Der Zermürbungskrieg: Warum der Kampf um die Ukraine längst nicht mehr nur in Pokrowsk entschieden wird

Illustration: KI-generiert

Dies ist nicht länger nur ein Krieg. Es ist ein alles verschlingender Zermürbungskampf, eine brutale Synthese aus dem Grabenkrieg des 20. Jahrhunderts und der dezentralisierten, unbemannten High-Tech-Kriegführung des 21. Jahrhunderts. Während sich die Welt auf die blutigen Häuserkämpfe in der Industriestadt Pokrowsk konzentriert, hat sich der Konflikt längst in ein vielschichtiges Ringen auf drei Ebenen verwandelt: ein physischer Kampf um Territorium, ein technologischer Wettlauf um die Lufthoheit durch Drohnen und ein psychologischer Krieg, der auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Resilienz der Zivilbevölkerung abzielt.

Die Schlacht um Pokrowsk ist dabei nur das sichtbarste Symptom einer viel größeren Auseinandersetzung. Was wir sehen, ist eine ukrainische Armee, die in einem verzweifelten Spagat zwischen dem Halten von Linien und einem akuten Mangel an Menschenleben gefangen ist. Demgegenüber steht eine russische Kriegsmaschinerie, die sich als erschreckend anpassungsfähig erweist, westliche Sanktionen überbrückt und ihre gesamte Wirtschaft auf einen langen, zermürbenden Konflikt ausrichtet.

Der wahre Ausgang dieses Krieges wird nicht allein durch Panzer oder Artillerie entschieden. Er wird entschieden durch die Innovationsfähigkeit Kiews, die Leidensfähigkeit seiner Bevölkerung und die Stabilität einer globalen Ordnung, die von Moskau aus gezielt destabilisiert wird – von den Gaskraftwerken der Ukraine bis in die politischen Korridore von Kasachstan und Armenien.

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Pokrowsk: Die Anatomie einer urbanen Schlacht

Der Kampf um Pokrowsk ist ein Mikrokosmos der aktuellen Kriegsphase. Russlands Taktik hat sich von den schwerfälligen Panzersäulen der ersten Kriegsmonate zu einer Art flüssiger Infiltration gewandelt. Statt breiter Frontalangriffe sickern kleine, flexible Infanteriegruppen – oft nur 200 bis 300 Mann stark – in die Stadt ein. Sie nutzen Lücken in den ukrainischen Linien, die durch den Mangel an Soldaten zwangsläufig entstehen. Einige dringen Berichten zufolge sogar als Zivilisten getarnt ein, was die Unterscheidung zwischen Freund und Feind in den südlichen Stadtteilen fast unmöglich macht.

Diese Taktik ist zwar verlustreich, aber sie ist unter den Bedingungen des modernen Drohnenkrieges die einzige, die noch funktioniert. Sie zielt auf die größte Schwachstelle der Ukraine: den Mangel an Infanterie. Für die ukrainische Führung entsteht daraus ein fatales Dilemma. Der Verlust von Pokrowsk wäre strategisch katastrophal. Er würde nicht nur eine wichtige Industriestadt und einen Verkehrsknotenpunkt an Russland übergeben, sondern könnte auch die Versorgungswege für jene Truppen abschneiden, die noch vor der Stadt stehen. Ein Fall von Pokrowsk könnte eine Kettenreaktion auslösen und Russlands Weg zu den Großstädten Kramatorsk und Slowjansk ebnen, was dem Kreml seinem Ziel, den gesamten Donbass zu kontrollieren, gefährlich nahe brächte.

Doch der politische Wille, die Stadt um jeden Preis zu halten, kollidiert brutal mit der militärischen Realität. Militärexperten warnen, dass die enormen Verluste, die zur Verteidigung von Pokrowsk in Kauf genommen werden, in keinem Verhältnis mehr zum taktischen Wert der Stadt stehen. Diese Zwickmühle nährt die Kritik an der Armeeführung unter Oleksandr Syrsky. Es ist ein unheilvolles Echo vergangener Tragödien: Kritiker werfen ihm vor, ähnlich wie in Bachmut oder Awdijiwka, zu spät auf drohende Einkesselungen zu reagieren und den Rückzugsbefehl erst zu erteilen, wenn die Verluste bereits untragbar hoch sind. Während die offizielle Kommunikation „Halten“ lautet, warnen nationalistische Aktivisten und ehemalige Regierungsvertreter eindringlich davor, dass ohne einen rechtzeitigen Rückzug bald die „Löcher in der Front nicht mehr gestopft werden können“.

