
Das US-Gesundheitssystem ist ein Monument des Scheiterns: Es ist das teuerste der Welt, liefert aber erschreckend schlechte Ergebnisse. Nun treiben die Republikaner unter Donald Trump eine „Reform“ voran, die alles noch schlimmer machen könnte. Vordergründig geht es um Effizienz, doch die Analyse der Pläne offenbart eine perfide Strategie: Durch eine Wand aus Bürokratie und ideologisch aufgeladene Arbeitspflichten soll Millionen von Menschen der Zugang zur Gesundheitsversorgung entzogen werden. Es ist ein Angriff auf die Ärmsten, der nicht nur den Sozialstaat in seinen Grundfesten erschüttert, sondern auch die Republikanische Partei selbst zerreißt.
Das amerikanische Gesundheitsparadox ist seit Jahrzehnten bekannt und durch zahllose Daten belegt. Kein anderes Land investiert einen so großen Teil seiner Wirtschaftsleistung in die Gesundheit seiner Bürger – im Jahr 2021 waren es über 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dennoch ist die Lebenserwartung im internationalen Vergleich beschämend niedrig und lag mit 76,4 Jahren auf dem Niveau von Mexiko oder Kolumbien – Länder mit einem Bruchteil der amerikanischen Gesundheitsausgaben. Die Rate vermeidbarer Todesfälle ist mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland oder der Schweiz. Dieses systemische Versagen bildet den Nährboden für eine politische Auseinandersetzung, die an die Substanz des amerikanischen Gesellschaftsvertrags geht. Im Zentrum steht ein von den Republikanern vorangetriebener Gesetzesentwurf, der unter dem Namen „One Big Beautiful Bill“ firmiert und eine radikale Abkehr von den bisherigen Strukturen vorsieht. Das Ziel: massive Einsparungen bei Medicaid, dem Versicherungsprogramm für Menschen mit geringem Einkommen, und dem Affordable Care Act (ACA), besser bekannt als Obamacare. Das zentrale Instrument dafür ist eine Waffe, die ebenso leise wie tödlich ist: die Bürokratie.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Die bequeme Ausrede: Warum nicht nur das System krank ist
Die Verteidiger des Status quo verweisen oft auf Ursachen, die außerhalb des eigentlichen Gesundheitssystems liegen, um dessen schlechte Bilanz zu relativieren. Tatsächlich ist die hohe Sterblichkeit in den USA auch das Ergebnis tiefer gesellschaftlicher Krisen. Eine davon sind die „deaths of despair“, Todesfälle aus Verzweiflung, die Ökonomen wie Anne Case und Angus Deaton mit der Verarmung und Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten in Verbindung bringen. Dazu gehört die verheerende Fentanyl-Epidemie, die jährlich Zehntausende das Leben kostet. Ein weiterer Faktor ist die allgegenwärtige Waffengewalt, die jedes Jahr fast 50.000 Menschen durch Suizide, Morde und Unfälle aus dem Leben reißt. Und schließlich tragen auch ein ungesunder Lebenswandel mit verbreitetem Übergewicht und Bewegungsmangel sowie eine hohe Zahl an tödlichen Verkehrsunfällen zur düsteren Statistik bei.
Diese Faktoren sind real und gravierend. In der politischen Debatte dienen sie jedoch oft als bequeme Ausrede. Sie verschieben den Fokus von den offensichtlichen Mängeln eines dysfunktionalen Gesundheitssystems hin zur individuellen Verantwortung oder zu allgemeinen gesellschaftlichen Problemen. Damit wird suggeriert, dass eine bessere medizinische Versorgung ohnehin nur begrenzte Wirkung hätte. Diese Argumentation ignoriert jedoch, dass ein funktionierendes System gerade in solchen Krisen als Sicherheitsnetz dienen müsste – etwa durch bessere Suchtbehandlung, psychiatrische Versorgung oder präventive Maßnahmen. Die Debatte um diese „vorgelagerten“ Ursachen vernebelt so den Blick auf die strukturelle Krankheit des Systems selbst.
