
Es gibt Momente, in denen sich die großen Konflikte einer Gesellschaft in einem einzigen Raum zu verdichten scheinen. Ein solcher Moment fand in einem Bostoner Gerichtssaal statt, wo sich die Anwälte der weltberühmten Harvard University und die der US-Regierung gegenüberstanden. Vordergründig ging es um Geld, um eingefrorene Forschungsgelder in Milliardenhöhe. Doch wer genauer hinhörte, verstand schnell: Hier wird nicht nur über Verträge und Budgets gestritten. Hier prallen zwei Welten aufeinander. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines eskalierenden Konflikts, den die Trump-Administration mit dem Vorwurf des mangelnden Engagements gegen Antisemitismus auf dem Campus lostrat. Doch längst ist daraus ein prinzipieller Machtkampf um die Zukunft der amerikanischen Bildungslandschaft geworden. Es ist die Geschichte eines gezielten politischen Angriffs, der unter einem juristischen Vorwand die akademische Freiheit bedroht und eine der prestigeträchtigsten Institutionen der Welt zu einer schmerzhaften Selbstprüfung zwingt.
Zwei Wahrheiten vor Gericht: Ein Streit um Verträge oder um die Verfassung?
Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung stehen zwei grundverschiedene Darstellungen dessen, was hier eigentlich verhandelt wird. Beide Seiten haben bei der zuständigen Richterin ein sogenanntes „Summary Judgment“ beantragt – eine schnelle Entscheidung ohne einen langwierigen und teuren Prozess.

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Für Harvard liegt ein klarer Angriff auf die in der US-Verfassung verankerten Grundrechte vor. Die Kürzung der Gelder sei eine direkte Bestrafung für die unliebsame politische und ideologische Ausrichtung der Universität. Die Anwälte argumentieren, die Regierung verletze auf offene und rücksichtslose Weise das Recht auf freie Meinungsäußerung, das auch die akademische Freiheit schützt. Aus ihrer Sicht wird Harvard vor die Wahl gestellt: Entweder man lässt sich von der Regierung vorschreiben, was gelehrt und geforscht werden darf, oder man verliert die finanzielle Grundlage für wegweisende Projekte in Medizin und Wissenschaft.
Die Regierung unter Präsident Trump wählt eine bewusst nüchterne und technische Argumentation. Für sie ist der Fall lediglich ein „Vertragsstreit“. Forschungsgelder, so die Anwälte des Justizministeriums, seien keine Geschenke, sondern an Verträge mit klaren Bedingungen geknüpft. Harvard habe diese Bedingungen nicht erfüllt, indem es versäumt habe, entschieden genug gegen Antisemitismus vorzugehen. Daher sei die Regierung im Recht, die Verträge zu kündigen. Diese Strategie zielt darauf ab, den Konflikt seiner politischen und verfassungsrechtlichen Dimension zu entkleiden. Doch die Richterin selbst legte den Finger in die Wunde dieser Argumentation, als sie fragte, was genau der Kampf gegen Antisemitismus mit der Streichung von Geldern für die Krebsforschung zu tun habe.
Der Vorwand: Wie der Kampf gegen Antisemitismus zum Werkzeug wird
Das Problem des Antisemitismus an amerikanischen Universitäten ist real und schmerzhaft. Auch in Harvard sahen sich jüdische Studierende nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober Anfeindungen und Ausgrenzung ausgesetzt, während die Universitätsleitung zunächst nur zögerlich reagierte. Doch die Art und Weise, wie die Trump-Administration dieses ernste Thema aufgreift, lässt tief blicken. Es scheint weniger um den Schutz der Studierenden zu gehen, sondern vielmehr darum, einen willkommenen Anlass für einen lange gehegten ideologischen Konflikt zu nutzen. Eliteuniversitäten wie Harvard sind dem konservativen Spektrum seit Langem ein Dorn im Auge, gelten als Hochburgen linker Ideologien.
Die Forderungen, die die Regierung an Harvard stellte, gehen weit über den Kampf gegen Judenhass hinaus. Verlangt wurden unter anderem eine Überprüfung der Lehrinhalte auf „ausgewogene Standpunkte“, eine Reduzierung des Einflusses von als „aktivistisch“ angesehenen Professoren und massive Eingriffe in die Personal- und Zulassungspolitik der Universität. Dies offenbart das wahre Ziel: Es geht um politische Kontrolle und ideologische Korrekturen. Was als Maßnahme gegen Diskriminierung beginnt, entpuppt sich als Versuch, die intellektuelle Ausrichtung einer ganzen Universität zu steuern.
