
Es sind Zahlen, die sich jeder Vorstellung entziehen. 185 Meilen pro Stunde (295 km/h) – ein permanentes, ohrenbetäubendes Brüllen, das nicht nur Dächer abreißt, sondern ganze Existenzen pulverisiert. Ein Luftdruck so niedrig, dass die Meteorologen zweimal hinsehen mussten. Hurrikan Melissa, der am Dienstag als Sturm der Kategorie 5 auf Jamaika traf, war nicht einfach nur ein Sturm; er war ein atmosphärisches Raubtier, das in seiner Spitzenintensität selbst die Zerstörungskraft von Hurrikan Katrina übertraf.
Doch diese Katastrophe, die sich in der Karibik abspielt, ist weit mehr als eine meteorologische Ausnahmesituation. Melissa ist ein Brandbeschleuniger für Krisen, die längst unter der Oberfläche brodelten. Der Sturm legt nicht nur die physische Infrastruktur der Inseln bloß, sondern reißt auch die tiefen Gräben der sozialen und staatlichen Verwundbarkeit auf. Er offenbart mit brutaler Klarheit: Der Klimawandel trifft nicht alle gleich. Er trifft jene am härtesten, die am wenigsten gerüstet sind. Was wir in der Karibik beobachten, ist ein tragisches Schauspiel über Vorbereitung, Versagen und die bittere Realität, wer in der Klimakrise evakuiert wird – und wer zurückbleibt.

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Der Ozean als „latenter Treibstoff“: Wie der Klimawandel Melissa züchtete
Um die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß zu verstehen, muss man auf das Meer blicken. Was machte Melissa zu diesem Monster? Die Antwort liegt im Ozean, der als gigantischer Wärmespeicher fungierte. Meteorologen weisen darauf hin, dass die bis dahin ruhige Hurrikansaison 2025 einen fatalen Effekt hatte: Das Wasser war nicht nur an der Oberfläche rekordverdächtig warm, sondern auch Hunderte von Fuß tief.
Melissa stieß auf einen Ozean, der bis zum Rand mit „latentem Treibstoff“ gefüllt war. Als der Sturm sich nur langsam bewegte, wirbelte er nicht, wie üblich, kälteres Tiefenwasser auf, das ihn hätte schwächen können. Stattdessen saugte er noch wärmere Schichten an. Dieses Phänomen, die extrem schnelle Intensivierung – von einem Tropensturm zur Kategorie 4 in weniger als 24 Stunden – ist genau das, was Klimawissenschaftler seit Jahren als eine der gefährlichsten Konsequenzen der globalen Erwärmung beschreiben. Melissa ist der furchterregende Beweis, dass die wissenschaftlichen Modelle zur Zunahme der Sturm-Intensität keine fernen Prognosen mehr sind, sondern die Realität im Hier und Jetzt. Dieser Sturm ist ein Kind des Klimawandels.
Staatsräson gegen Zögern: Warum Kuba evakuierte und Jamaika verwundbar blieb
Nirgendwo wird die soziale Dimension dieser Katastrophe deutlicher als im direkten Vergleich der Reaktionen auf Jamaika und Kuba. Es ist ein Kontrast, der schärfer kaum sein könnte und unbequeme Fragen über die Natur von Vorsorge, Vertrauen und staatlicher Kapazität stellt. Kuba, das ebenfalls direkt im Pfad des Sturms lag, griff auf seine jahrzehntelange, bittere Erfahrung mit Hurrikanen zurück. Obwohl die Insel wirtschaftlich massiv unter Druck steht, setzte der Staatsapparat eine präventive Massenevakuierung von über 735.000 Menschen in Gang; Hunderttausende wurden aus den östlichen Provinzen in Notunterkünfte gebracht. Zur gleichen Zeit herrschte in Jamaika ein fast tragisches Zögern. Offizielle hatten davor gewarnt, dass bis zu 50.000 Menschen ihre Häuser verlassen müssten, doch am Dienstagmorgen waren gerade einmal 6.000 Menschen in den über 800 Notunterkünften des Landes angekommen. Die Gründe deuten auf eine fatale Mischung aus Misstrauen und Angst hin: Angst, das eigene Hab und Gut Plünderern zu überlassen, und die Sorge, in den Sheltern selbst unsicheren Bedingungen oder mangelnder Versorgung ausgesetzt zu sein. Es offenbarte sich eine tiefe Kluft zwischen staatlicher Warnung und der Lebensrealität vieler Menschen.