Intransparent, teuer, ungerecht: Die strukturelle Krankheit des US-Systems
Abseits der politischen Grabenkämpfe krankt das US-System an fundamentalen Konstruktionsfehlern, die es ineffizient und unendlich teuer machen. An erster Stelle stehen die exorbitant hohen Preise für medizinische Leistungen und Medikamente, die weit über denen anderer Industrienationen liegen. Gepaart ist dies mit einer extremen Intransparenz; für Patienten ist es fast unmöglich, die Kosten einer Behandlung im Voraus zu erfahren. Krankenhäuser wehren sich erfolgreich dagegen, ihre Tariflisten offenzulegen, was einen echten Wettbewerb verhindert.
Dieses Chaos wird durch ein „byzantinisches Konstrukt“ aus privaten Versicherungen, staatlichen Programmen und direkten Zuzahlungen weiter befeuert, das enorme Verwaltungskosten verursacht. Das System schafft zudem perverse Anreize: Es belohnt teure Behandlungen statt erfolgreicher Prävention. Anbieter, von Pharmaunternehmen bis zu Spezialisten, haben ein Interesse daran, sich auf Kosten der Öffentlichkeit zu bereichern. Ein Beispiel sind spezielle Wundverbände, deren Kosten für das staatliche Medicare-Programm innerhalb weniger Jahre auf über 10 Milliarden Dollar explodierten, weil Anbieter eine Regelung ausnutzten, die ihnen für neue Produkte praktisch jeden gewünschten Preis garantiert. Diese tief sitzenden strukturellen Fehler machen das System nicht nur teuer, sondern auch anfällig für jene Art von politischer Demontage, die nun droht.
„Tod durch Papierkram“: Die Arbeitspflicht als Waffe gegen die Armen
Die republikanische Strategie zur Aushöhlung von Obamacare und Medicaid ist subtil und wurde von Kritikern als „repeal by paper cut“ beschrieben – eine Abschaffung durch tausende bürokratische Nadelstiche. Anstatt die Programme per Gesetz komplett zu streichen, was politisch unpopulär wäre, werden die Zugangsbedingungen so erschwert, dass Millionen Menschen aufgeben oder aus dem System fallen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Verkürzung der Einschreibefristen, die Abschaffung automatischer Vertragsverlängerungen und die Forderung nach mehr Dokumenten beim Antrag.
Das Herzstück dieser Strategie sind jedoch die geplanten Arbeitspflichten für Medicaid-Empfänger. Künftig sollen arbeitsfähige Erwachsene nachweisen, dass sie mindestens 80 Stunden pro Monat arbeiten, eine Ausbildung machen oder sich ehrenamtlich engagieren, um ihren Versicherungsschutz zu behalten. Was als Maßnahme zur Förderung von Eigenverantwortung verkauft wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein Instrument zur massenhaften Exklusion.
Die verheerenden Folgen einer solchen Politik sind nicht nur Theorie, sondern wurden bereits in der Praxis erprobt. Ein Pilotprojekt im Bundesstaat Arkansas im Jahr 2018 dient als düstere Fallstudie. Innerhalb von nur fünf Monaten verloren über 18.000 Menschen ihre Krankenversicherung, bevor Gerichte das Programm stoppten. Der Grund war nicht, dass die Menschen nicht arbeiten wollten – 92 Prozent der Betroffenen waren ohnehin bereits erwerbstätig, in der Schule, pflegten Angehörige oder waren behindert. Sie scheiterten an der bürokratischen Umsetzung: an einem fehleranfälligen Online-Meldesystem, das nachts abgeschaltet wurde, an unklaren Anforderungen und dem Unvermögen, schwankende Arbeitszeiten im Niedriglohnsektor korrekt zu dokumentieren. Der Aufwand zur Verwaltung des Programms war zudem immens und kostete den Staat Millionen. Die Folge war Chaos: Menschen verloren ihre Medikamente und Jobs, Krankenhäuser saßen auf unbezahlten Rechnungen und das erklärte Ziel, die Beschäftigung zu erhöhen, wurde nachweislich nicht erreicht.
Zerrissen zwischen Ideologie und Wählerwillen: Die republikanische Zerreißprobe
Diese Politik ist Ausdruck eines tiefen ideologischen Konflikts in den USA über die Rolle des Staates. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung und der politischen Rechten hegt einen tiefen Unwillen, jenen mit Staatsgeldern zu helfen, die als „selbst schuld“ an ihrer Armut gelten. Die Kritik an den als „sozialistisch“ bezeichneten europäischen Gesundheitssystemen wurzelt in der Befürchtung, eine „Gratisversorgung“ könne arbeitsfähige Menschen dazu verleiten, sich „in die Hängematte zu legen“. Die Einführung von Arbeitspflichten ist die logische Konsequenz dieser Weltsicht. Sie dient als moralischer Filter, um die „Würdigen“ von den „Unwürdigen“ zu trennen.
