Die 100.000-Dollar-Falle: Warum Amerikas „billige“ Krankenversicherungen den Ruin bedeuten

Illustration: KI-generiert

Es ist ein Moment, der das Leben in zwei Hälften teilt: die Zeit davor und die Zeit danach. Für den einen ist es ein plötzliches Zwicken im Nacken beim Gewichtheben. Für einen anderen der eilige Schritt, der ein Knie ruiniert. Und für einen Dritten ist es die routinemäßige Darmspiegelung, die man als verantwortungsbewusster Bürger durchführen lässt.

Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie glaubten, krankenversichert zu sein. Sie zahlten monatlich ihre Prämien für Policen, die ihnen als clevere, kostengünstige Alternative zu „Obamacare“ verkauft worden waren.

Dann kam die Zeit danach. Es war nicht nur die Diagnose oder der Schmerz der Operation. Es war der Briefumschlag, der die eigentliche Katastrophe enthielt. Plötzlich stehen Rechnungen über 116.000 Dollar für eine Nacken-OP im Raum. Oder über 100.000 Dollar für einen Knieersatz. Selbst ein vermeintlicher Routineeingriff wie eine Darmspiegelung hinterlässt plötzlich eine Rechnung über 7.000 Dollar.

Sie waren in die große amerikanische Gesundheitsfalle getappt: die „Short-Term, Limited-Duration“ (STLD) Insurance. Diese Policen sind das Zentrum eines erbitterten politischen Krieges und einer Marketing-Illusion, die den Unterschied zwischen „eine Prämie zahlen“ und „versichert sein“ auf brutalstmögliche Weise offenbart. Sie sind keine echte Alternative zur umfassenden Versicherung, sondern ein dereguliertes Minenfeld für Millionen ahnungsloser Verbraucher.

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Ein politisches Pendel: Wie „Ramsch-Policen“ zum Spielball wurden

Um das finanzielle Wrack zu verstehen, vor dem zahllose Versicherte stehen, muss man die politische Achterbahnfahrt dieser Policen betrachten. STLD-Pläne waren ursprünglich genau das, was ihr Name verspricht: eine kurzfristige Überbrückung. Wer zwischen zwei Jobs stand oder auf den Beginn einer neuen Versicherung wartete, konnte diese Pläne für eine begrenzte Zeit nutzen.

Unter der Obama-Administration, parallel zur Einführung des Affordable Care Act (ACA), wurde ihre Dauer strikt auf maximal drei Monate begrenzt. Der Grund war klar: Sie sollten keine Konkurrenz zum neuen, regulierten Markt darstellen. Der ACA definierte erstmals, was eine Krankenversicherung in den USA mindestens leisten muss – ein Korb „essenzieller Gesundheitsleistungen“ (Essential Health Benefits, EHBs) und, was am wichtigsten ist, das Verbot, Menschen aufgrund von Vorerkrankungen abzulehnen oder ihnen mehr zu berechnen.

Dann kam die Trump-Administration und erklärte diese „Ramsch-Policen“, wie Kritiker sie nannten, zur Speerspitze ihrer Deregulierungsagenda. Mit der Begründung, den Amerikanern „Freiheit“ und billigere Optionen zurückzugeben, wurden die Regeln 2018 dramatisch ausgeweitet. Plötzlich konnten STLD-Pläne für bis zu 364 Tage verkauft und auf bis zu drei Jahre verlängert werden. Aus einer Notlösung wurde eine vermeintliche Alternative.

Die Biden-Administration, die den ACA als ihr politisches Erbe verteidigt, schlug zurück. Sie brandmarkte die Pläne als „Junk“ und erließ 2024 neue Regeln, die die Dauer wieder auf maximal drei Monate (plus einen Monat Verlängerung) beschnitten. Doch der Kampf ist nicht vorbei. Mit einer erneuten Trump-Administration am Horizont wurde bereits angekündigt, diese Beschränkungen nicht prioritär durchzusetzen und eine erneute Ausweitung anzustreben. Dieses regulatorische Tauziehen lässt Verbraucher verwirrt im Zentrum eines ideologischen Sturms zurück.

Die Anatomie einer Illusion: Was in den Billig-Policen fehlt

Warum aber sind diese Pläne so viel billiger als eine unsubventionierte ACA-Police? Die Antwort ist brutal einfach: Sie sind billig, weil sie kaum etwas bezahlen. Sie existieren in einem Paralleluniversum ohne die fundamentalen Schutzmechanismen des ACA.