Ein Kampf an allen Fronten: Die Eskalation der Druckmittel
Der Konflikt beschränkt sich längst nicht mehr auf den Gerichtssaal. Die Trump-Administration hat eine ganze Reihe weiterer Fronten eröffnet, um den Druck auf Harvard zu maximieren. Diese Taktik des permanenten Trommelfeuers zielt darauf ab, die Universität zu zermürben und zu einem Deal zu zwingen.
So hat die Einwanderungsbehörde ICE sogenannte „Subpoenas“ an die Universität geschickt. Das sind formelle und rechtlich bindende Aufforderungen, eine riesige Menge an Unterlagen herauszugeben, darunter Gehaltslisten, Disziplinarakten und sogar Videos von protestierenden internationalen Studierenden. Gleichzeitig hat die Regierung eine Überprüfung von Harvards allgemeiner Zulassung als Bildungseinrichtung, der sogenannten Akkreditierung, angestoßen. Ein Entzug der Akkreditierung wäre katastrophal, da Studierende dann den Zugang zu staatlichen Studienkrediten verlieren könnten. Weitere Maßnahmen umfassen Untersuchungen wegen angeblicher Diskriminierung, die Forderung nach Herausgabe von Informationen über ausländische Spenden und sogar die öffentliche Drohung Trumps, den steuerbegünstigten Status der Universität zu widerrufen.
Zwischen Widerstand und Reform: Der schwere Stand des Präsidenten
Inmitten dieses Sturms steht mit Alan Garber ein Mann, der diese Rolle nie angestrebt hatte. Ursprünglich als Übergangspräsident eingesetzt, versucht der besonnene Mediziner und Ökonom nun, Harvard durch die vielleicht größte Krise seiner jüngeren Geschichte zu steuern. Er fährt dabei eine bemerkenswerte Doppelstrategie. Nach außen verteidigt er die Universität vehement gegen die Angriffe der Regierung. Nach innen jedoch hat er einen ehrlichen und mutigen Prozess der Selbstkritik angestoßen.
Garber erkennt an, dass die externen Angriffe auf interne Schwächen treffen. Er selbst hatte schon länger eine Kultur der intellektuellen Engstirnigkeit und der Selbstzensur auf dem Campus beklagt, in der offene Debatten über heikle Themen immer schwieriger wurden. Als Reaktion hat er eine Reihe von Reformen eingeleitet, die in ruhigeren Zeiten kaum durchsetzbar gewesen wären. Er hat Arbeitsgruppen zu Antisemitismus und anti-muslimischer Feindseligkeit eingesetzt. Er hat einen prominenten Konservativen zum Vize-Präsidenten ernannt, um die Meinungsvielfalt zu stärken. Und er hat durchgesetzt, dass die Universität sich mit offiziellen politischen Stellungnahmen zurückhält, um nicht ständig zwischen die Fronten zu geraten. Garber kämpft also nicht nur gegen einen äußeren Feind, sondern auch für eine Erneuerung der Debattenkultur im eigenen Haus.
Mehr als nur Harvard: Ein Dammbruch für die gesamte Wissenschaft?
Die Unterstützer Harvards warnen eindringlich, dass dieser Konflikt weit über die Tore des Campus in Cambridge hinausreicht. In zahlreichen unterstützenden Stellungnahmen, die dem Gericht von anderen Universitäten, Wirtschaftsverbänden und sogar Bundesstaaten vorgelegt wurden – im US-Recht „Amicus-Briefe“ genannt –, wird das Vorgehen der Regierung als existenzielle Bedrohung für die gesamte amerikanische Wissenschaftslandschaft beschrieben. Ein ehemaliger hochrangiger Beamter verglich die komplette Streichung von Forschungsgeldern mit dem „Abwurf einer Atombombe“, bei dem am Ende alle verletzt würden.
Sollte die Regierung mit ihrer Argumentation des reinen Vertragsbruchs erfolgreich sein, könnte ein Damm brechen. Jede zukünftige Regierung hätte dann ein mächtiges Werkzeug in der Hand, um politisch unliebsame Forschung oder Lehre an jeder Universität des Landes durch das simple Abdrehen des Geldhahns zu bestrafen. Die jahrzehntelange, erfolgreiche Partnerschaft zwischen Staat und Wissenschaft, die unzählige Innovationen hervorgebracht hat, wäre fundamental gefährdet. Der Kampf, den Harvard heute führt, ist daher auch ein Kampf um die Zukunft des freien Denkens in einer Gesellschaft, die zu verlernen scheint, wie man Konflikte austrägt, ohne den Gegner vernichten zu wollen.