super Bowl über die Oscar-Verleihung bis zu den wichtigsten Rennen der NASCAR führt, wird von einem Who’s Who globaler Marken wie Google und Gatorade finanziert, die für ihre Präsenz und ihre Posts sechsstellige Summen investieren.

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Feeneys Aufstieg ist mehr als eine beeindruckende Erfolgsgeschichte; er ist ein Seismograf für eine fundamentale Machtverschiebung. Das alte Arrangement des Journalismus – Zugang zu Ereignissen im Austausch für Öffentlichkeit – wird neu verhandelt. An die Stelle von Redaktionen treten nun einzelne „Creator“, die ihren Partnern etwas viel Greifbareres bieten: einen direkten, ungefilterten und emotional aufgeladenen Kanal zu Millionen von jungen Fans. Sportligen wie die MLB stellen mittlerweile eigene „Direktoren für Influencer“ ein, weil sie erkannt haben, dass die nächste grosse Medienpersönlichkeit nicht aus dem klassischen Journalismus, sondern aus der Creator-Klasse hervorgehen wird.

Die Konsequenzen sind gewaltig. Die Währung in diesem neuen Ökosystem ist nicht mehr tief gehende Analyse oder kritische Distanz, sondern „Relatability“ – eine gefühlte Nähe und Authentizität. Feeney bedient dieses Bedürfnis meisterhaft. Ihre Inhalte sind bewusst „brand safe“, also harmlos und für Marken unbedenklich. Sie erzählt keine kontroversen Geschichten, sondern nimmt ihre Follower mit auf eine Reise, lässt sie über Outfits abstimmen und zeigt ihre persönliche Reaktion auf ein Treffen mit Tom Brady. Dieses Erfolgsrezept offenbart jedoch auch die widersprüchliche Natur der Plattform: Während nahbare, unpolitische Inhalte kommerziell triumphieren, entwickelt sich im Schatten dieser harmlosen Unterhaltung ein hochpolitisierter und oft irreführender Nachrichtenraum, in dem sogenannte „Newsfluencer“ in Minutenschnelle komplexe Ereignisse zusammenfassen und dabei die Grenzen zwischen Information und Meinung verwischen. Diese fragmentierte Medienwelt, in der eine harmlose Modewahl und ein Kriegsbericht nur einen Wisch voneinander entfernt sind, schafft ein zunehmend unübersichtliches und volatiles Informationsklima.

Wenn Denken zum Luxus wird: Der Preis der Ablenkung

Die vielleicht tiefgreifendste Folge dieser neuen Medienordnung spielt sich jedoch im Verborgenen ab – in unseren Köpfen. Die Autorin Mary Harrington beschreibt in einem scharfsinnigen Essay eine beunruhigende Entwicklung: Die permanente Flut an kurzer, visueller und hochgradig stimulierender Information, wie sie über Smartphones konsumiert wird, könnte die Fähigkeit zu konzentriertem, linearem und tiefem Denken systematisch untergraben. Sie vergleicht diese digitalen Inhalte mit Junk-Food: leicht verfügbar, süchtig machend und auf lange Sicht schädlich für die kognitive Gesundheit.

Diese These wird durch Beobachtungen aus dem Nachrichtenkonsum auf TikTok gestützt. Junge Nutzer schätzen die Plattform, weil sie Nachrichten in „einfacheren Worten“ präsentiert und bequem zugänglich macht. Was als Vorteil empfunden wird – die Reduktion von Komplexität –, ist aus kognitiver Sicht jedoch ein Alarmsignal. Es deutet auf die Entstehung einer „post-literaten“ Kultur hin, in der die mühsam erlernte Fähigkeit des Lesens langer, dichter Texte verkümmert. Die neurologischen Muster, die durch das ständige Springen von einem kurzen Video zum nächsten geformt werden, sind auf das Überfliegen und die schnelle Mustererkennung optimiert, nicht auf nuancierte Analyse und gedankliche Tiefe.

