
Es ist ein politisches Schauspiel, das zynischer kaum sein könnte, und 42 Millionen Amerikaner sitzen unfreiwillig in der ersten Reihe. Während der Government-Shutdown im Oktober 2025 in seine fünfte Woche taumelt, blicken Millionen Familien, Senioren und Menschen mit Behinderungen auf einen Abgrund: das drohende Ende ihrer Lebensmittelhilfen. Das Supplemental Nutrition Assistance Program (SNAP) – ein Grundpfeiler des amerikanischen sozialen Netzes – stand kurz vor dem Kollaps. Doch dieser Kollaps war kein unvermeidbares Schicksal, kein bürokratischer Unfall. Er war eine politische Entscheidung.
Die Trump-Administration hielt eine Notfallreserve von rund 5 Milliarden Dollar zurück, die genau für solche Engpässe vorgesehen ist. Während Gerichte diese Weigerung nun als rechtswidrig gebrandmarkt haben, ist der Schaden bereits angerichtet. Die Krise offenbart eine Administration, die bereit ist, die grundlegendste menschliche Versorgung als Druckmittel in einem größeren ideologischen Kampf einzusetzen. Und sie zeigt ein soziales Netz, das bis zum Zerreißen gespannt ist.

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Das juristische Tauziehen: Ein „Nein“ aus Prinzip
Um das Undenkbare – die Aussetzung der Lebensmittelhilfe für jeden achten Amerikaner – zu rechtfertigen, baute die Trump-Administration eine Mauer aus juristischen und administrativen Vorwänden auf. Offiziell hieß es, rechtliche Hindernisse, technische Hürden bei der schnellen Überweisung und diffuse Budgetzwänge machten eine Zahlung unmöglich. Das Kernargument, das Justiz- und Landwirtschaftsministerium vorbrachten: Die Notfallreserve sei ausschließlich für „Naturkatastrophen“ gedacht, nicht für eine hausgemachte politische Krise wie den Shutdown. Landwirtschaftsministerin Brooke L. Rollins argumentierte steif, die Notfallgelder könnten nur fließen, wenn auch das zugrundeliegende Programm finanziert sei – eine zirkuläre Logik, die den Notfallfonds ad absurdum führt.
Die Unglaubwürdigkeit dieser Argumentation wurde durch das eigene Handeln der Administration tagtäglich offenbart. Während man bei SNAP auf Paragrafen pochte, zeigte man sich bei politisch priorisierten Programmen erstaunlich flexibel. Für die Bezahlung von Militärpersonal und Strafverfolgungsbeamten wurden routiniert Milliarden umgeschichtet. Auch ein anderes, kleineres Ernährungsprogramm (WIC, für Frauen, Säuglinge und Kinder) wurde durch einen Griff in einen Topf mit Zoll-Einnahmen gerettet. Diese „selektive“ Neuprogrammierung des Haushalts entlarvte die Blockade bei SNAP als das, was sie war: eine politische Entscheidung, kein administrativer Zwang. Eine Koalition von rund 25 Bundesstaaten und dem District of Columbia sah dies genauso und zog vor Gericht. Ihre Argumentation war fundamental: Die Administration sei nicht nur berechtigt, sondern gesetzlich und moralisch verpflichtet, die vorhandenen Notfallmittel zu nutzen, um Hunger zu verhindern.
Zwei Richter, eine klare Botschaft: „Rechtswidrig“
Die juristische Front der Administration brach binnen Stunden zusammen. Zwei Bundesrichter, Indira Talwani in Massachusetts und John J. McConnell in Rhode Island, demontierten die Argumente der Regierung als haltlos. Richterin Talwani, die den Vorsitz im Verfahren der Bundesstaaten innehatte, zeigte sich offen frustriert über die Weigerung der Regierung, die offensichtliche Notlage anzuerkennen. „Der Kongress hat Geld in einen Notfallfonds eingezahlt“, konstatierte sie. „Es ist schwer für mich zu verstehen, wie das hier kein Notfall sein kann, wenn kein Geld da ist und eine Menge Leute ihre SNAP-Leistungen brauchen“. Sie befand die Aussetzung der Leistungen als „rechtswidrig“ und wies die Regierung an, bis Montag zu erklären, wie sie die Hilfen finanzieren werde.
In Rhode Island ging Richter McConnell sogar noch einen Schritt weiter. In einer Klage von Städten und gemeinnützigen Organisationen ordnete er unmissverständlich an, dass die Administration das Notfallgeld „rechtzeitig oder so schnell wie möglich“ auszahlen müsse. Konfrontiert mit dieser doppelten juristischen Niederlage, vollzog Präsident Trump eine rhetorische Kehrtwende. Hatte seine Administration tagelang die Unmöglichkeit einer Zahlung beteuert, erklärte er nun via Social Media, es wäre ihm „eine Ehre“, die Finanzierung bereitzustellen. Gleichzeitig säte er jedoch sofort neue Zweifel und schob die Verantwortung für Verzögerungen auf die Gerichte, von denen man erst eine „Klärung“ brauche, „wie wir das legal“ tun können – eine Verzögerungstaktik, die die Not der Betroffenen weiter verlängert.
