
Es ist eine Geschichte, die wie eine Parabel auf den Zustand der modernen Weltwirtschaft wirkt: In den idyllischen Tälern des Jura werden „heilige“ Kühe zum Schlachter geführt, während in Washington goldene Uhren den Besitzer wechseln. Der Handelskrieg zwischen den USA und der Schweiz ist mehr als ein Ringen um Zölle – er ist ein Lehrstück über den Preis der Neutralität in einer Ära des transaktionalen Zwangs.
Wenn Boris Beuret über seine Weiden im Schweizer Jura blickt, sieht er eigentlich das Paradies. Sanfte Hügel, sattes Grün und Kühe, die mit ihrer Milch den Rohstoff für das liefern, was man in der Schweiz gerne als das „gelbe Gold“ bezeichnet. Doch in diesem Jahr liegt ein Schatten über dem Idyll. Beuret, Milchbauer und Präsident des Verbands der Schweizer Milchproduzenten, musste eine Entscheidung treffen, die in der Schweiz einem Sakrileg gleichkommt: Er schickte gesunde Milchkühe vorzeitig zum Schlachthof. Es ist eine Notschlachtung, erzwungen nicht durch Seuchen oder Missmanagement, sondern durch ein Dekret aus dem Weißen Haus. Denn Donald Trump hatte entschieden, die Schweiz mit Strafzöllen von 39 Prozent zu belegen.
Diese Szene auf dem Bauernhof ist der brutale Endpunkt einer Kette von Ereignissen, die das Selbstverständnis der Schweiz in ihren Grundfesten erschüttert. Was als handelspolitischer Streit begann, hat sich zu einer Identitätskrise ausgewachsen, in der traditionelles Handwerk auf die harte Realität geopolitischer Erpressung prallt. Die Schweiz, stolz auf ihre Unabhängigkeit, hat zwar eine Senkung der Zölle auf 15 Prozent erreicht – doch der Preis dafür wurde nicht nur in Franken, sondern in Gold, Luxusuhren und vielleicht auch in Würde bezahlt.

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Die Diplomatie der Geschenke: Pragmatismus oder Unterwerfung?
Es mutet an wie eine Szene aus einer vergangenen Epoche, in der Tribute an Herrscher entrichtet wurden, um deren Wohlwollen zu erkaufen. Um den US-Präsidenten von seiner ursprünglichen Forderung abzubringen, reiste eine hochrangige Schweizer Wirtschaftsdelegation nach Washington. Im Gepäck: keine bloßen Argumente oder Dossiers, sondern handfeste Gaben. Dem Dealmaker im Oval Office wurden wertvolle Goldbarren und eine speziell vergoldete Rolex-Tischuhr überreicht.
Die offizielle Lesart der Schweizer Regierung und der beteiligten Wirtschaftsverbände ist die des erfolgreichen Pragmatismus. Man habe sich durch „Fleiß, Fleiß, Fleiß“ ausgezeichnet und den Präsidenten durch „konstruktives Engagement“ überzeugt. Doch diese Rhetorik kann kaum über das Unbehagen hinwegtäuschen, das dieser Vorgang auslöst. Kritiker sehen in dieser „Charmeoffensive“ eine schamlose Unterwerfung, einen Kotau vor einer Weltmacht, der signalisiert: Wir sind käuflich, wir sind erpressbar.
Das ethische Spannungsfeld ist gewaltig. Die Schweiz, die ihre Neutralität stets wie eine Monstranz vor sich hergetragen hat, begibt sich hier in eine gefährliche Asymmetrie. Wenn politische und wirtschaftliche Eliten suggerieren, dass Geschenke – böse Zungen könnten von legalisierten Schmiergeldern sprechen – wieder ein legitimes Mittel der Außenpolitik sind, verschieben sich die moralischen Koordinaten. Es ist ein fatales Signal in einer Zeit, in der Korruption und Günstlingswirtschaft eigentlich bekämpft werden sollten. Die Schweiz hat vielleicht ihre Zölle gesenkt, aber sie hat dafür mit einer Währung bezahlt, deren Kursverlust schwerer wiegt als der des Frankens: ihrem Ruf als prinzipientreuer Akteur auf der Weltbühne.
Ein ökonomischer Tsunami: Warum 39 Prozent?