Hier entsteht eine neue, gefährliche Form der sozialen Ungleichheit. Während eine wohlhabende Elite die Ressourcen besitzt, sich und ihre Kinder vor dieser Reizüberflutung zu schützen – sei es durch den Besuch teurer Waldorfschulen, die den Technikgebrauch einschränken, oder durch „No-Phone“-Nannys –, ist der ärmere Teil der Gesellschaft dem digitalen „Junk-Food“ weitaus stärker ausgesetzt. Forschungsergebnisse deuten bereits darauf hin, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien signifikant mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen, was mit schlechteren Werten bei Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Sprachfähigkeiten korreliert.

Wenn das konzentrierte Denken tatsächlich zu einem Luxusgut wird, das nur noch einer kleinen, privilegierten Schicht zur Verfügung steht, sind die Risiken für die Demokratie immens. Eine Wählerschaft, die zunehmend von „Vibes“ statt von Fakten bewegt wird, die für komplexe Argumente unempfänglich und für Desinformation und Verschwörungstheorien anfällig ist, wird zu einem leichten Spielball für Demagogen und populistische Strömungen. Die Demokratie aber lebt von der Fähigkeit ihrer Bürger, informierte und rationale Entscheidungen zu treffen – eine Fähigkeit, die in der Ära der permanenten Ablenkung zu erodieren droht.

Der hilflose Griff nach der Notbremse: Politik im Blindflug

Angesichts der wachsenden Besorgnis über die Macht dieser Plattformen erscheint der Ruf nach staatlicher Regulierung unausweichlich. Doch die bisherigen Reaktionen der Politik wirken oft wie panische Reflexe in einem Spiel, dessen Regeln sie kaum verstanden hat. Die Debatte um ein Verbot von TikTok in den USA ist hierfür das beste Beispiel. Vordergründig geht es um nationale Sicherheit – die berechtigte Sorge, die chinesische Regierung könnte über TikToks Mutterkonzern ByteDance Zugriff auf die Daten von Millionen amerikanischer Nutzer erhalten oder den Algorithmus für Propagandazwecke missbrauchen.

Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass es bei diesen Massnahmen auch um politische Kontrolle geht. Der Versuch der Trump-Administration, über die Handelskommission FTC Druck auf Werbeagenturen auszuüben, damit diese rechte Plattformen wie X (ehemals Twitter) nicht boykottieren, offenbart eine andere, subtilere Strategie. Indem der Werbemarkt – die finanzielle Lebensader des Online-Medien-Ökosystems – politisch instrumentalisiert wird, versucht die Regierung, sich eine ihr wohlgesonnene Medienlandschaft zu schaffen. Beide Ansätze, das offene Verbot und der verdeckte ökonomische Druck, werfen gravierende verfassungsrechtliche Fragen bezüglich der Meinungs- und Pressefreiheit auf und zeigen den Versuch des Staates, das moderne Informationsökosystem zu kontrollieren.

Kritiker bezeichnen den isolierten Fokus auf TikTok treffend als „Whack-a-Mole“-Lösung – ein verzweifeltes Schlagen nach einem Problem, das an anderer Stelle sofort wieder auftaucht. Denn ein Verbot löst keines der grundlegenden, branchenweiten Probleme: die unersättliche Datensammelei, die auch US-Konzerne wie Meta betreiben; die süchtig machenden Designs, die auf maximale Nutzerbindung statt auf das Wohl der Nutzer ausgelegt sind; und die Tatsache, dass Nutzer nach einem Verbot einfach zu anderen, teils noch unsichereren Apps abwandern, wie die Flucht zu der chinesischen App RedNote zeigte. Diese Abwanderung ist nicht nur ein technischer Ausweichprozess, sondern auch ein Akt des Widerstands und des Misstrauens gegenüber einer als willkürlich empfundenen staatlichen Regulierung.

