Fliegendes Tschernobyl und Drohnen-Terror: Der Krieg in der Ukraine tritt in eine neue, dunkle Phase ein

Illustration: KI-generiert

Ende Oktober 2025 hält die Welt erneut den Atem an. Der Krieg in der Ukraine, ein Konflikt, der längst zu einem blutigen Stellungskrieg erstarrt schien, zündet auf zwei Ebenen eine neue Eskalationsstufe. Es ist eine Asymmetrie des Schreckens: Während der Kreml das Gespenst einer nuklear angetriebenen „Wunderwaffe“ beschwört, die das globale strategische Gleichgewicht kippen soll, versinkt der reale Krieg am Boden in einer neuen Dimension des technologischen Terrors.

Wir erleben einen gefährlichen Wendepunkt. Russlands nukleare Erpressung wird durch die Präsentation des Marschflugkörpers „Burewestnik“ – von Kritikern zynisch „fliegendes Tschernobyl“ getauft – auf eine neue Spitze getrieben. Gleichzeitig hat sich der konventionelle Kampf in eine brutale Abnutzungsschlacht verwandelt, die nicht mehr primär von Panzern, sondern von billigen, unerbittlichen Drohnenschwärmen dominiert wird. Diese neue Realität des Krieges entmenschlicht nicht mehr nur durch systematische Kriegsverbrechen, wie Russlands „Drohnen-Safaris“ gegen Zivilisten in Cherson, sondern stellt auch die moralische und politische Integrität der Ukraine auf eine harte Probe, sichtbar in den Korruptionsskandalen um ihre eigene, rasant wachsende Rüstungsindustrie. Der Krieg wird auf zwei Bühnen geführt: als globales Psychodrama um die nukleare Apokalypse und als alltäglicher, schmutziger Technologie-Terror an der Front.

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Das Phantom „Burewestnik“: Russlands nukleares Theater

Der Zeitpunkt für Wladimir Putins jüngste Inszenierung könnte kaum kalkulierter sein. Die Präsentation des angeblich erfolgreichen Tests des „Burewestnik“ (Sturmvogel) ist weit mehr als eine militärische Pressemitteilung; es ist ein diplomatisches Signal, verpackt in atomarer Drohkulisse. Moskau stellt die Waffe als logische Antwort auf die US-Raketenabwehrsysteme dar. Doch warum investiert Russland derart immense Ressourcen in ein System, dessen strategischer Mehrwert von Analysten tiefgreifend infrage gestellt wird?

Die Antwort liegt im psychologischen Graben zwischen behauptetem Nutzen und realem Risiko. Der „Burewestnik“, so die Theorie, soll dank seines nuklearen Antriebs eine fast unbegrenzte Reichweite besitzen und Abwehrsysteme aus völlig unerwarteten Richtungen – etwa über den Südpol – anfliegen können. Ein Schreckgespenst. Dem gegenüber stehen jedoch die immensen technischen Risiken eines fliegenden Kernreaktors, die schon die USA im Kalten Krieg bewogen, ein ähnliches Projekt als zu gefährlich einzustampfen. Das Risiko einer Katastrophe, eines „fliegenden Tschernobyls“, scheint untrennbar mit der Waffe verbunden.

Analysten sind sich daher weitgehend einig: Der strategische Nutzen gegenüber Russlands bereits massivem Arsenal an Interkontinentalraketen (ICBMs) und atomar bestückten U-Booten, die als Zweitschlagskapazität völlig ausreichen, ist marginal. Die wahre Triebfeder dürfte woanders liegen: im Geltungsdrang und im innenpolitischen Prestige. In einem System, das Stärke über Effizienz stellt, dienen solche „Wunderwaffen“ primär der Demonstration von Souveränität und technologischer Potenz, unabhängig von ihrer tatsächlichen militärischen Rationalität.

Diese Zurschaustellung roher Gewalt steht in einem bizarren Kontrast zu den diplomatischen Tönen aus Moskau. Während Außenminister Lawrow den USA und Präsident Trump einen „radikalen Positionswechsel“ vorwirft – weg von einer Verhandlungslösung hin zu einem sofortigen Waffenstillstand – präsentiert der Kreml gleichzeitig ein System, das jede Verhandlungsgrundlage untergräbt. Es ist diese kalkulierte Dissonanz, die Forderung nach einem final ausgehandelten Frieden bei gleichzeitiger Demonstration maximaler Eskalationsfähigkeit, die den Westen vor ein Rätsel stellt.

