Fünf vor Katrina: Amerikas Verrat an der Erinnerung

Illustration: KI-generiert

Zwanzig Jahre nach der Flut, die New Orleans ertränkte, demontiert die Trump-Regierung systematisch den amerikanischen Katastrophenschutz. Mitarbeiter der zuständigen Behörde FEMA schlagen Alarm und werden mundtot gemacht. Eine Analyse über das organisierte Vergessen – und die fatale Wiederholung der Geschichte.

Es gibt Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis einer Nation einbrennen. Für die USA gehört dazu das Bild von Menschen, die auf den Dächern ihrer Häuser in New Orleans ausharren, umzingelt von einer braunen, endlosen Wasserwüste. Es ist das Bild eines Staates, der vor den Augen der Welt in seiner Kernaufgabe versagte: dem Schutz seiner Bürger. Zwanzig Jahre ist es an diesem Freitag her, dass der Hurrikan „Katrina“ über die Golfküste hereinbrach, die Dämme bersten ließ und eine der großen amerikanischen Kulturmetropolen in eine apokalyptische Szenerie verwandelte. Über 1.800 Menschen starben, der wirtschaftliche Schaden überstieg 100 Milliarden Dollar. Katrina war mehr als eine Naturkatastrophe; es war ein Trauma, das die tiefen Risse in der amerikanischen Gesellschaft freilegte und ein katastrophales Versagen der Regierung auf allen Ebenen offenbarte.

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Heute, zwei Jahrzehnte später, zieht ein neuer Sturm auf. Er ist politischer Natur, aber не weniger bedrohlich. Sein Epizentrum liegt in Washington, D.C., und er droht, das Fundament des amerikanischen Katastrophenschutzes zu zerschlagen, das mühsam auf den Trümmern von 2005 errichtet wurde. In einem beispiellosen Akt des Widerstands warnen Hunderte von Mitarbeitern der Katastrophenschutzbehörde FEMA in einem offenen Brief, der „Katrina Declaration“, den Kongress und die amerikanische Öffentlichkeit: Die Regierung von Donald Trump sei dabei, die Lehren aus der größten nationalen Katastrophe der jüngeren Geschichte systematisch zu negieren und die USA sehenden Auges in eine Ära der Unvorbereitetheit zurückzuführen. Ihre Warnung ist keine abstrakte Sorge. Sie ist ein verzweifelter Ruf aus dem Maschinenraum eines Systems, das politisch demontiert wird, während am Horizont bereits die nächsten Unwetter aufziehen. Die Reaktion der Regierung auf diesen Hilferuf – die sofortige Suspendierung derjenigen, die es wagten, ihren Namen unter den Appell zu setzen – ist mehr als nur eine administrative Maßnahme. Sie ist ein Statement: Expertise ist unerwünscht, Kritik wird bestraft. Der Verrat an der Erinnerung ist zur offiziellen Politik geworden.

Die Anatomie des Vergessens: Wie die Lehren von 2005 revidiert werden

Um die heutige Dramatik zu verstehen, muss man sich die damalige Katharsis vergegenwärtigen. Das Versagen von 2005 war so allumfassend, dass es einen seltenen Moment parteiübergreifender Einigkeit erzwang. Das Ergebnis war der Post-Katrina Emergency Management Reform Act von 2006, ein Gesetz, das als nationaler Schwur konzipiert war, ein in Paragrafen gegossenes „Nie wieder“. Dieses Gesetz war das genaue Gegenteil von dem, was heute geschieht. Es stärkte die FEMA, statt sie zu schwächen. Es schrieb fest, dass die Behörde von qualifizierten Notfallmanagern mit nachgewiesener Expertise geleitet werden muss, um politische Günstlingswirtschaft zu verhindern. Und es schuf eine Brandmauer, die verhinderte, dass der übergeordnete Heimatschutzminister sich direkt in die operativen Abläufe der FEMA einmischen konnte, um eine klare und schnelle Befehlskette im Krisenfall zu garantieren.

Genau diese hart erkämpften Schutzmechanismen werden von der zweiten Trump-Regierung nun mit chirurgischer Präzision demontiert. An die Spitze der Behörde wurden amtierende Leiter ohne jegliche Erfahrung im Katastrophenmanagement gesetzt. Der aktuelle Chef, David Richardson, soll intern sogar zugegeben haben, für die Hurrikan-Saison keinen Plan zu haben, und mit einem Witz über seine Unkenntnis der Saison selbst seine eigenen Mitarbeiter schockiert haben. Gleichzeitig hat Heimatschutzministerin Kristi Noem die in der Post-Katrina-Reform verankerte Autonomie der FEMA ausgehebelt. Sie hat eine neue Regelung eingeführt, die ihre persönliche Genehmigung für alle Ausgaben über 100.000 Dollar erfordert – eine bürokratische Bremse, die in der schnellen, chaotischen Realität einer Katastrophe tödliche Verzögerungen verursacht. Während der verheerenden Überschwemmungen in Texas im Juli wurde dieser Mechanismus bereits zur bitteren Realität, als er die Reaktionsfähigkeit der Teams vor Ort lähmte. Die Parallelen zu 2005 sind erschreckend: Damals war es die mangelnde Koordination durch das Heimatschutzministerium, die eine effektive Reaktion behinderte. Heute wird eine ähnliche Dysfunktionalität bewusst per Dekret herbeigeführt.