Der erste und wichtigste Unterschied ist das „medizinische Underwriting“. Während ein ACA-Plan jeden Antragsteller annehmen muss (garantierte Ausgabe), darf eine STLD-Police das tun, was Versicherungen vor Obamacare taten: Rosinenpicken. Antragsteller müssen Gesundheitsfragen beantworten. Wer Asthma, Diabetes, Depressionen, Fettleibigkeit oder gar Krebs in der Vorgeschichte hat, wird in der Regel schlicht abgelehnt. Diese Pläne sind nur für die lupenrein Gesunden gedacht.

Der zweite Mechanismus ist der Ausschluss von Vorerkrankungen. Selbst wer angenommen wird, kauft eine tickende Zeitbombe. Die Policen sind so formuliert, dass sie fast alles ablehnen können, was auch nur im Entferntesten mit einem Leiden in Verbindung gebracht werden kann, das vor Vertragsabschluss bestand – selbst wenn es damals noch gar nicht diagnostiziert war. So wird argumentiert, eine Nackenverletzung müsse von einem alten Autounfall stammen, und die Zahlung wird abgelehnt. Oder eine Knie-Operation wird mit der Begründung verweigert, der Patient habe bei Abschluss der neuen Police (nach vielleicht jahrelanger Zahlung) von der Notwendigkeit des Eingriffs gewusst.

Der dritte Faktor sind die massiven Deckungslücken. Eine Analyse der Kaiser Family Foundation (KFF) zeichnet ein düsteres Bild: 40 Prozent der untersuchten STLD-Pläne decken keine psychische Gesundheitsversorgung ab. 48 Prozent zahlen nicht für verschreibungspflichtige Medikamente. Und 98 Prozent – fast alle – schließen eine Mutterschaftsversorgung aus. All dies sind „essenzielle Leistungen“, die jeder ACA-Plan gesetzlich abdecken muss.

Der Preis der Prämie: Warum „billig“ unbezahlbar wird

Die monatliche Prämie ist der Köder. Die finanziellen Details im Kleingedruckten sind die Falle. Verbraucher, die an die Standards von ACA- oder Arbeitgeberplänen gewöhnt sind, übersehen die fatalen Unterschiede bei den Zuzahlungen.

Beginnen wir mit dem Selbstbehalt (Deductible). Während dieser bei ACA-Bronze-Plänen gesetzlich auf etwa 9.200 Dollar pro Jahr gedeckelt ist, fanden Analysten bei STLD-Plänen Selbstbehalte von bis zu 25.000 Dollar.

Noch schlimmer ist die Obergrenze für Zuzahlungen (Out-of-Pocket Maximum, OOP max). Im ACA-System gibt es einen klaren Deckel; erreicht ein Patient diese Grenze (z. B. die 9.200 Dollar), muss die Versicherung für den Rest des Jahres 100 Prozent der Kosten tragen. Dies ist der fundamentale Schutz vor dem Bankrott. Bei vielen STLD-Plänen existiert dieser Deckel schlicht nicht. Oder er ist astronomisch hoch.

Stattdessen haben viele Pläne ein „Benefit Limit“ – eine Obergrenze dessen, was die Versicherung insgesamt zahlt. Diese Grenze kann bei nur 100.000 Dollar liegen. Für einen Patienten mit einer schweren Diagnose wie Krebs oder einem komplizierten Eingriff ist diese Summe oft schon nach der ersten Behandlung aufgebraucht. Eine einzige Knieoperation kann bereits Kosten von über 100.000 Dollar verursachen.

Dieses Geschäftsmodell ist so konzipiert, dass es selbst in der Preisgestaltung Praktiken aus einer vergangenen Ära wiederbelebt. Während der ACA es verbietet, Frauen mehr zu berechnen, ist dies bei STLD-Plänen gängige Praxis. Analysen zeigen, dass Frauen für dieselbe Police oft 6 bis 19 Prozent mehr zahlen als Männer.