Die behauptete Einsatzfähigkeit des „Burewestnik“ könnte zudem die ohnehin fragile Rüstungskontrollarchitektur endgültig zum Einsturz bringen. Mit dem Auslaufen von Verträgen wie New START schafft diese Waffe neue Fakten, die künftige Verhandlungen extrem erschweren. Die Reaktion aus Washington fiel entsprechend gereizt aus. Donald Trumps scharfe Zurechtweisung Putins, er solle den Krieg beenden statt Raketen zu testen, gepaart mit dem frostigen Verweis auf US-Atom-U-Boote direkt vor Russlands Küste, signalisiert eine deutliche Verhärtung. Das Eis zwischen Washington und Moskau ist dünner geworden, das Misstrauen tiefer.

Die neue Totalität des Drohnenkriegs

Während auf der globalen Bühne das nukleare Schattentheater aufgeführt wird, hat sich die Realität des Krieges am Boden in einen Albtraum verwandelt. Die Drohne ist zur bestimmenden Waffe dieses Konflikts geworden, und sie wird mit einer Brutalität eingesetzt, die neue Maßstäbe setzt.

Ein jüngst veröffentlichter UN-Bericht dokumentiert, was als Russlands „Drohnen-Safari“ in Cherson bekannt geworden ist. Es handelt sich nicht um Kollateralschäden, sondern um die systematische Jagd auf Zivilisten. Russische Kleindrohnen werfen Granaten auf Menschen, die auf Gehwegen gehen oder in ihren Gärten arbeiten. Sie warten über brennenden Gebäuden, um gezielt eintreffende Ersthelfer und Feuerwehrleute anzugreifen. Diese spezifische Taktik – das gezielte Töten von Zivilisten und Helfern – ist der Grund für die klare Einstufung durch die UN: Dies sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Was diese Taktik besonders perfide macht, ist die psychologische Komponente. Es geht nicht nur um das Töten, es geht um die Erzeugung eines „permanenten Terrorklimas“. Die ständige, summende Bedrohung aus der Luft, die jeden Zivilisten jederzeit zum Ziel machen kann, soll die Bevölkerung zermürben und zur Flucht zwingen. Der Einsatz von Drohnen, die dem Operator am Bildschirm eine intime Live-Video-Sicht auf sein Opfer ermöglichen, wirft dabei beunruhigende Fragen nach der Entmenschlichung des Tötens auf. Die Hemmschwelle sinkt, während die juristische Nachweisbarkeit durch die Videoaufzeichnungen ironischerweise steigt.

Die Ukraine reagiert auf diese Brutalität mit einer eigenen technologischen Eskalation. Präsident Selenskyj kündigte eine „geografische Ausweitung“ der ukrainischen Angriffe auf russisches Territorium an. Das militärische Ziel ist klar: die russische Kriegslogistik und Infrastruktur zu treffen, den Krieg ins Hinterland des Aggressors zu tragen und dort ebenfalls einen psychologischen Preis einzufordern.

Doch auch Kiew bewegt sich dabei in moralischen und rechtlichen Grauzonen. Berichte über ukrainische Angriffe auf russische Talsperren, etwa in Belgorod, um gezielt russische Stellungen flussabwärts zu überfluten, zeigen ein gefährliches Kalkül. Der militärische Nutzen mag evident sein, doch der Bruch des Völkerrechts, das Angriffe auf Dämme explizit verbietet, ist es auch. Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge zwischen legitimer Verteidigung und der Übernahme der Methoden des Feindes.

Die Schattenseiten der ukrainischen Innovation

Die Notwendigkeit, der russischen Übermacht technologisch zu begegnen, hat in der Ukraine einen beispiellosen Innovationsschub ausgelöst. Aus Garagen und Kellern sind binnen Monaten Rüstungsfirmen entstanden. Doch dieser wilde, unregulierte Boom hat eine dunkle Kehrseite, die am Fall des Unternehmens „Fire Point“ exemplarisch sichtbar wird.

