Die Abschaffung der Wirklichkeit: Wie Trumps Amerika „1984“ zur Betriebsanleitung macht

Illustration: KI-generiert

Es liegt eine intellektuelle Schwere über den Vereinigten Staaten. Eine fast greifbare Verunsicherung darüber, was wahr ist und was nicht. Der Begriff „orwellsch“ ist zu einem Kampfbegriff geworden, zu einer verbalen Waffe, die von allen Seiten des politischen Spektrums abgefeuert wird. Es ist ein Wort, das die Luft elektrisiert, weil jeder das Gefühl hat, in einer verdrehten Realität zu leben, die George Orwells düsterste Visionen spiegelt.

Die größte Ironie dieser Ära liegt vielleicht in der Tatsache, dass Präsident Donald Trump – der Mann, der als Epizentrum dieser Realitätsverschiebung gilt – den britischen Autor selbst öffentlich lobt. In diesem Akt des „Doppeldenk“ – dem gleichzeitigen Halten zweier sich ausschließender Wahrheiten – liegt der Schlüssel zum Verständnis seiner zweiten Amtszeit.

Wir erleben nicht einfach einen konservativen politischen Wandel. Wir sind Zeugen eines methodischen, administrativ exekutierten Angriffs auf die Sprache und damit auf das Denken selbst. Es ist der Versuch, die Fundamente der Realität so lange zu untergraben, bis nur noch die autoritäre Behauptung zählt. Die Dystopie „1984“ ist im Weißen Haus des Jahres 2025 angekommen – nicht mehr als Warnung, sondern als Blaupause.

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Die Archäologie der gelöschten Worte

Der Angriff beginnt nicht mit Panzern, sondern mit Memos. Er ist still, bürokratisch und verheerend wirksam. Es ist eine „sprachliche Säuberung“, die darauf abzielt, die Werkzeuge für kritisches Denken zu vernichten, bevor sie überhaupt benutzt werden können.

Wie die „New York Times“ recherchierte, wurden seit Trumps Amtsantritt mehr als 200 Begriffe systematisch aus dem Vokabular der Bundesbehörden verbannt. Die Liste liest sich wie ein Index dessen, was eine moderne Gesellschaft ausmacht: „Klimawandel“, „Rassismus“, „Vielfalt“, „Feminismus“ und sogar das Wort „Frau“.

Das Ziel dieser Aktion ist identisch mit dem von Orwells „Neusprech“: Wenn es kein Wort mehr für ein Konzept gibt – wie soll man es dann denken, kritisieren oder gar einfordern? Die Begründung der Regierung, man wolle eine „neutralere und unvoreingenommene Kommunikation gewährleisten“, ist selbst ein Meisterstück des Neusprech: Sie bedeutet das exakte Gegenteil dessen, was sie sagt. Es ist die Verkehrung der Realität ins Gegenteil, bei der Maßnahmen gegen Diskriminierung plötzlich als „illegale Diskriminierung“ gebrandmarkt werden.

Dieser Krieg gegen die Worte unterscheidet sich fundamental von gewöhnlicher Parteipolitik. Er wird nicht über Gesetze geführt, die vor Gerichten angefochten werden könnten. Er wird durch administrative Gewalt durchgesetzt: durch die Androhung von Budgetkürzungen. In den Fluren der Ministerien etabliert sich eine „Atmosphäre der Angst und Selbstzensur“. Warum einen Forschungsantrag zum „Klimawandel“ stellen, wenn man weiß, dass das Wort selbst auf einem Index steht und die Mittel gestrichen werden? Dieser Mechanismus ist subtiler und wirksamer als jedes offizielle Verbot. Er zwingt Wissenschaftler, Beamte und Pädagogen in vorauseilenden Gehorsam. Es ist die Perfektionierung einer Machtausübung, die Menschen in Unsicherheit stürzt, eine Taktik, die durch das „Project 2025“ der Heritage Foundation theoretisch untermauert wird.

Wenn Geschichte zum updatebaren Code wird

Wer die Sprache kontrolliert, kontrolliert die Gedanken. Doch wer die Gegenwart kontrolliert, so Orwell, kontrolliert die Vergangenheit. Die zweite Säule der orwellschen Transformation ist daher der großangelegte Geschichtsrevisionismus – die Säuberung der digitalen und physischen Archive von Fakten, die der neuen Erzählung widersprechen.

