Die Epstein-Akte: Wie Trump einen Skandal überlebt, indem er die Regeln der Politik neu schreibt

Illustration: KI-generiert

Es gibt politische Momente, die wie ein Seismograph die tiefen Erschütterungen im Fundament einer Gesellschaft anzeigen. Die Affäre um den verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein und ihre Verästelungen in die höchsten Kreise der Macht ist ein solcher Moment. Sie hätte das Potenzial, eine Präsidentschaft zu erschüttern, insbesondere eine, die bereits von zahllosen Kontroversen gezeichnet ist. Doch im Fall von Donald Trump scheint die politische Schwerkraft einmal mehr außer Kraft gesetzt. Ein Skandal, der eigentlich toxisch sein müsste, wird zu einem weiteren Akt in einem politischen Drama, das nach eigenen Gesetzen funktioniert. Die Episode ist mehr als nur eine weitere überstandene Krise; sie ist ein Lehrstück darüber, wie die Mechanik der Macht im Zeitalter des Populismus funktioniert, wie Loyalität erzeugt wird und wie die Wahrheit selbst zu einer strategischen Variable verkommt. Die zentrale These, die sich aus den Trümmern dieser Auseinandersetzung erhebt, lautet: Trump überlebt den Epstein-Skandal nicht trotz des tiefen Misstrauens seiner Anhänger gegenüber dem „System“, sondern gerade wegen dieses. Er hat die Fähigkeit perfektioniert, dieses Misstrauen nicht nur zu kanalisieren, sondern es in Echtzeit zu einem Schutzschild für sich selbst umzuformen.

Der Auslöser für die jüngste Eskalation war eine doppelte Enttäuschung für Trumps Kernanhängerschaft. Zuerst die Ankündigung seines eigenen Justizministeriums, dass es keine weiteren relevanten Akten aus dem Nachlass Epsteins zur Veröffentlichung gäbe. Für eine Bewegung, die Trump als den Zerstörer des korrupten „tiefen Staates“ feiert und auf die Enthüllung eines elitären Pädophilen-Netzwerks hoffte, kam dies einem Verrat gleich. Die Enttäuschung war greifbar und artikulierte sich in einer für Trump ungewöhnlich scharfen Form der Kritik aus den eigenen Reihen. Kurz darauf goss ein Bericht des Wall Street Journal zusätzliches Öl ins Feuer, der Trumps eigene, frühere Nähe zu Epstein beleuchtete. Es war ein seltener Moment der politischen Verwundbarkeit. Der Anführer der Bewegung schien plötzlich selbst Teil jenes Establishments zu sein, dessen Auslöschung er versprochen hatte. Doch was wie der Beginn einer ernsthaften Krise aussah, entpuppte sich als Meisterstück politischer Alchemie.

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Der Funke, der nicht zündete: Wie interner Aufruhr zur Waffe wird

Die Reaktion des Trump-Lagers folgte einem ebenso erprobten wie effektiven Drehbuch. Anstatt sich inhaltlich mit den Vorwürfen oder der Enttäuschung seiner Basis auseinanderzusetzen, wählte Trump die totale Konfrontation nach außen. Seine umgehende Drohung und die darauffolgende Verleumdungsklage gegen das Wall Street Journal und dessen Eigentümer Rupert Murdoch waren der strategische Wendepunkt. Dieser aggressive Akt der Feindmarkierung funktionierte wie ein elektrischer Schock, der die zentrifugalen Kräfte innerhalb der MAGA-Bewegung augenblicklich umkehrte. Der aufkeimende interne Konflikt wurde abgelöst und überlagert von einem weitaus größeren, existentiellen Kampf: MAGA gegen die „Fake News Medien“ und den „Deep State“.

Der anfangs gegen Trump gerichtete Zorn fand ein neues, vertrautes Ziel. Prominente Unterstützer wie Stephen K. Bannon, die kurz zuvor noch Alarm geschlagen hatten, schwenkten um und identifizierten die Medien als den wahren Aggressor. Die Erzählung war perfekt: Nicht Trumps Handeln oder seine früheren Verbindungen waren das Problem, sondern der konzertierte Versuch einer korrupten Elite, ihn mit unlauteren Mitteln zu Fall zu bringen. Die Solidarität wurde durch das Schaffen eines gemeinsamen Feindes wiederhergestellt, ein Mechanismus, der die Bewegung seit Jahren zusammenhält. Die Kritik an Trump verstummte und machte Platz für eine Welle der Solidarität. Der Skandal wurde erfolgreich umgedeutet – von einem möglichen Fehlverhalten Trumps zu einem Beweis für seine Aufrichtigkeit, da er ja von den „richtigen“ Leuten angegriffen wurde.

Das Echo der Geschichte: Warum das Misstrauen tiefer sitzt als jede einzelne Lüge

Um zu verstehen, warum diese Strategie so mühelos verfängt, muss man den Blick weiten. Der Fall Epstein ist nicht nur ein Politikum der Gegenwart; er ist ein Symptom für eine tiefgreifende Vertrauenskrise, die die amerikanische Gesellschaft seit Jahrzehnten erodiert. Das weit verbreitete Gefühl, dass die Regierung Informationen über Epsteins Machenschaften und seinen Tod zurückhält, ist keine reine Erfindung von Verschwörungstheoretikern. Es speist sich aus einem reichen Fundus historischer Erfahrungen, in denen staatliche Institutionen die Öffentlichkeit nachweislich belogen oder getäuscht haben.