„Alles ist unter Wasser“: Der systemische Kollaps in Jamaika
Die Folgen dieses Zögerns, gepaart mit einer Infrastruktur, die einem solchen Sturm nichts entgegenzusetzen hatte, sind katastrophal. Binnen Stunden versank Jamaika im Chaos. Der Kommunikationsblackout – 77% der Insel waren ohne Strom, die Internetkonnektivität brach auf 30% ein – macht eine koordinierte Nothilfe fast unmöglich. Es ist eine digitale Dunkelheit, die die administrative Hilflosigkeit widerspiegelt; die Schadensabschätzung ist ein Blindflug. Die Berichte, die dennoch durchdringen, malen ein Bild des systemischen Kollapses. Die südwestliche Pfarrei St. Elizabeth wurde als „unter Wasser“ beschrieben. Die Zerstörung trifft nicht nur Häuser, sondern die Grundpfeiler der Zivilisation: Das Gesundheitssystem bricht zusammen. Mindestens vier Krankenhäuser wurden schwer beschädigt. Im Black River Hospital, das seinen Strom und sein Dach verlor, mussten 75 Patienten evakuiert werden. Dies ist nicht nur ein temporärer Rückschlag; es ist der Verlust der Fähigkeit, die Verletzten der Katastrophe zu versorgen.
Dieser Kollaps wirft die Frage auf, ob Lehren aus früheren Stürmen wie Dorian (2019) oder Beryl (2024) gezogen wurden. Berichte über Häuser, deren Dächer gerade erst repariert worden waren und nun erneut abgerissen wurden, oder über Resorts ohne grundlegende Sturmfensterläden deuten auf eine mangelnde bauliche Vorbereitung auf die „neue Normalität“ der Kategorie-5-Stürme hin. In dieser Dunkelheit ist der einzige technologische Lichtblick das Angebot von Starlink, kostenloses Satelliteninternet bereitzustellen – ein kleiner digitaler Anker, der aber vor allem die Abhängigkeit von zentralisierter, verwundbarer Infrastruktur unterstreicht.
Haitis Tragödie: Wenn der Sturm auf bereits leere Lager trifft
Während Jamaika mit dem Kollaps kämpft, erlebt Haiti eine Verschärfung seiner humanitären Dauertragödie. Obwohl der Sturm Haiti nicht direkt traf, reichten die Ausläufer, um eine bereits fragile Nation an den Abgrund zu stoßen. Die gemeldeten Todeszahlen, die zunächst auf 40 geschätzt und später auf 23 korrigiert wurden, sind notorisch unzuverlässig und werden wahrscheinlich steigen. Das wahre Drama liegt in der Zerstörung der Lebensgrundlagen: Der Sturm flutete Hunderte Häuser und vernichtete die Landwirtschaft in einem Land, das bereits am Rande einer Hungersnot stand. Melissa trifft hier auf eine internationale Hilfsstruktur, die bereits kapituliert hat. Aufgrund von Finanzierungskürzungen waren die Lager des Welternährungsprogramms (WFP) gefährlich leer. Statt der üblichen 3.000 Tonnen Lebensmittel waren im Süden Haitis nur 450 Tonnen verfügbar. Für Haiti bedeutet Melissa nicht nur unmittelbare Zerstörung, sondern die Beschleunigung einer Hungerkrise, für deren Bewältigung die Mittel fehlen.
Nach dem Sturm ist vor der Krise: Die ökonomische Zeitbombe
Wenn der Wind sich legt und das Wasser zurückgeht, beginnt für die Region der eigentliche Kampf: der ökonomische. Für Jamaika, dessen Wirtschaft zu einem Drittel vom Tourismus abhängt, ist Melissa eine ökonomische Zeitbombe. Die Bilder von verwüsteten Stränden, zerstörten Resorts und gestrandeten, verängstigten Touristen werden die Branche auf Monate, wenn nicht Jahre lähmen. Alle 25.000 internationalen Besucher sind zwar sicher, doch die Flughäfen sind geschlossen, Kreuzfahrtlinien leiten ihre Schiffe um. Diese Einnahmen sind verloren. Aber auch Kuba, das durch seine massive Evakuierung Menschenleben rettete, steht vor „substanziellen“ Schäden, die seine ohnehin angespannte Wirtschaftslage weiter verschärfen werden. Die Zerstörungskraft von Melissa, die in ihrer Intensität an Land mit dem Labor-Day-Hurrikan von 1935 und Dorian 2019 gleichzog, setzt einen neuen Maßstab. Die Frage, die sich nun stellt, ist nicht ob, sondern wie eine Region sich von einem solchen Schlag erholen soll. Für Orte wie St. Elizabeth in Jamaika, die als „komplette Katastrophe“ beschrieben werden, scheint eine Rückkehr zur Normalität angesichts der Prognose, dass Stürme wie Melissa häufiger werden, fast unmöglich. Während der Sturm seinen zerstörerischen Pfad in Richtung der Bahamas und Bermuda fortsetzt und sogar noch als Restfeuchte das Wetter an der US-Ostküste beeinflussen wird, bleibt in der Karibik eine Spur der Verwüstung zurück. Es ist die Narbe einer neuen Realität, in der Stürme nicht nur das Wetter, sondern auch die soziale Landkarte neu zeichnen – eine Realität, auf die wir offensichtlich nicht vorbereitet sind.