Diese „Updates“ der Realität geschehen täglich. Tausende von Webseiten der Bundesregierung wurden gelöscht oder sind nicht mehr erreichbar. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) verloren nicht nur Informationen zur Empfängnisverhütung, sondern auch eine komplette Datenbank mit HIV-Daten aus 20 Jahren. Wer heute auf den Regierungsseiten nach „Abtreibung“ sucht, erhält den Hinweis, „Adoption in Betracht zu ziehen“. Nationale Klimaberichte, der Goldstandard der Forschung, wurden offline genommen, um sie zu „überprüfen“ – ein bürokratischer Euphemismus für ihre politische Säuberung.

In Orwells Roman arbeitete der Protagonist Winston Smith im „Ministerium für Wahrheit“ und warf unbequeme Fakten in das „Gedächtnisloch“. In Trumps Amerika übernehmen Bundesbeamte diese Aufgabe, indem sie Suchanfragen ins Leere laufen lassen.

Aber es geht nicht nur um Daten; es geht um die Seele der Nation. Die Regierung versucht aktiv, eine „glorifizierte narrative“ Geschichte durchzusetzen, die dem „weißen, männlichen Gesellschaftsnarrativ“ entspricht. In Florida werden Schulbücher umgeschrieben, um die Sklaverei zu verharmlosen, indem Versklavte als „Schwarze Immigranten“ bezeichnet werden. In Texas wurde angeregt, Bücher über den Holocaust mit Texten von Leugnern „auszubalancieren“.

Die Ausradierung ist sowohl digital als auch physisch. Das Erbe der Tuskegee Airmen – schwarze Kampfpiloten, die gegen Hitler kämpften – wurde kurzzeitig aus dem militärhistorischen Unterricht gestrichen. Der Name des LGBTQ-Aktivisten Harvey Milk wurde von einem Navy-Schiff entfernt. Und in Washington wurde der elf Meter große Schriftzug „Black Lives Matter Plaza“ physisch aus dem Boden gerissen. Diese Akte sind mehr als Symbolpolitik. Sie sind eine gezielte Strategie, um marginalisierte Menschen mundtot zu machen. Ihre Geschichte, ihre Kämpfe, ihre schiere Existenz – all das soll aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt werden. Es ist die Durchsetzung einer Realität, in der die Umbenennung des „Golf von Mexiko“ in „Golf von Amerika“ wichtiger ist als die historische Tatsache der Sklaverei.

Mehr als Chaos: Die Ideologen hinter dem Thron

Es wäre ein Fehler, diese Vorgänge als das erratische Chaos eines einzelnen Mannes abzutun. Was wir erleben, ist die Umsetzung eines Plans, der von einem Netzwerk aus Intellektuellen und Denkfabriken getragen wird. Trumps Brachialität wird von Akteuren wie dem Claremont Institute intellektuell veredelt und als notwendige „konservative Revolution“ zur Rettung Amerikas legitimiert.

Diese „Claremonsters“ sehen Trump als „Abräumer“, als Werkzeug, um das System zu stürzen. Sie liefern die Rechtfertigung für den Umsturz. Es ist kein Zufall, dass Trumps Vizepräsident, J. D. Vance, enge Verbindungen zu diesen Kreisen pflegt.

Noch weiter geht der neoreaktionäre Denker Curtis Yarvin, der von Hardlinern wie Vance und Blake Masters bewundert wird. Yarvin fordert offen die Schaffung eines „vollwertigen Wahrheitsministeriums“, um die Deutungshoheit über die Realität zu erlangen. Das ist die „Putinisierung Amerikas“ – die Umwandlung einer Demokratie in eine Autokratie, theoretisch untermauert von Intellektuellen, die den autoritären Staat herbeisehnen.

In diesem Ökosystem der Machtkontrolle spielt auch Elon Musk eine entscheidende Rolle. Er agiert als privater Akteur, der staatliche Methoden perfektioniert. Musk, der Empathie als „grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation“ bezeichnet, dreht Bundesbehörden den Geldhahn zu und nutzt seine Plattformen, um eine Atmosphäre der Einschüchterung zu schaffen, die jener der Regierung gleicht. Er ist der Beweis, dass dieser autoritäre Impuls längst nicht mehr auf den Staat beschränkt ist, sondern ein Bündnis aus politischer, ökonomischer und technologischer Macht schmiedet.

„Orwellsch“ als Waffe: Die Verkehrung der Kritik

Das vielleicht raffinierteste Manöver in diesem Kampf um die Realität ist die Kaperung des Orwell-Begriffs durch die Täter selbst. Die Fähigkeit zum „Doppeldenk“ – zwei widersprüchliche Wahrheiten gleichzeitig zu glauben und zu vertreten – wird zur politischen Hochkultur entwickelt.

