Die Tylenol-Akte: Wie Donald Trump die Wissenschaft demontiert und Amerikas Gesundheit aufs Spiel setzt

Illustration: KI-generiert

Es gibt Momente in der Politik, die über den Tag hinausweisen. Momente, in denen die Fassade des rationalen Diskurses bricht und etwas anderes, etwas Rohes und Instinktives zum Vorschein kommt. Die Pressekonferenz im Weißen Haus am 22. September 2025 war ein solcher Moment. Es war nicht nur eine politische Ankündigung. Es war eine Proklamation, eine fast schon verzweifelte Beschwörung, die direkt aus dem Bauch des Präsidenten zu kommen schien. „Nehmen Sie kein Tylenol, nehmen Sie es nicht“, donnerte Donald Trump, seine Hände unterstrichen die Dringlichkeit seiner Worte. Er wiederholte es, immer und immer wieder, als wolle er die Botschaft in das kollektive Bewusstsein der Nation hämmern.

Was sich an diesem Tag im Herzen der amerikanischen Macht entfaltete, war weit mehr als nur ein unkonventioneller Ratschlag zur Gesundheitsvorsorge. Es war die öffentliche Eskalation eines tiefgreifenden Konflikts, der seit Jahren unter der Oberfläche der amerikanischen Gesellschaft schwelt: der Kampf zwischen wissenschaftlicher Evidenz und politisch motivierter Intuition. Die Kampagne der Trump-Administration gegen das Schmerzmittel Acetaminophen, besser bekannt unter dem Markennamen Tylenol, ist kein isolierter Fehltritt. Sie ist das bisher deutlichste Symptom einer politischen Strategie, die darauf abzielt, das Fundament der evidenzbasierten Entscheidungsfindung zu erschüttern und durch eine auf Anekdoten, persönlichen Überzeugungen und politischem Kalkül basierende Realität zu ersetzen. Dies ist die Anatomie eines Angriffs auf die Wissenschaft – ein Angriff, der nicht nur das Vertrauen in Institutionen untergräbt, sondern reale und potenziell fatale Konsequenzen für die Gesundheit von Millionen hat.

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Ein Präsident im Gefühlsrausch: Die brüchige Faktenlage einer Kampagne

Um die Tragweite der Initiative zu verstehen, muss man ihre wissenschaftliche Grundlage betrachten – oder besser gesagt, deren fast vollständiges Fehlen. Die Administration, angeführt von Trump und seinem Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., stützt ihre dramatische Warnung im Wesentlichen auf einen dünnen Faden: eine wissenschaftliche Überblicksstudie von Forschern der Harvard University und der Icahn School of Medicine at Mount Sinai. Diese sogenannte Metastudie analysierte 46 bereits existierende Forschungsarbeiten und fand in einigen davon eine statistische Assoziation zwischen der Einnahme von Acetaminophen während der Schwangerschaft und einem erhöhten Risiko für Autismus oder ADHS bei Kindern.

Doch genau hier liegt der entscheidende Punkt, den die Regierung in ihrer Kommunikation gezielt ignoriert: Assoziation ist nicht Kausalität. Die Autoren der Studie selbst warnten explizit davor, aus ihren Ergebnissen einen ursächlichen Zusammenhang abzuleiten. Es ist der klassische Unterschied, den jeder Wissenschaftler im ersten Semester lernt: Nur weil der Verkauf von Eiscreme im Sommer ansteigt und gleichzeitig die Zahl der Gewaltverbrechen zunimmt, bedeutet das nicht, dass Eiscreme gewalttätig macht. Es gibt eine dritte Variable – das heiße Wetter –, die beides beeinflusst. Im Fall von Tylenol könnten dies genetische Veranlagungen oder die Grunderkrankungen sein (wie Infektionen und Fieber), die Frauen überhaupt erst zur Einnahme des Medikaments veranlassen.

Die etablierte medizinische Fachwelt blickt auf diesen Zerrspiegel der Wissenschaft mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen. Während die Regierung eine einzelne, in ihren Schlussfolgerungen zurückhaltende Studie zu einem unumstößlichen Beweis aufbläst, ignoriert sie das massive wissenschaftliche Gegengewicht. Führende Gesundheitsorganisationen – von der Food and Drug Administration (FDA) über die European Medicines Agency bis hin zum American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) – haben die Datenlage geprüft und als nicht schlüssig bewertet.