Ein juristischer Sieg, aber kein volles Konto
Für die 42 Millionen Betroffenen ist der juristische Sieg bitterkalt. Er bedeutet nicht, dass das Geld sofort fließt. Die Anwälte der Regierung hatten bereits gewarnt, dass das System technisch „operationell heikel“ sei. Die komplexen Prozesse zur Aufladung der elektronischen Leistungskarten (EBT) der Empfänger involvieren staatliche Agenturen und private Dienstleister und können nicht von einem Tag auf den anderen reaktiviert werden. Experten rechnen damit, dass selbst bei sofortigem Handeln die ersten Gelder erst mit Tagen oder gar Wochen Verspätung ankommen. Hinzu kommt eine brutale mathematische Realität: Der Notfallfonds enthält etwa 5 Milliarden Dollar. Die monatlichen Kosten für SNAP belaufen sich jedoch auf rund 8 Milliarden Dollar. Die von den Richtern erzwungene Lösung ist also bestenfalls eine Teillösung. Die Regierung könnte gezwungen sein, nur anteilige Leistungen auszuzahlen – vielleicht weniger als die Hälfte dessen, was die Menschen erwarten. Der juristische Sieg verhindert den Totalabsturz, führt aber direkt auf die nächste „finanzielle Klippe“ zu.
Das menschliche Gesicht der Krise: „Wie soll ich meine Familie ernähren?“
Hinter diesen Milliardenbeträgen und Paragrafen steht eine Welle menschlicher Verzweiflung. In den Hotlines der Sozialämter und in den Schlangen vor den Lebensmitteltafeln dominiert eine Mischung aus Verwirrung, Angst und Wut. „Wie soll ich meine Familie ernähren? Was soll ich tun?“, lauten die Fragen, auf die Sozialarbeiter keine Antwort haben. Christine Tully, eine 78-jährige Urgroßmutter aus Miami, schrieb ihre Einkaufsliste für November, obwohl sie nicht wusste, ob ihre 285 Dollar Hilfe kommen würden – ein kleiner Akt des Hoffens gegen die Panik. Jennifer Winn aus Louisiana, Mutter von fünf Kindern, berichtete, dass sie bereits Mahlzeiten ausließ, damit ihre Kinder essen konnten, und das, bevor die Leistungen überhaupt gekürzt wurden. Andere, wie Lisa Oglesbee, deren Mann nach einer Wirbelsäulenerkrankung im Rollstuhl sitzt, stehen vor dem Nichts.
Diese Krise trifft jene am härtesten, die keine Puffer haben. Ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, die etwa ein Fünftel der New Yorker Empfänger ausmachen, können nicht einfach in langen Schlangen vor Tafeln anstehen oder, wie von manchen Politikern nahegelegt, sich „einen Job suchen“.
Der Kollaps des letzten Netzes: Amerikas Tafeln am Limit
Die Hoffnung, Amerikas Netz aus Wohltätigkeitsorganisationen und Tafeln könne diesen Ausfall kompensieren, ist eine gefährliche Illusion. „Wir können diese Lücke nicht füllen, und wir wissen das“, sagte Jean Toth, Leiterin einer Food Bank in Louisiana. Die Tafeln operieren selbst am Rande des Kollapses. Sie werden erdrückt von einem „perfekten Sturm“ aus steigenden Lebensmittelpreisen, dem Wegfall milliardenschwerer Bundeshilfen für die Tafeln selbst (wie das Emergency Food Assistance Program) und einer wachsenden Nachfrage durch bereits beurlaubte Staatsangestellte, die nun ebenfalls auf Hilfe angewiesen sind. Das Missverhältnis ist gravierend: Experten schätzen, dass neun von SNAP finanzierte Mahlzeiten dem Wert von nur einer Mahlzeit aus einer Speisekammer entsprechen. Die gemeinnützige Infrastruktur ist als Ergänzung gedacht, nicht als Ersatz für den Staat.