Das Ende der „Golden Hour“: Wie Drohnen die Kriegslogik neu schreiben

Weit über die Schützengräben von Pokrowsk hinaus hat sich eine technologische Revolution vollzogen, die das Antlitz des Krieges fundamental verändert hat. Der Himmel über der Ukraine ist ein permanentes, transparentes Schlachtfeld geworden, überwacht von Tausenden von Drohnenaugen. Diese Allgegenwart unbemannter Systeme hat eine der wichtigsten Doktrinen der modernen Militärmedizin pulverisiert: die „Golden Hour“. Das Zeitfenster von 60 Minuten, um einen schwer verwundeten Soldaten in eine umfassende medizinische Versorgung zu bringen, existiert faktisch nicht mehr. Evakuierungen bei Tageslicht sind in vielen Frontabschnitten unmöglich geworden; die Wartezeiten für Verwundete erstrecken sich oft über Tage.

Schlimmer noch: Die Kriegslogik hat sich pervertiert. Russische Drohnenteams machen gezielt Jagd auf Sanitäter und Evakuierungsteams, die nach den Genfer Konventionen eigentlich geschützt sein müssten. Ein verwundeter Soldat ist kein geschütztes Opfer mehr, sondern ein Köder, um medizinisches Personal in eine tödliche Falle zu locken.

Diese Praxis hat tiefgreifende psychologische und ethische Folgen. Sie zwingt Soldaten, ihre Kameraden blutend in Bunkern zurückzulassen, und untergräbt das Grundvertrauen in die Rettungskette. Gleichzeitig zwingt diese barbarische Realität die Ukraine zu radikalen Innovationen. Als Antwort auf die Bedrohung aus der Luft entwickelt die 13. Khartia-Brigade nun unbemannte Bodenfahrzeuge (UGVs). Diese robusten, ferngesteuerten Vehikel, die Namen wie „Zmiy“ (Schlange) tragen, werden zu einer neuen Lebensader. Sie transportieren Vorräte an die vorderste Linie und, auf dem Rückweg, Verwundete aus der Todeszone – eine gespenstische, aber oft die einzige Chance auf Überleben in einem Krieg, der keine menschlichen Retter mehr zulässt.

Der Drohnenkrieg eskaliert jedoch nicht nur an der Front. Die Ukraine setzt ihre technologische Asymmetrie mittlerweile ein, um den Krieg tief ins russische Hinterland zu tragen. Mit spektakulären Langstreckenschlägen auf russische Ölraffinerien und Treibstoffpipelines versucht Kiew, die Logistik der russischen Armee zu treffen und die Einnahmen des Kremls zu schmälern. Es ist ein kalkuliertes Risiko: Die militärische Effektivität dieser Nadelstiche wird abgewogen gegen die Gefahr einer weiteren, unkontrollierten Eskalation durch einen verwundeten Aggressor.

Russlands Antwort darauf ist brutal und systematisch. Ein neuer UN-Bericht beschreibt die russischen Drohnenangriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine nicht als militärische Kollateralschäden, sondern als gezielte Strategie. Das Ziel ist die Erzeugung eines „ständigen Klimas des Terrors“. Durch die systematische Zerstörung von Kraftwerken, Krankenhäusern, Geschäften und sogar Krankenwagen soll die lokale Bevölkerung zur Flucht gezwungen werden. Es ist eine Kampagne der Entvölkerung durch unerträgliche Lebensbedingungen.