Doch diese harte ideologische Linie stößt zunehmend an ihre politischen Grenzen und treibt einen tiefen Keil in die Republikanische Partei. Es haben sich mindestens drei konkurrierende Fraktionen gebildet. Da sind zum einen die fiskalpolitischen Hardliner wie Senator Rand Paul, denen die vorgeschlagenen Kürzungen nicht weit genug gehen. Sie kritisieren, dass der Gesetzesentwurf das Haushaltsdefizit um Billionen erhöhen würde, da die Einsparungen die massiven geplanten Steuererleichterungen nicht annähernd finanzieren.
Auf der anderen Seite stehen Senatoren wie Josh Hawley, Susan Collins und Lisa Murkowski aus ländlich geprägten Bundesstaaten. Sie fürchten die direkten Auswirkungen der Medicaid-Kürzungen auf ihre Wähler und die lokale Infrastruktur. In vielen ländlichen Gebieten sind Krankenhäuser und Pflegeheime die größten Arbeitgeber und existenziell von Medicaid-Zahlungen abhängig. Ein Drittel der ländlichen Bevölkerung ist auf das Programm angewiesen, und selbst unter republikanischen Wählern auf dem Land ist die Sorge vor den Kürzungen groß.
Dieser interne Konflikt wird durch den eklatanten Widerspruch zwischen politischer Rhetorik und der von Experten prognostizierten Realität befeuert. Während republikanische Politiker wie Russell Vought oder Joni Ernst öffentlich behaupten, niemand werde durch das Gesetz seine Versicherung verlieren, zeichnen die Analysen des überparteilichen Congressional Budget Office (CBO) ein anderes Bild. Sie schätzen, dass allein durch die Änderungen bei Medicaid und Obamacare in den nächsten zehn Jahren zwischen 8 und 11 Millionen Menschen zusätzlich unversichert sein werden. Ökonomen, die den Zusammenhang zwischen Versicherungsschutz und Sterblichkeit untersucht haben, gehen noch weiter. Sie kalkulieren, dass diese Reform zu über 100.000 zusätzlichen vermeidbaren Todesfällen im nächsten Jahrzehnt führen könnte. Senatorin Ernsts zynische Antwort auf die Sorge eines Wählers, Menschen würden sterben – „Well, we are all going to die“ – wurde zum Symbol für eine Politik, die den menschlichen Preis ihrer Entscheidungen bewusst in Kauf zu nehmen scheint.
Die Gesundheitsreform ist dabei kein isoliertes Projekt. Sie ist der zentrale Hebel eines umfassenderen Versuchs, die Errungenschaften der vergangenen demokratischen Regierungen rückgängig zu machen und die USA nach einem streng konservativen Weltbild umzubauen. Der Gesetzesentwurf ist ein „Megabill“, das neben den Medicaid-Kürzungen auch massive Steuererleichterungen für Wohlhabende, eine drastische Verschärfung der Einwanderungsgesetze, eine Schwächung der richterlichen Gewalt und die Rücknahme von Umwelt- und Klimaschutzgesetzen enthält. Die Einsparungen im Gesundheitssektor dienen somit auch der Finanzierung einer Agenda, die weit über das Thema Gesundheit hinausgeht.
Am Ende ist es die schiere Komplexität und Undurchsichtigkeit des Systems, die eine solche Politik erst ermöglicht. Sie erlaubt es Interessengruppen, im Verborgenen zu agieren, und macht es für die Öffentlichkeit fast unmöglich, die wahren Konsequenzen der vorgeschlagenen Änderungen zu durchschauen. Der Kampf, der hier geführt wird, ist kein Ringen um ein effizienteres, besseres oder gerechteres Gesundheitssystem. Es ist ein ideologischer Feldzug gegen die Idee eines sozialen Sicherheitsnetzes, geführt mit den Mitteln der Bürokratie und Desinformation. Die Kollateralschäden dieser Politik werden, wie die Quellen unmissverständlich zeigen, nicht in Dollar, sondern in verlorenen Existenzen und Menschenleben bemessen.