
In den marmornen Hallen der Federal Reserve in Washington, D.C., herrscht eine Stille, die trügt. Es ist die gespannte Ruhe vor einem Sturm, die Konzentration eines Chirurgen, der am offenen Herzen einer Supermacht operiert, während ihm der Patient ins Handwerk zu pfuschen versucht. Jerome Powell, der Vorsitzende der mächtigsten Zentralbank der Welt, gleicht in diesen Tagen einem Kapitän, der sein Schiff durch eine tückische Meerenge steuern muss. Auf der einen Seite türmen sich die Klippen einer überhitzten Inflation, die die Kaufkraft der Bürger zerfrisst. Auf der anderen droht der Abgrund einer Rezession, eingeläutet von einem Arbeitsmarkt, der erste, beunruhigende Risse zeigt.
Doch dies ist kein gewöhnlicher Sturm. Denn vom Weißen Haus her weht ein politischer Orkan, der die Instrumente des Kapitäns zu zerreißen und den Kurs des Schiffes gewaltsam zu ändern droht. Präsident Donald Trump, in seiner zweiten Amtszeit, hat die Unabhängigkeit der Federal Reserve zur persönlichen Kampfzone erklärt. Seine Forderung ist laut, unmissverständlich und wird täglich über die sozialen Medien in die Welt getragen: Die Zinsen müssen fallen, drastisch und sofort, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Damit zwingt er die Fed in eine fast unlösbare Zerreißprobe. Sie steht vor einer Entscheidung, bei der es keinen einfachen, richtigen Weg mehr zu geben scheint. Jeder Schritt nach vorn könnte ein Schritt in den Abgrund sein. Die Ökonomen bemühen für dieses Schreckensszenario ein fast vergessen geglaubtes Wort aus den Lehrbüchern der 1970er-Jahre: Stagflation. Die giftige Mischung aus stagnierender Wirtschaft und galoppierenden Preisen.

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Die anstehende Sitzung der Notenbank ist daher mehr als nur eine technische Anpassung des Leitzinses. Es ist ein Moment der Wahrheit für die amerikanische Wirtschaft und für die Integrität ihrer wichtigsten Institution. Es geht um die Frage, ob die Geldpolitik auf Basis von Daten und kühler Analyse gemacht wird oder ob sie zum Spielball politischer Interessen verkommt. Die Entscheidung, die in den nächsten Tagen fällt, wird nicht nur über Wohl und Wehe von Millionen von Arbeitsplätzen und Ersparnissen bestimmen, sondern auch über die Glaubwürdigkeit der letzten Bastion ökonomischer Vernunft in einem politisch zutiefst polarisierten Land.
Das zweiköpfige Monster: Inflation und Arbeitslosigkeit
Um die Dramatik der Lage zu verstehen, muss man sich die beiden widersprüchlichen Kräfte vergegenwärtigen, die an der US-Wirtschaft zerren. Auf der einen Seite ist da das Feuer der Inflation. Die Verbraucherpreise sind im August im Jahresvergleich um 2,9 Prozent gestiegen – eine Beschleunigung gegenüber dem Vormonat und der höchste Wert seit Jahresbeginn. Für die amerikanischen Familien ist dies keine abstrakte Zahl, sondern brutale Alltagsrealität. Die Kosten für Lebensmittel stiegen empfindlich, Benzin an der Zapfsäule wurde teurer, und die Preise für Flugtickets explodierten förmlich mit einem Anstieg von 5,9 Prozent allein im August. Besonders schmerzhaft sind die Wohnkosten, die als größter Treiber der monatlichen Teuerung gelten. Eine separate Erhebung des Census Bureau zeichnet ein düsteres Bild von einem Wohnungsmarkt, der für viele unerschwinglich wird, mit den höchsten Hypothekenzahlungen seit Jahrzehnten für Neukäufer.
Ein signifikanter Teil dieses Preisdrucks ist hausgemacht. Die von Präsident Trump verhängten Zölle wirken wie eine landesweite Verbrauchssteuer, die sich langsam aber sicher durch die Lieferketten frisst. Importierte Waren, von Möbeln über Kleidung bis hin zu Autos, werden teurer. So stiegen die Preise für Gebrauchtwagen im August um 1 Prozent, und selbst Neuwagen wurden nach Monaten der Stagnation wieder teurer. Es ist die bittere Ironie dieser Politik, dass die Regierung mit der einen Hand die Inflation durch Zölle anheizt, während sie mit der anderen die Notenbank zwingen will, ebenjene Inflation durch Zinssenkungen zu ignorieren.
Auf der anderen Seite steht das Eis eines abkühlenden Arbeitsmarktes. Jahrelang war er das robuste Rückgrat der US-Wirtschaft, doch nun zeigen sich Ermüdungserscheinungen. Die Zahl der Neuanträge auf Arbeitslosenhilfe schnellte vergangene Woche unerwartet auf 263.000 in die Höhe – der höchste Stand seit Oktober 2021. Dies ist mehr als nur ein statistischer Ausreißer; es ist ein Alarmsignal, das darauf hindeutet, dass die Entlassungen zunehmen könnten. Auch das Jobwachstum hat sich über den Sommer merklich verlangsamt, und jüngste Korrekturen der Regierungsdaten zeigten, dass in den Vormonaten fast eine Million weniger Jobs geschaffen wurden als ursprünglich berichtet.