Kälte, Dunkelheit und der Mangel an Menschen: Die Zerreißprobe für die Ukraine

Während die Frontsoldaten im Drohnenfeuer kämpfen, kämpft die ukrainische Gesellschaft an einer anderen, unsichtbaren Front: der gegen den Mangel. Der Mangel an Strom, der Mangel an Wärme und vor allem der Mangel an Menschen. Der akute Personalmangel in der Armee ist die vielleicht größte strategische Bedrohung für die Ukraine. Die anfängliche Welle der freiwilligen Begeisterung ist nach Jahren des zermürbenden Krieges einer weit verbreiteten „Draft Avoidance“ gewichen – der Angst vor einer Einberufung, die als „One-Way-Ticket“ an die Front ohne absehbares Ende gesehen wird.

Um dieser existentiellen Krise zu begegnen, hat die Regierung eine umfassende Militärreform eingeleitet. Sie will weg von der unbefristeten Mobilisierung hin zu fixen Zeitverträgen von ein bis fünf Jahren. Die Hoffnung ist, dass Berechenbarkeit und finanzielle Anreize die Rekrutierung wiederbeleben können. Doch die Hürden sind immens. Es ist völlig unklar, wie dieses Modell auf jene Soldaten angewendet werden soll, die bereits seit Jahren ohne Pause im Dienst sind. Viele Analysten bezweifeln, dass dies ausreicht, um das massive personelle Ungleichgewicht gegenüber Russland auszugleichen.

Gleichzeitig bereitet sich die Zivilbevölkerung auf einen Winter vor, der alle bisherigen zu übertreffen droht. Die russische Angriffsstrategie hat sich verfeinert. Gezielt werden nun Gasanlagen attackiert, um die Heizungen kalt zu lassen. Zudem nutzt Russland „Doppelschläge“: Nach einem ersten Angriff auf ein Kraftwerk wird abgewartet, bis die Reparaturteams eintreffen, um diese dann gezielt mit einer zweiten Drohnenwelle zu töten. Die frisch gelieferten Patriot-Systeme aus Deutschland sind zwar ein Segen, aber sie können diese neue, dezentrale und heimtückische Bedrohung kaum flächendeckend abwehren.

Die psychologischen Folgen sind verheerend. Die ständigen Stromausfälle, die Kälte in den Wohnungen und die allgegenwärtige Angst zermürben die Gesellschaft. Freunde berichten von Panikattacken und Schlafstörungen; die Gesellschaft, deren Widerstandswille im Westen so oft bewundert wird, zeigt Risse. Es ist ein stiller, psychologischer Kipppunkt, auf den Moskau hinarbeitet: der Moment, in dem die Resilienz der Zivilisten bricht, noch bevor die der Soldaten es tut.

Putins teflon-gleiche Kriegsökonomie: Warum die Sanktionen verpuffen

Die größte Asymmetrie dieses Krieges liegt jedoch im Hinterland. Während die Ukraine um ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Überleben ringt, hat Russland seine Wirtschaft in eine formidable Festung verwandelt.

Der Westen setzte auf einen schnellen ökonomischen Kollaps, doch diese Hoffnung erweist sich als trügerisch. Wie der exilrussische Ökonom Dmitri Nekrasow analysiert, hat Wladimir Putin den Krieg aus wirtschaftlichen Gründen noch lange nicht verloren. Im Gegenteil: Russlands Wirtschaft hat noch erheblichen Spielraum.

Die russische Zentralbank nutzt Instrumente wie extrem hohe Leitzinsen von bis zu 21 Prozent, um die zivile Wirtschaft gezielt abzukühlen. Dies macht Investitionen für alle teuer, die nicht für den Staat arbeiten, und setzt so Arbeitskräfte und Ressourcen frei, die direkt in die Rüstungsindustrie umverteilt werden.

Die westlichen Sanktionen erweisen sich dabei als stumpfes Schwert. Konsumsanktionen – das Verbot von Luxusgütern oder Schokolade – waren von Anfang an wirkungslos und eher eine moralische Geste. Auch Industriegütersanktionen werden über Drittländer wie China massiv umgangen.

Wirksam, so die Analyse, sind allein die Finanzsanktionen. Der Ausschluss aus dem Swift-System, der Verlust der im Westen gelagerten Währungsreserven und die Unfähigkeit, Anleihen auf globalen Märkten zu platzieren – das sind die Schläge, die Russland Hunderte Milliarden Euro gekostet haben und die den Staat zu hohen Zinsen und Inflation zwingen.