Reform oder Zerstörung? Der ideologische Krieg gegen die Vorsorge

Die Regierung und ihre Sprecher rahmen diese Maßnahmen in eine Erzählung von Effizienz und fiskalischer Verantwortung. Man wolle „ineffiziente Bürokraten“ zur Rechenschaft ziehen und „kaputte Systeme“ reformieren. Es ist die klassische Rhetorik des Populismus, die staatliche Institutionen als aufgebläht und bürgerfern darstellt. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein fundamentaler ideologischer Konflikt. Es geht um die Frage, ob Katastrophenvorsorge und -bewältigung eine Kernaufgabe des Bundesstaates sind oder eine Verantwortung, die primär bei den Einzelstaaten und den Individuen selbst liegt.

Die konkreten Handlungen der Administration lassen an ihrer Antwort keinen Zweifel. Es handelt sich nicht um eine bloße Reform, sondern um ein gezieltes Aderlassen. Ein Drittel der Belegschaft hat die FEMA seit Trumps Amtsantritt verlassen. Multimilliarden-Dollar-Programme zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit von Gemeinden, wie das BRIC-Programm, wurden gestoppt oder eingefroren. Mittel für Hochwasserschutz und andere Präventionsmaßnahmen, die nachweislich Leben retten und langfristig Kosten sparen, werden blockiert. In einem besonders zynischen Akt wurden FEMA-Mitarbeiter mitten in der Hurrikan-Saison abgezogen, um die Einwanderungsbehörde ICE bei der Rekrutierung von Personal für Abschiebungen zu unterstützen – eine Maßnahme, die explizit die Fähigkeit der FEMA zur Erfüllung ihrer Kernmission reduziert und damit gegen den Geist des Post-Katrina-Gesetzes verstößt. Diese Politik ist ein hochriskantes Glücksspiel. Sie setzt darauf, dass der „Big One“ ausbleibt, und opfert langfristige Sicherheit für kurzfristige politische Ziele und Kostensenkungen. Die Leidtragenden dieser Politik werden, wie schon bei Katrina, überproportional die ärmsten und verletzlichsten Gemeinschaften sein – insbesondere indigene, schwarze und hispanische Bevölkerungsgruppen, deren Schutz durch die Kürzungen gezielt geschwächt wird.

Der Aufstand der Experten: Ein Riss geht durch den Staatsapparat

Die „Katrina Declaration“ der FEMA-Mitarbeiter ist mehr als nur ein Brandbrief. Sie ist das jüngste und vielleicht dramatischste Symptom eines tiefen Risses, der sich durch den amerikanischen Staatsapparat zieht. Ähnliche Protestaktionen gab es bereits bei der Umweltbehörde EPA, wo Hunderte Mitarbeiter gegen die Leugnung des Klimawandels und die Untergrabung des Umweltschutzes protestierten und ebenfalls mit Suspendierungen bestraft wurden, sowie bei der NASA und anderen Wissenschaftsinstitutionen. Diese Welle des Widerstands, die als „Bethesda Declaration“-Bewegung bekannt wurde, signalisiert einen fundamentalen Konflikt zwischen einer politisch-ideologischen Führung, die Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse als störend empfindet, und den Fachexperten, die sich ihrem gesetzlichen Auftrag und dem Wohl des Landes verpflichtet fühlen.

Die Kritiker innerhalb der FEMA fordern nicht weniger als eine grundlegende Neuordnung: die Herauslösung der Behörde aus dem politisch geführten Heimatschutzministerium und ihre Etablierung als unabhängige Agentur auf Kabinettsebene. Dies würde die FEMA vor politischer Einflussnahme schützen und ihre fachliche Integrität sichern – eine Idee, die ironischerweise auch in einem parteiübergreifenden Gesetzesentwurf im Kongress Widerhall findet. Doch die Administration verfolgt den entgegengesetzten Weg. Präsident Trump selbst hat wiederholt mit dem Gedanken gespielt, die FEMA nach der Hurrikan-Saison 2025 komplett abzuschaffen oder auslaufen zu lassen. Es ist der ultimative Ausdruck einer Politik, die staatliche Vorsorge als unnötigen Ballast betrachtet.

Die Stille vor dem nächsten Sturm ist trügerisch. Die USA hatten in diesem Jahr Glück, dass Hurrikan Erin die Küste verfehlte. Doch die Ozeane werden wärmer, die Stürme stärker, und die nächste Katastrophe ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. Der organisierte Widerstand der FEMA-Mitarbeiter ist daher mehr als ein interner Machtkampf. Er ist der Versuch, die letzte Verteidigungslinie für Millionen von Amerikanern zu halten. Sie riskieren ihre Karrieren, weil sie wissen, was auf dem Spiel steht. Sie haben die Bilder von Katrina nicht vergessen. Ihre Vorgesetzten in Washington scheinen sie verdrängt zu haben. Es ist ein bewusstes, ideologisch motiviertes Glücksspiel mit Menschenleben. Und wenn der nächste große Sturm kommt, wird die Frage nicht lauten, ob die Regierung versagt hat, sondern ob sie dieses Versagen vorsätzlich herbeigeführt hat.

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