Warum wird ein solches Produkt überhaupt verkauft? Weil es lukrativ ist. Berichte deuten darauf hin, dass Versicherungsmakler für den Verkauf von STLD-Plänen teils deutlich höhere Provisionen erhalten als für ACA-konforme Pläne. Dieser Anreiz kann zu irreführendem Marketing führen, das den Plänen den Anstrich einer vollwertigen Versicherung gibt. Selbst in der Branche war man sich des Risikos bewusst: Während UnitedHealth 2018 auf eine schnelle Genehmigung der Trump-Erweiterung drängte, warnten Konkurrenten wie Cigna und Aetna, dass Verbraucher mit den lückenhaften Plänen auf der Strecke bleiben würden.

Das kranke System: Wie Billig-Policen den gesamten Markt infizieren

Das Problem dieser Policen endet nicht beim individuellen Bankrott. Es bedroht das Fundament des gesamten amerikanischen Krankenversicherungssystems.

Das ACA-Modell basiert auf einem Solidaritätsprinzip: Gesunde und Kranke sind im selben Risikopool. Die Prämien der Gesunden helfen, die Kosten der Kranken zu tragen. STLD-Pläne tun das genaue Gegenteil. Sie sind explizit darauf ausgelegt, nur die Gesunden aus dem ACA-Markt herauszufiltern und in einen separaten, unregulierten Pool zu locken.

Dieser Prozess wird als „Adverse Selection“ (Negativauslese) bezeichnet. Wenn die gesunden, jungen und kostengünstigen Mitglieder den ACA-Markt verlassen, bleiben dort überproportional die älteren, kränkeren und teureren Patienten zurück. Die zwangsläufige Folge: Die Prämien im ACA-Markt müssen steigen, um die höheren Kosten zu decken. Die „billige“ Alternative für die einen macht damit die „echte“ Versicherung für alle anderen teurer.

Dieser „Wilde Westen“ der Versicherungsprodukte ist nicht überall gleich. Aus gutem Grund haben einige Bundesstaaten wie Kalifornien, New York und Illinois den Verkauf von STLD-Plänen komplett verboten. Neun weitere Staaten regulieren sie so streng, dass sie de facto nicht verfügbar sind. Dies schafft einen Flickenteppich an Verbraucherschutz, bei dem der Wohnort darüber entscheidet, ob man in eine solche Falle tappen kann.

Für Verbraucher, die wirklich nur eine günstige, aber regulierte Option suchen, gäbe es theoretisch die „katastrophalen“ Gesundheitspläne (Catastrophic Health Plans). Diese sind, anders als STLDs, ACA-konform. Sie decken alle essenziellen Leistungen ab und verbieten den Ausschluss von Vorerkrankungen. Sie haben zwar extrem hohe Selbstbehalte, aber sie bieten den entscheidenden Schutz: eine klare Zuzahlungsobergrenze und keine versteckten Leistungsausschlüsse. Sie sind ein regulierter Schutzwall, keine Lotterie.

Die offene Wunde

Wie kann es sein, dass so viele Verbraucher den fundamentalen Unterschied zwischen einer STLD-Police und einer echten Versicherung nicht erkennen? Die Antwort ist, dass die Verwirrung gewollt ist. Die Pläne werden mit denselben Begriffen vermarktet – „Prämie“, „Selbstbehalt“, „Versicherung“ – doch die Bedeutung ist eine völlig andere.

Für unzählige Versicherte ist die Lektion zu spät gekommen. Sie dachten, sie hätten eine rationale, finanzielle Entscheidung getroffen. Stattdessen hatten sie unwissentlich ein Lotterielos gekauft, bei dem sie nur verlieren konnten.

Eine bessere Aufklärung und klarere Warnhinweise sind ein Ansatz, aber sie adressieren nicht das Kernproblem. Wenn ein Produkt, das wie eine Versicherung aussieht und als Versicherung verkauft wird, im Ernstfall aber nicht wie eine Versicherung funktioniert, dann liegt das Problem nicht nur beim Marketing. Es liegt beim Produkt selbst.

Die Debatte um STLD-Pläne ist mehr als ein technischer Streit über Paragrafen. Es ist eine Auseinandersetzung über die Seele des amerikanischen Gesundheitssystems: Geht es um „Freiheit“, selbst wenn diese die Freiheit zum finanziellen Ruin bedeutet? Oder geht es um „Schutz“, selbst wenn dieser Schutz einen Preis hat? Für die Millionen, die derzeit eine dieser Policen besitzen, oft ohne es zu wissen, tickt die Uhr.

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