Das wissenschaftliche Stoppschild, das die Administration am vehementesten überfährt, ist eine monumentale Studie aus dem Jahr 2024, die in der Fachzeitschrift JAMA veröffentlicht wurde. Forscher analysierten die Gesundheitsdaten von fast 2,5 Millionen Kindern in Schweden. Zunächst fanden auch sie eine leichte statistische Verbindung. Doch dann taten sie etwas, das als Goldstandard in der epidemiologischen Forschung gilt: Sie führten eine Geschwister-Vergleichsanalyse durch. Indem sie Kinder derselben Mutter verglichen, von denen eines während der Schwangerschaft Acetaminophen ausgesetzt war und das andere nicht, konnten sie den Einfluss von Genetik und familiärem Umfeld herausrechnen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Assoziation verschwand vollständig. Die wahrscheinlichste Ursache, so die Forscher, liegt nicht im Medikament, sondern in den genetischen Faktoren, die Mutter und Kind teilen – genau jener „Elefant im Raum“, den die selektive Beweisführung der Regierung ausblendet.

Das Echo der Vergangenheit: Trumps persönlicher Kreuzzug und seine politischen Motive

Warum also dieser Feldzug gegen ein seit Jahrzehnten bewährtes Medikament, gestützt auf eine derart brüchige Beweislage? Die Antwort liegt nicht in der Wissenschaft, sondern in der Psyche und der politischen Strategie des Präsidenten. Donald Trumps Interesse am Thema Autismus ist tief verwurzelt und von einer fast missionarischen Überzeugung geprägt. Bereits 2007, lange vor seiner politischen Karriere, vertrat er die Theorie, dass Impfungen die Ursache seien, und passte den Impfplan für seinen Sohn Barron entsprechend an. Anekdoten, wie die einer angeblichen Mitarbeiterin, deren Sohn nach einer Impfung „verloren“ gewesen sei, formen seine Weltsicht stärker als jede wissenschaftliche Studie. Für ihn ist das Thema „persönlich“, eine Mission, die er seit 20 Jahren verfolgt und die er als ebenso wichtig erachtet wie die Beendigung von Kriegen.

In seiner zweiten Amtszeit hat diese persönliche Obsession nun einen mächtigen politischen Verbündeten gefunden: Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., der seine Karriere auf der Verbreitung widerlegter Theorien zum Zusammenhang von Impfungen und Autismus aufgebaut hat. Die Tylenol-Initiative ist das Resultat einer politischen Symbiose. Für Trump ist sie die Einlösung eines Versprechens an eine wichtige Wählergruppe – die Anhänger von Kennedys „Make America Healthy Again“-Bewegung, die er als entscheidend für seinen Wahlsieg ansieht. Für Kennedy ist es die Chance, seine seit langem gehegten Überzeugungen von höchster Regierungsebene aus zu legitimieren. Gemeinsam schaffen sie ein Narrativ, das einfache Antworten auf eine komplexe Frage verspricht: Nicht eine vielschichtige Interaktion von hunderten Genen und Umweltfaktoren ist schuld, sondern ein einzelner, greifbarer Feind – erst die Impfung, jetzt das Schmerzmittel.

Dieses Vorgehen ist ein beunruhigendes Echo der Vergangenheit. Die Argumentationsmuster, die heute gegen Tylenol verwendet werden, sind nahezu identisch mit denen aus der längst widerlegten Impf-Autismus-Debatte, die auf einer 1998 veröffentlichten und später wegen Datenfälschung zurückgezogenen Studie von Andrew Wakefield basierte. In beiden Fällen wird eine wissenschaftliche Außenseitermeinung zur Wahrheit verklärt, der überwältigende wissenschaftliche Konsens als Verschwörung abgetan und die Sorgen von Eltern instrumentalisiert. Der signifikante Anstieg der Autismus-Diagnosen von 1 in 150 Kindern im Jahr 2000 auf etwa 1 in 31 heute dient dabei als politischer Brandbeschleuniger. Während Experten diesen Anstieg plausibel mit einer erweiterten Definition von Autismus, erhöhter Aufmerksamkeit und verbesserten Diagnosemethoden erklären, deutet die Administration ihn zu einer „Epidemie“ um, die einen Schuldigen erfordert.

Kollateralschaden Vertrauen: Wenn Politik zur Gefahr für Patienten wird

Die direkten Folgen dieser Politik sind bereits jetzt spürbar und verheerend. An vorderster Front stehen schwangere Frauen, die in ein medizinisches und emotionales Niemandsland gestoßen werden. Ärzte und Gynäkologen schlagen Alarm, denn die Warnung des Präsidenten schafft einen gefährlichen Zielkonflikt. Acetaminophen ist eines der wenigen als sicher geltenden Mittel zur Fiebersenkung während der Schwangerschaft. Unbehandeltes Fieber, insbesondere im ersten Trimester, ist ein belegtes Risiko für Mutter und Kind und kann zu schweren Entwicklungsschäden oder sogar Fehlgeburten führen. Die pauschale Empfehlung, Schmerzen und Fieber einfach „auszuhalten“ („tough it out“), wie Trump es formuliert, ist aus medizinischer Sicht grob fahrlässig und stürzt Ärzte in ein unlösbares Dilemma in der Beratung.