Fed-Chef Powell selbst beschrieb die Situation am Arbeitsmarkt als eine „merkwürdige Balance“. Die Nachfrage nach Arbeitskräften seitens der Unternehmen lässt nach, während gleichzeitig das Angebot an verfügbaren Arbeitern durch die restriktive Einwanderungspolitik der Trump-Administration künstlich verknappt wird. Diese fragile Konstellation macht den Arbeitsmarkt besonders anfällig für einen schnellen Abschwung. Powell warnte, dass die Risiken für die Beschäftigung zunehmen und sich, sollten sie eintreten, schnell in Form von stark steigenden Entlassungen und höherer Arbeitslosigkeit manifestieren könnten.
Die Fed steht somit vor einem klassischen Zielkonflikt in seiner extremsten Form. Normalerweise bekämpft eine Zentralbank Inflation mit höheren Zinsen, um die Wirtschaft zu dämpfen, und eine drohende Rezession mit niedrigeren Zinsen, um sie zu stimulieren. Doch was, wenn beide Gefahren gleichzeitig auftreten? Eine Zinssenkung könnte dem Arbeitsmarkt kurzfristig helfen, würde aber Öl ins Feuer der Inflation gießen. Ein Festhalten an hohen Zinsen könnte die Inflation zwar bändigen, aber den Arbeitsmarkt endgültig in die Knie zwingen. Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera, bei der jede Entscheidung unweigerlich schmerzhafte Nebenwirkungen haben wird.
Der lange Schatten des Weißen Hauses: Ein Kampf um die Unabhängigkeit
Dieser ökonomische Drahtseilakt findet nicht im politischen Vakuum statt. Er wird zur öffentlichen Arena eines beispiellosen Machtkampfes, den Präsident Trump gegen die Institution der Federal Reserve und ihren Vorsitzenden führt. Trump hat Jerome Powell, den er einst selbst ernannt hat, wiederholt als „totale Katastrophe“ bezeichnet, der „keine Ahnung“ habe. Seine Twitter-Tiraden sind zur täglichen Begleitmusik der Finanzmärkte geworden, eine konstante und laute Forderung nach einer aggressiven Lockerung der Geldpolitik, die weit über das hinausgeht, was die meisten Ökonomen für vertretbar halten.
Doch es bleibt nicht bei verbalen Attacken. Der Präsident versucht aktiv, die personelle Zusammensetzung des Fed-Gouverneursrats nach seinem Willen zu formen und so die interne Opposition gegen seinen Kurs zu brechen. Der Versuch, die kritische Gouverneurin Lisa Cook wegen angeblichen Hypothekenbetrugs aus dem Amt zu drängen, wurde zwar vorerst gerichtlich gestoppt, zeigt aber die Härte der Bandagen. Gleichzeitig wird Trumps neuer Kandidat für einen vakanten Posten, sein ehemaliger Wirtschaftsberater Stephen Miran, im Eilverfahren durch den Senat geschleust. Miran gilt als Verfechter deutlich niedrigerer Zinsen und würde das Lager der „Tauben“ im Rat stärken, das bereits durch die Trump-Ernannten Christopher Waller und Michelle Bowman vertreten wird, die schon im Juli gegen das Halten der Zinsen gestimmt hatten.
Diese Vorgänge sind mehr als nur politisches Geplänkel. Sie rütteln an den Grundfesten der amerikanischen Wirtschaftsarchitektur. Die Unabhängigkeit der Zentralbank von der Tagespolitik ist kein Luxus, sondern das Fundament für eine stabile, auf Vertrauen basierende Geldpolitik. Sie soll sicherstellen, dass Entscheidungen nicht von kurzfristigen Wahlkampfinteressen getrieben werden, sondern dem langfristigen Wohl der gesamten Volkswirtschaft dienen. Wenn die Märkte und die Öffentlichkeit den Eindruck gewinnen, dass die Fed nur noch der verlängerte Arm des Präsidenten ist, geht ihre wichtigste Währung verloren: die Glaubwürdigkeit.