Wie konnte eine Firma, die vor dem Krieg als Casting-Agentur für Filmproduktionen tätig war und deren Personal keinerlei Rüstungsexpertise besaß, in kürzester Zeit zu einem der größten Drohnen-Auftragnehmer des Landes aufsteigen, mit Verträgen im Wert von einer Milliarde Dollar? Diese Frage wirft ein Schlaglicht auf die tiefen internen Probleme der ukrainischen Verteidigungsindustrie.

Es ist ein klassischer Zielkonflikt: Die Notwendigkeit einer schnellen, unbürokratischen Rüstungsproduktion, um an der Front zu überleben, kollidiert frontal mit den Risiken von Korruption, Günstlingswirtschaft und massiven Qualitätsmängeln. Berichte über politische Verbindungen von „Fire Point“ bis in das Umfeld von Präsident Selenskyj, kombiniert mit Vorwürfen überteuerter und mangelhafter Drohnen, sind toxisch.

Diese Skandale sind mehr als nur ein internes Problem. Sie drohen, das Vertrauen der westlichen Partner und dringend benötigter internationaler Investoren zu untergraben. Wenn Kiew den Eindruck erweckt, dass die überlebenswichtige Militärhilfe in undurchsichtigen Kanälen versickert, gefährdet es die eigene Existenzgrundlage. Der Kampf gegen die Korruption ist für die Ukraine zu einem ebenso wichtigen Schlachtfeld geworden wie der Kampf gegen die russische Armee.

Die unerbittliche Realität an der Front

Trotz der Schlagzeilen über Wunderwaffen und Drohnenschwärme wird der Krieg weiterhin am Boden entschieden, in den Schützengräben der Ostukraine. Die Kämpfe um strategisch wichtige Knotenpunkte wie Pokrowsk und Siwersk zeigen, wie unerbittlich dieser Abnutzungskrieg geführt wird.

Russland wendet dabei unterschiedliche Taktiken an. In Pokrowsk versucht das russische Militär, die Stadt durch die Infiltration kleiner, schwer zu fassender Infanteriegruppen zu destabilisieren, um den entscheidenden Verkehrsknotenpunkt für die Kontrolle über Donezk zu erobern. Weiter nördlich, bei Siwersk, deutet hingegen alles auf einen massiven Aufmarsch für einen klassischen Großangriff hin. Die ukrainische Armee muss auf diese flexiblen Bedrohungen mit ebenso flexiblen Verteidigungsanpassungen reagieren, ein ständiger Wettlauf um Ressourcen und Taktik.

Erschwerend kommt hinzu, dass Russland seine Reihen offenbar mit ausländischer Hilfe auffüllt. Die vertiefte Partnerschaft mit Nordkorea zeigt Wirkung: Tausende nordkoreanische Soldaten sollen bereits an der Front eingesetzt worden sein, begleitet von massiven Lieferungen an Artilleriemunition. Diese Unterstützung verändert die Kräfteverhältnisse und verlängert die Durchhaltefähigkeit Moskaus.

In diesem brutalen Umfeld wird auch die Arbeit derer, die über den Krieg berichten, immer gefährlicher. Der gezielte Einsatz von russischen Lancet-Drohnen gegen Journalisten-Teams zeigt: Die Wahrheit ist ein militärisches Ziel geworden. Kriegsberichterstatter müssen ihre Taktiken anpassen, um nicht selbst Opfer der Präzisionswaffen zu werden, über die sie berichten.

Am Ende dieses düsteren Oktobers 2025 steht die Ukraine vor einer zermürbenden Herausforderung. Präsident Selenskyj versucht verzweifelt, den politischen Spagat zu meistern: Er muss vom Westen weiterhin Langstreckenwaffen wie Tomahawks fordern, um militärisch zu überleben, während er gleichzeitig auf den politischen Vorschlag von US-Präsident Trump reagieren muss, den Krieg an den aktuellen Frontlinien einzufrieren. Es ist ein fast unmöglicher Balanceakt, während der Krieg selbst längst in eine neue, technologisch enthemmte Phase eingetreten ist – eine Phase, in der psychologische Schreckgespenster wie der „Burewestnik“ und reale Technologie-Albträume wie die „Drohnen-Safari“ die Diplomatie an den Rand drängen.

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