Kaltes Herz aus Silizium: Das neue Ethos der Tech-Giganten

Während die Politik noch nach Antworten sucht, vollzieht sich im Herzen der Tech-Industrie selbst ein beunruhigender Kulturwandel. Die einst gepriesene Wohlfühlatmosphäre in Silicon Valley, mit kostenlosem Sushi, Tischtennisplatten und dem idealistischen Versprechen, die Welt zu verändern, weicht einer neuen, eiskalten Effizienz. Die neue Maxime lautet: „Shut up and grind“ – halt den Mund und arbeite. Massenentlassungen, wie bei Meta, und ein radikaler Fokus auf harte, technische Fähigkeiten haben das Klima verändert.

Dieser Wandel ist mehr als nur eine ökonomische Anpassung. Er ist auch ideologisch. Initiativen für Diversität und Inklusion sowie ethische Bedenken werden zunehmend als Ballast empfunden. Stattdessen öffnet sich die Tech-Industrie, die einst den Einsatz von künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke ablehnte, nun für die Entwicklung digitaler Waffensysteme. Diese neue, nüchterne und leistungsorientierte Kultur könnte die bestehenden Probleme noch verschärfen. Ein Silicon Valley, das sich weniger um Ethik und die gesellschaftlichen Folgen seiner Produkte schert, wird kaum Anreize haben, weniger süchtig machende oder datensparsamere Plattformen zu entwickeln. Im Gegenteil: Der Druck, im gnadenlosen Wettbewerb, insbesondere im Bereich der KI, zu bestehen, könnte zu noch aggressiveren und manipulativeren Technologien führen.

Das gebrochene Versprechen: Vom Vertrauensverlust im digitalen Raum

Am Ende dieses komplexen Gefüges steht der einzelne Nutzer, dessen Vertrauen von allen Seiten auf eine harte Probe gestellt wird. Die temporäre Abschaltung von TikTok in den USA war für viele ein Schockmoment, der das fragile Verhältnis zwischen Nutzern, Plattformen und Regierungen brutal offenlegte. Als die App wieder online ging, war für viele „die Stimmung gekippt“. Es herrschten Paranoia, Misstrauen und die Sorge vor Zensur und politischer Einflussnahme, befeuert durch die Tatsache, dass die Wiederinbetriebnahme der App mit dem damaligen Präsidenten Trump in Verbindung gebracht wurde.

In diesem Klima der Verunsicherung wirken Versuche der Plattformen, die Verantwortung für die Inhalte an die Community zurückzugeben, wie ein Tropfen auf den heissen Stein. TikToks neues „Footnotes“-Feature, das es Nutzern erlaubt, Videos mit kontextbezogenen Anmerkungen zu versehen, ist prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung. Doch in einer Atmosphäre, in der Nutzer bereits auf die einfachste Form der Faktenprüfung – das Googeln einer zweifelhaften Information – nur widerwillig zurückgreifen und stattdessen der Anzahl der Likes in den Kommentaren vertrauen, stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit. Kann eine von Misstrauen zerfressene Community sich selbst heilen?

Die Realität ist, dass das Versprechen eines offenen, demokratischen und verbindenden digitalen Raums einem Gefühl der Zersplitterung und der Ohnmacht gewichen ist. Die Nutzer fühlen sich gefangen zwischen den kommerziellen Interessen der Konzerne, der Willkür politischer Akteure und der unaufhaltsamen Logik der Algorithmen. Die Flucht auf immer neue Plattformen ist dabei weniger ein Zeichen von Freiheit als vielmehr eine endlose Suche nach einem Ort, der sich noch authentisch anfühlt – ein Ort, der in der digitalisierten Welt vielleicht zur grössten Utopie von allen geworden ist. Wir haben eine neue Medienwelt erschaffen, die uns auf beispiellose Weise verbindet und informiert. Doch wir haben versäumt, die Regeln und Schutzmechanismen zu schaffen, die verhindern, dass diese Welt uns am Ende mehr nimmt, als sie uns gibt: unsere Fähigkeit, klar zu denken, einander zu vertrauen und eine gemeinsame Wirklichkeit zu gestalten.

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