Gleichzeitig entfaltet sich für den Tylenol-Hersteller Kenvue, eine zwei Jahre alte Abspaltung von Johnson & Johnson, ein Albtraum für die Öffentlichkeitsarbeit. Der Aktienkurs des Unternehmens ist seit Bekanntwerden der Regierungspläne um 17 Prozent eingebrochen. Das Management befindet sich im Krisenmodus und verfolgt eine zweigleisige Strategie: Zum einen versucht es, in direkten Gesprächen mit Minister Kennedy wissenschaftliche Überzeugungsarbeit zu leisten – ein Versuch, der offensichtlich gescheitert ist. Zum anderen setzt das Unternehmen nun auf eine massive Lobbying-Anstrengung, die auf wirtschaftliche und patriotische Argumente abzielt. Man betont, dass Tylenol in den USA produziert wird, und appelliert an republikanische Abgeordnete und Mütter im Kongress, um politischen Gegendruck aufzubauen.

Doch der größte Kollateralschaden dieser Kampagne ist unsichtbar und langfristig: die systematische Zerstörung des Vertrauens in die Institutionen, die das Fundament der öffentlichen Gesundheit bilden. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten, gestützt von seinem Gesundheitsminister, den wissenschaftlichen Konsens der eigenen Behörden wie der FDA überstimmt und dies mit seinem persönlichen Gefühl rechtfertigt („This is based on what I feel“), werden die Grundpfeiler der evidenzbasierten Medizin eingerissen. Dieser Vertrauensverlust wird durch weitere Aktionen der Regierung noch verstärkt. Während Tylenol dämonisiert wird, treibt die Administration die Zulassung des Medikaments Leucovorin als potenzielle Autismus-Therapie voran. Zwar gibt es erste, kleine Studien, die auf mögliche positive Effekte hindeuten, doch die Forschung steht noch ganz am Anfang. Die politische Förderung eines unbewiesenen Heilmittels, während ein bewährtes Medikament ohne Beweise verdammt wird, sendet ein fatales Signal: Nicht wissenschaftliche Strenge, sondern politische Opportunität entscheidet über die Wahrheit in der Medizin.

Die offene Wunde: Amerikas Kampf um die Wahrheit in der Medizin

Die Trump-Administration nutzt dabei alle ihr zur Verfügung stehenden administrativen Hebel, um ihre Agenda durchzusetzen. Geplant ist nicht nur eine öffentliche Warnung, sondern auch eine offizielle Änderung des Medikamenten-Labels durch die FDA sowie ein Brief an alle Ärzte des Landes. Es ist der Versuch, eine politisch motivierte Meinung in den Rang einer offiziellen medizinischen Leitlinie zu erheben und so den wissenschaftlichen Prozess auszuhebeln.

Was bleibt, ist mehr als nur Verunsicherung. Es ist eine offene Wunde im gesellschaftlichen Körper Amerikas. Eine Konfrontation, die zeigt, wie fragil der wissenschaftliche Konsens in einem politisch hochgradig polarisierten Klima geworden ist. Die Mechanismen sind klar: Eine einfache, emotional ansprechende Erzählung wird über die Massenmedien und sozialen Netzwerke verbreitet und von politischen Influencern verstärkt, während die komplexe, differenzierte wissenschaftliche Realität kaum eine Chance hat, durchzudringen.

Dies könnte mehr als nur eine Episode im politischen Theater sein. Es könnte ein Wendepunkt sein, an dem die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion in der öffentlichen Gesundheitsdebatte dauerhaft verwischt wird. Die langfristigen Folgen sind kaum absehbar: eine mögliche Zunahme vermeidbarer Krankheiten, eine Lähmung der wissenschaftlichen Forschung durch politische Einmischung und eine Generation von Bürgern, die nicht mehr weiß, wem sie in Fragen von Leben und Tod vertrauen kann. Die Frage, die nach dem Tosen der Pressekonferenz im Raum stehen bleibt, ist daher nicht nur, ob schwangere Frauen Tylenol nehmen sollten. Die eigentliche Frage ist, ob eine Gesellschaft überleben kann, in der das Gefühl des Mächtigsten mehr wiegt als die gesammelte Evidenz der Wissenschaft.

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