Während die Administration „1984“ in Echtzeit implementiert, nutzen ihre Verteidiger den Begriff „orwellsch“ als Waffe gegen ihre Kritiker. Vizepräsident J. D. Vance geißelte europäische Bemühungen, rechtsextreme Rede einzudämmen, als „orwellsch“. Konservative Kommentatoren sehen die wahre Dystopie nicht in den Wortverboten der Regierung, sondern in der „Woke-Kultur“ an Universitäten. Die Realität wird auf den Kopf gestellt: Die Zensoren inszenieren sich als Verteidiger der Redefreiheit.

Wie brüchig dieser Anspruch ist, zeigte sich nach der tragischen Ermordung des konservativen Kommentators Charlie Kirk. Plötzlich verschob sich die Debatte vom Schutz der „freien Meinungsäußerung“ (Free Speech) zum Schutz der „wahren Meinungsäußerung“ (True Speech). Trumps Justizministerin Pam Bondi drohte, „Hassrede“ zu verfolgen, und Außenminister Rubio kündigte an, Personen, die Kirks Tod feierten, die Visa zu entziehen.

Gleichzeitig geraten die Medien, von Trump als „Volksfeinde“ bezeichnet, ins Kreuzfeuer. Die Associated Press (AP) wurde von Pressekonferenzen ausgeschlossen, weil sie sich weigerte, den „Golf von Amerika“ zu verwenden. Private Unternehmen wie ABC sahen sich gezwungen, Moderatoren wie Jimmy Kimmel zu suspendieren – nicht weil er eine Grenze überschritten hätte, sondern aus Angst vor „Vergeltungsmaßnahmen der Trump-Regierung“. Das ist die moderne Form des „Zwei-Minuten-Hasses“. Die Angriffe auf die Medien und die Nutzung sozialer Medien als direkter Kanal zum Volk schaffen einen alternativen Informationskreislauf, der die Realität nicht mehr abbildet, sondern diktiert.

Jenseits der Fiktion: Warum 2025 seltsamer ist als 1984

Wo also stehen wir? Lebt Amerika in „1984“? Nein. Zumindest noch nicht. Der entscheidende Unterschied, den Kritiker anmerken, ist die Existenz einer (wenn auch belagerten) Gewaltenteilung und einer (wenn auch eingeschüchterten) freien Presse. In Orwells Ozeanien war der Sieg des Systems total; die Partei war unfehlbar. Im Amerika des Jahres 2025 ist es ein offener, tobender Kampf.

Doch die Realität ist in gewisser Weise „seltsamer“ als Orwells Fiktion. In „1984“ wussten die Agenten der Partei, dass sie logen. Sie handelten zynisch, um ihre Macht zu erhalten. In der heutigen Dystopie, so scheint es, glauben die Akteure an ihre eigenen „alternativen Fakten“. Die Lüge wird nicht nur verbreitet, sie wird internalisiert.

Die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft bröckelt sichtbar. Wenn Konzerne wie T-Mobile Diversitätsprogramme einstellen, um einer US-Kontrollbehörde zu gefallen, und Universitäten sich dem Druck beugen, kollabiert die zivile Verteidigungslinie.

Dieser Kampf wird auch durch die Widersprüche der Kritiker selbst geschwächt. Es wird beobachtet, dass einige, die Trumps Zensur lautstark verurteilen, die Unterdrückung von propalästinensischen Aktivisten – wie im Fall Mahmoud Khalil – mit dem Argument der „Sicherheit“ rechtfertigen. Diese Inkohärenz macht es der Gegenseite leicht, den Vorwurf der Heuchelei zu erheben.

Die „Putinisierung Amerikas“ ist keine ferne Gefahr mehr. Sie ist ein akutes Risiko für die globale Stabilität, besonders wenn wissenschaftliche Daten, etwa zur Klimaforschung, nicht mehr als objektive Wahrheit, sondern als politisch „aktualisierbares“ Material behandelt werden.

George Orwell warnte vor einer Welt, in der die Partei verkündet, dass 2+2=5 ist. Wir leben in einer gefährlicheren Welt. Wir leben in einer Welt, in der die Regierung argumentiert, dass die Frage, was 2+2 ergibt, eine Frage der politischen Meinung ist – und dass alle, die auf „4“ bestehen, Volksfeinde sind.

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