Ein Flickenteppich der Notlösungen
In das Vakuum, das der Bund hinterlässt, springen nun notgedrungen die Bundesstaaten – doch das Ergebnis ist ein chaotischer Flickenteppich. Einige Staaten ergreifen proaktive Maßnahmen. So gab Louisiana, ein republikanisch geführter Staat mit hoher SNAP-Quote, 147 Millionen Dollar aus eigenen Gesundheitsfonds frei, um zumindest Kinder, Senioren und Behinderte im November zu versorgen; „gesunde“ Erwachsene ohne Kinder sollen sich an Wohltätigkeitsorganisationen wenden. In New Mexico, dem Staat mit der höchsten SNAP-Rate (21% der Bevölkerung), stellt die Regierung 30 Millionen Dollar bereit, die aber nur etwa 30 Prozent der üblichen Leistungen abdecken. Auch Virginia, Vermont und Rhode Island kündigten ähnliche, wenn auch oft stark begrenzte, staatliche Notprogramme an. Wieder andere, darunter Kalifornien, New York und Illinois, konzentrieren sich darauf, ihre bereits überlasteten Lebensmitteltafeln mit zusätzlichen Millionen zu stützen.
Doch diese Notlösungen sind nicht nachhaltig. Die 30 Millionen aus New Mexico reichen für etwa 10 Tage; die 6,3 Millionen aus Vermont für 15 Tage. New Yorks 106-Millionen-Paket deckt nur sechs Tage des Bedarfs. Andere Gouverneure, wie Wes Moore in Maryland, lehnen den Einsatz von Staatsgeldern kategorisch ab. Er argumentiert, der Staat könne die Bundesaufgabe nicht stemmen und habe keine Garantie, das Geld jemals vom Bund zurückzuerhalten. Stattdessen gab er 10 Millionen Dollar für die Tafeln frei – ein Tropfen auf den heißen Stein. Selbst private Unternehmen wie Instacart, DoorDash und Gopuff schalteten sich ein und boten SNAP-Empfängern Rabatte oder Gebührenerlasse an. Diese Aktionen sind zwar medienwirksam, aber letztlich ein Marketing-Pflaster auf einer klaffenden Wunde.
Die Politik des Hungers: Kalkül statt Krise
Diese Krise geschieht nicht im luftleeren Raum. Sie ist Teil eines größeren politischen Stillstands und einer tieferliegenden ideologischen Agenda. Während der Fokus auf SNAP liegt, droht auch anderen Programmen die Luft auszugehen: Zehntausende Kinder könnten ihre Plätze in „Head Start“-Vorschulprogrammen verlieren, und das WIC-Programm, das aktuell noch durch Umschichtungen gerettet wurde, steht ebenfalls vor dem Aus. Die Blockade bei SNAP ist dabei das zentrale Druckmittel. Präsident Trump selbst enthüllte das parteipolitische Kalkül, als er behauptete, ein Ausfall würde „größtenteils Demokraten“ treffen.
Ein Blick auf die Daten zeigt jedoch, wie falsch diese Annahme ist. Zwar repräsentieren demokratische Abgeordnete tendenziell mehr SNAP-Haushalte, doch Republikaner repräsentieren immer noch über sieben Millionen. Ländliche Gebiete – Trumps Kernwählerschaft – sind überdurchschnittlich stark auf SNAP angewiesen. Von den 10 Staaten mit der höchsten SNAP-Quote werden mehrere (wie Louisiana, Oklahoma) von Republikanern regiert. Die Entscheidung, SNAP zu blockieren, ist auch ein Schlag gegen die eigene Wählerbasis. Viel wichtiger als das kurzfristige parteipolitische Kalkül dürfte jedoch die langfristige ideologische Linie sein. Die Trump-Administration und die Republikaner im Kongress versuchen seit Jahren, SNAP drastisch zu kürzen. Erst im Juli wurden im Rahmen eines Gesetzespakets massive Kürzungen und verschärfte Arbeitsanforderungen beschlossen, die Millionen Menschen aus dem Programm drängen sollen. Die jetzige Krise, ob gewollt oder nicht, dient als Testlauf dafür, wie weit man das soziale Netz zurückschneiden kann. Im aktuellen Shutdown halten die Demokraten die Regierung geschlossen, um eine Verlängerung von auslaufenden Krankenversicherungs-Subventionen (ACA) zu erzwingen. Die Republikaner und die Administration kontern, indem sie die Finanzierung von SNAP als Geisel nehmen.
Nach dem Urteil: Ein gefährlicher Präzedenzfall
Die Gerichte haben die Administration nun zum Handeln gezwungen, zumindest teilweise. Doch die Optionen, die der Regierung bleiben, sind beunruhigend: Sie kann die Urteile anfechten, ihre Umsetzung durch bürokratische „Klärungen“ weiter verzögern oder eine unzureichende Teilzahlung anordnen. Egal wie die nächsten Tage verlaufen, dieser Oktober hat einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Das Undenkbare – die wissentliche Aussetzung der Ernährungshilfe für 42 Millionen Menschen aus politischen Motiven – ist in den Bereich des Möglichen gerückt. Das Vertrauen in die grundlegendsten Funktionen des Staates ist nachhaltig beschädigt. Die Krise wurde abgewendet, aber die Waffe, die sie ausgelöst hat, liegt nun offen auf dem Tisch.