Eine politisch instrumentalisierte Notenbank riskiert, die Inflationserwartungen zu entankern. Wenn die Menschen glauben, dass die Fed die Inflation nicht mehr ernsthaft bekämpfen wird, passen sie ihr Verhalten an, fordern höhere Löhne und treiben die Preise in einer sich selbst verstärkenden Spirale nach oben. Der Weg zurück zu Preisstabilität wäre dann ungleich schmerzhafter und würde möglicherweise eine noch tiefere Rezession erfordern als jene, die man heute zu vermeiden versucht. Die Glaubwürdigkeit, die frühere Fed-Vorsitzende wie Paul Volcker in den 1980er-Jahren unter großen wirtschaftlichen Opfern erkämpft haben, wird nun leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Widersprüchliche Signale und die globale Perspektive
Die Komplexität der Lage wird durch weitere, widersprüchliche Wirtschaftsdaten noch erhöht. Während die Verbraucherpreise steigen, zeigte ein anderer wichtiger Indikator in eine völlig entgegengesetzte Richtung: Der Erzeugerpreisindex, der die Preise auf Großhandelsebene misst, fiel im August unerwartet um 0,1 Prozent. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Ökonomen vermuten, dass viele Großhändler und Einzelhändler die höheren Kosten durch Trumps Zölle bisher abfedern und nicht vollständig an die Endkunden weitergeben, um ihre Marktanteile nicht zu verlieren. Sie nehmen geringere Gewinnmargen in Kauf, möglicherweise in der Hoffnung, dass die Zölle nur temporär sind. Dies könnte eine Art Puffer darstellen, der den Inflationsdruck vorübergehend dämpft. Doch dieser Puffer ist endlich. Sobald die Lagerbestände aufgebraucht sind und die Unternehmen die Kosten weitergeben müssen, könnte eine zweite Inflationswelle drohen.
In diesem unsicheren Umfeld gibt es unterschiedliche Vorstellungen über den richtigen Kurs der Geldpolitik. Die Wall Street rechnet fest mit einer ersten Zinssenkung um einen Viertelprozentpunkt bei der kommenden Sitzung. Einige Analysten, wie Jonathan Hill von Barclays, erwarten, dass dies der Beginn einer Serie von schrittweisen Senkungen sein wird, bis der Leitzins ein „neutrales“ Niveau von etwa 3 Prozent erreicht hat – ein Niveau, das die Wirtschaft weder stimuliert noch bremst. Dies wäre der Versuch eines sanften Gegensteuerns, das den Arbeitsmarkt stützt, ohne die Inflation völlig aus dem Ruder laufen zu lassen.
Ein Blick über den Atlantik zeigt, dass die Federal Reserve mit ihren Problemen nicht allein ist, die Lösungsansätze aber variieren. Die Europäische Zentralbank (EZB) steht vor einer ganz anderen Herausforderung. Sie befürchtet, dass die US-Handelspolitik und ein dadurch erstarkender Euro die Inflation in der Eurozone zu niedrig drücken könnten, weit unter ihr 2-Prozent-Ziel. Dennoch hielt die EZB ihre Zinsen bei ihrer letzten Sitzung stabil bei 2 Prozent und signalisierte keine Eile, weiter zu lockern. EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte die hohe Unsicherheit im globalen Handelsumfeld. Dieser vorsichtigere Ansatz Europas steht im Kontrast zu dem unter massivem politischen Druck stehenden Kurs der Fed und verdeutlicht, wie sehr die amerikanische Geldpolitik zu einem innenpolitischen Spielball geworden ist.
Fazit: Eine erzwungene Entscheidung mit ungewissem Ausgang
Die Federal Reserve wird sich in der kommenden Woche mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Druck beugen und die Zinsen senken. Es wird als eine pragmatische Entscheidung verkauft werden, als eine Reaktion auf die gestiegenen Risiken am Arbeitsmarkt. Doch in Wahrheit ist es eine Entscheidung aus einer Position der Schwäche, eine Kapitulation vor dem politischen Druck des Weißen Hauses.
Der wahre Test wird erst danach beginnen. Was passiert, wenn die Zinssenkung die Inflation weiter anheizt, während der Arbeitsmarkt trotzdem weiter schwächelt? Was, wenn das Schreckgespenst der Stagflation tatsächlich Realität wird? Die Fed hat nur ein Instrument – den Leitzins –, um zwei entgegengesetzte Probleme zu bekämpfen. Sie kann nicht gleichzeitig Gas geben und bremsen.
Die unmittelbare Gefahr ist ein politischer Fehler, der die US-Wirtschaft in eine tiefere Krise stürzt. Die langfristige, vielleicht noch größere Gefahr ist die Zerstörung einer unabhängigen Institution, die als Anker der Stabilität konzipiert wurde. Eine Federal Reserve, die als politisch gefügig wahrgenommen wird, verliert die Macht, die Wirtschaft in zukünftigen Krisen wirksam zu steuern.
Die Lichter in den Büros der Federal Reserve werden in diesen Nächten lange brennen. Die Entscheidungsträger wälzen Daten, Modelle und Szenarien. Doch am Ende ist ihre Entscheidung vielleicht weniger eine Frage der Ökonomie als eine der politischen Standhaftigkeit. Der Preis für die falsche Entscheidung wird von Millionen Amerikanern bezahlt werden müssen, die mit den steigenden Kosten für ein Dach über dem Kopf, für Lebensmittel und für die Zukunft ihrer Kinder zu kämpfen haben. Der Kapitän Jerome Powell mag das Steuer noch in der Hand halten, aber es ist unklar, ob er den Kurs noch selbst bestimmen kann – oder ob das Schiff bereits von den politischen Stürmen unaufhaltsam auf die Klippen zugetrieben wird.