Doch selbst bei den entscheidenden Öleinnahmen findet Moskau Wege. Der G7-Preisdeckel wird durch den Aufbau einer „Schattenflotte“ und den massiven Verkauf von Öl zu Dumpingpreisen an China und Indien umgangen. Was für Russland geringere Einnahmen bedeutet, ist für Indien und China ein Milliardengeschäft.

Nekrasows Fazit ist ernüchternd: Russlands Staatsverschuldung ist mit unter 18 Prozent der Wirtschaftsleistung extrem niedrig. Die Steuerlast liegt weit unter der westeuropäischer Länder. Putin kann die Steuern erhöhen und Schulden aufnehmen, um den Krieg noch Jahre zu finanzieren. Die Sanktionen, so Nekrasow, werden Putin nicht vom Krieg abbringen.

Das globale Schachbrett: Von Pokrowsk nach Washington und darüber hinaus

Dieser Krieg wird längst nicht mehr nur in der Ukraine geführt. Putin, der die Schwäche der Ukraine für einen langen Krieg ausnutzt, erweitert sein Spielfeld. Während die Welt auf die Front im Donbass starrt, zündet Moskau bereits an anderen Stellen der ehemaligen Sowjetunion.

In Kasachstan und Armenien, beides Länder, die sich vorsichtig von Moskau distanzieren, rollt eine Destabilisierungskampagne an. Die Taktiken sind maßgeschneidert: In Kasachstan, mit seiner langen Grenze und großen russischen Diaspora, wird das „Russophobie“-Narrativ befeuert und die territoriale Integrität des Landes infrage gestellt – eine unheimliche Parallele zur Rhetorik vor der Krim-Annexion. In Armenien hingegen nutzt der Kreml prorussische Oligarchen und unzufriedene Kreise innerhalb der Kirche, um die pro-westliche Regierung zu stürzen.

Diese hybriden Angriffe werden von einer neuen, unverhohlenen nuklearen Drohgebärde begleitet. Putins Anordnung, Pläne für eine mögliche Wiederaufnahme von Atomtests vorzubereiten, ist ein direktes und gefährliches Signal. Es ist eine Reaktion auf Äußerungen von Donald Trump, aber vor allem ist es der Versuch, den Einsatz im globalen Nervenkrieg zu erhöhen und den Westen von weiterer Unterstützung abzuschrecken.

In diesem globalen Ringen wird die Haltung der Vereinigten Staaten zum entscheidenden Faktor. Die aktuelle Trump-Administration liefert, anders als die vorherige Biden-Regierung, keine Waffen mehr an die Ukraine. Diese Lücke schafft eine neue, harte Realität auf dem Schlachtfeld und zwingt Europa, seine eigene Verteidigungsstrategie fundamental zu überdenken.

Gleichzeitig offenbart sich ein tiefgreifender Zielkonflikt für Washington. Während die USA die Ukraine unterstützen (oder zumindest verbal unterstützen sollten), konkurrieren sie um strategische Interessen in Zentralasien. Die Region ist nicht nur ein Pufferstaat zu Russland, sondern birgt auch massive Vorkommen an Seltenen Erden, die für die US-Wirtschaft und -Verteidigung essenziell sind. Der „Middle Corridor“, eine Handelsroute, die Russland und den Iran umgeht, ist ebenfalls von vitalem Interesse.

Es ist ein geopolitisches Dilemma: Die USA müssen jene Staaten (wie Kasachstan) stabilisieren und umwerben, die gleichzeitig von Russland, dem Hauptgegner im Ukraine-Krieg, aktiv destabilisiert werden.

Der Krieg um die Ukraine ist zu einem globalen Stresstest geworden. Er wird an den Schlammfronten von Pokrowsk, in den Serverräumen der Finanzsanktionierer, in den kältestarren Wohnungen von Kiew und in den fernen Hauptstädten Washington und Astana ausgefochten. Die Ukraine kämpft heldenhaft und innovativ, aber sie kämpft gegen die Zeit, gegen den Mangel und gegen einen Gegner, der bewiesen hat, dass er bereit ist, den Preis für einen langen Krieg zu zahlen – in Rubeln und in Menschenleben.

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