Die Enthüllungen über die Vertuschungen der CIA im Zusammenhang mit dem Kennedy-Attentat, die Pentagon-Papiere, die das Lügengebäude des Vietnamkriegs offenbarten, oder die Watergate-Affäre, die eine Verschwörung bis ins Oval Office bewies – all diese Ereignisse haben das Vertrauen in staatliche Autorität nachhaltig beschädigt. Das Vertrauen der Amerikaner in ihre Regierung, das Richtige zu tun, ist von rund 75 Prozent zur Zeit Kennedys auf unter 30 Prozent in der jüngeren Vergangenheit gefallen. Kriege, die auf fragwürdigen Geheimdienstinformationen basierten, und politische Skandale haben diesen Verfall beschleunigt. Trump hat diesen Vertrauensverlust nicht erschaffen, aber er hat ihn wie kein anderer politisch kultiviert und für seine Zwecke instrumentalisiert. Ironischerweise wird er nun selbst zum Gegenstand genau jener Art von Misstrauen, das er jahrelang geschürt hat. Er erntet, was er gesät hat. Sein Dilemma ist, dass er seine Anhänger nicht mehr davon überzeugen kann, ausgerechnet seiner Regierung zu vertrauen, wenn es darum geht, eine heikle Wahrheit zu managen.

Die Alchemie der Macht: Wenn Verschwörungen zu nützlichen Metaphern werden

Hier offenbart sich die vielleicht faszinierendste Facette des Phänomens: die Natur der Verschwörungstheorien selbst. Die Beiträge legen nahe, dass es ein Fehler ist, diese Erzählungen lediglich als faktisch falsche Behauptungen abzutun. Sie sind vielmehr ein „fassbares Idiom“ oder eine „nützliche Metapher“. Sie dienen dazu, komplexe und diffuse Gefühle von Angst, Ohnmacht und dem Verrat durch eine abgehobene Elite in eine konkrete, verständliche Geschichte zu fassen. Theorien über Epsteins elitäres Erpressungsnetzwerk haben für viele Menschen mehr Erklärungskraft als abstrakte soziologische Analysen über Neoliberalismus. Sie sind ein Werkzeug, um der Welt einen Sinn zu geben, besonders wenn man sich von den offiziellen Institutionen im Stich gelassen fühlt.

Diese Erkenntnis erklärt auch, warum solche Theorien so „reibungslos austauschbar“ sind und ihre politische Relevanz verlieren können, sobald ihre Verfechter selbst an die Macht gelangen. Sie sind ein Instrument der Opposition, der Machtlosen. Trumps abrupte Kehrtwende, die Epstein-Saga nun als „Hoax“ der „lunatic left“ zu bezeichnen, ist aus dieser Perspektive ein strategischer Geniestreich. Er signalisiert damit: Wir sind nicht mehr die Opposition, wir sind die Gewinner. Das Beschäftigen mit solchen Theorien ist etwas für „Verlierer“. Indem er die Theorie ablegt wie ein altes Kleidungsstück, vollzieht er symbolisch den Wechsel vom Außenseiter zum Machthaber. Für seine loyalsten Anhänger, deren Glaube ohnehin gegen jede Falsifizierung immun ist, wird selbst dieser Verrat an der ursprünglichen Erzählung zu einem Beweis für seine überlegene Strategie – ein 4D-Schachspiel, das nur er versteht.

Letztlich ist es unwahrscheinlich, dass Trump durch die Epstein-Affäre nachhaltigen Schaden bei seiner Kernbasis erleidet. Der Vorfall hat vielmehr gezeigt, wie gefestigt der Pakt zwischen ihm und seinen Anhängern ist. Die eigentliche Gefahr könnte jedoch woanders lauern. Die Quellen deuten an, dass eine andere, oft übersehene Wählergruppe durch solche Skandale nachhaltig abgestoßen werden könnte: die weniger parteigebundenen, von der Politik desillusionierten Bürger, die eine generelle Abneigung gegen ein als korrupt empfundenes System hegen. Für sie könnte Trumps Nähe zu Epstein genau jenes Gefühl des Elitenversagens bestätigen, das sie überhaupt erst in seine Arme getrieben hat. Während der Kult um seine Person die Gläubigen bei der Stange hält, könnten die pragmatischeren, weniger ideologischen Wähler leise abwandern.

Der Fall Epstein wird somit nicht als der Skandal in die Geschichte eingehen, der Trump zu Fall brachte. Aber er wird als ein präzises Diagnoseinstrument in Erinnerung bleiben, das die erschreckend dünne Linie zwischen Politik und Performance im 21. Jahrhundert aufzeigt. Er demonstriert eine neue politische Realität, in der die Loyalität zu einer Führerfigur und die strategische Nützlichkeit einer Erzählung die objektive Wahrheit längst verdrängt haben. Die wichtigste Währung ist nicht mehr Glaubwürdigkeit im traditionellen Sinn, sondern die Fähigkeit, die Deutungshoheit über die Realität selbst zu erlangen und zu behaupten – selbst wenn man sich dafür von den Mythen trennen muss, die einen groß gemacht haben.

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