Dass ausgerechnet die kleine Schweiz ins Fadenkreuz der US-Handelspolitik geriet und mit einem der weltweit höchsten Zollsätze bedroht wurde – höher als jene für die meisten anderen Nationen –, war kein Zufall. Es war die Quittung für den eigenen Erfolg. Der massive Handelsüberschuss der Schweiz mit den USA war dem Präsidenten ein Dorn im Auge. Ironischerweise sind es vor allem die pharmazeutische Industrie und der Goldhandel, die dieses Volumen aufblähen – Sektoren, die nun teilweise von den Zöllen ausgenommen scheinen oder deren Margen groß genug sind, um den Schock zu absorbieren.
Doch die Axt wurde dort angelegt, wo es emotional und kulturell am meisten schmerzt: bei der Landwirtschaft. Für die Käseindustrie war die Ankündigung von 39 Prozent ein Schock, der die Branche unvorbereitet traf. Im Vergleich dazu kam die Europäische Union mit 15 Prozent glimpflich davon. Dass die Schweiz sich nun auf dieses Niveau „heruntergehandelt“ hat, mag wie ein Sieg wirken, ist aber bei genauerer Betrachtung eine Niederlage. Denn zu den 15 Prozent Zoll gesellen sich weitere Belastungen, die die effektive Hürde für den Export in astronomische Höhen treiben.
Der perfekte Sturm: Währungskrise und Markterosion
René Pernet, ein erfahrener Käser aus Peney-le-Jorat, steht in seinem Reifungskeller, umgeben von tausenden Laiben Gruyère. Doch die Regale weisen Lücken auf. Der Käse, den er produziert, ist ein „Seismograf der Weltlage“. Pernet und seine Kollegen kämpfen an mehreren Fronten gleichzeitig. Neben den Zöllen macht ihnen der starke Schweizer Franken zu schaffen. Der Wechselkurs zum Dollar ist eingebrochen, was Schweizer Produkte in den USA automatisch massiv verteuert.
Die Situation ist paradox: Ein Käse wie der Gruyère AOP, der in der Herstellung strengsten Qualitätsvorgaben unterliegt und keine Zusatzstoffe enthalten darf, wird in den USA zum Luxusgut, das sich immer weniger Menschen leisten können oder wollen. Ein Pfund Käse, das früher 15 Dollar kostete, könnte nun bis zu 70 Dollar kosten. Das ist keine bloße Preiserhöhung mehr; das ist eine Verdrängung aus dem Markt.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Begriff „Gruyère“ in den USA seinen rechtlichen Schutz verloren hat. Ein amerikanisches Gericht entschied, dass es sich um einen Gattungsbegriff handelt. Das bedeutet, dass jeder Käseproduzent in den USA sein Produkt „Gruyère“ nennen darf, unabhängig von Herkunft oder Qualität. Für die Schweizer Originalhersteller ist das eine Katastrophe. Sie versuchen, sich über Qualität, Geschichte und das AOP-Siegel („Appellation d’Origine Protégée“) zu differenzieren. Doch wenn der Konsument im Supermarktregal die Wahl hat zwischen einem billigen amerikanischen Imitat und einem durch Zölle und Währungskurs extrem verteuerten Original, wird die Luft für das Schweizer Traditionsprodukt dünn.
Die „heiligen Kühe“ und die Logik des Marktes
Die Auswirkungen dieser abstrakten Zahlen erreichen den Boden der Tatsachen auf den Höfen wie jenem von Boris Beuret. In der Schweiz ist die Kuh fast ein heiliges Tier. Sie prägt die Landschaft, die Folklore und das nationale Selbstbild. Dass nun Bauern gezwungen sind, ihre Bestände zu dezimieren, weil der Absatz in den USA wegbricht, sendet Schockwellen durch das Land.
Das Jahr 2025 war eigentlich ein gutes Jahr für die Landwirtschaft. Viel Regen und gutes Wetter sorgten für sattes Gras und eine Rekordmenge an Milch. In normalen Zeiten wäre dieser Überschuss zu Milchpulver oder Butter verarbeitet worden. Doch Donald Trumps Zölle brachten das Fass zum Überlaufen. Die Branchenorganisationen empfahlen, die Produktion zu drosseln, was in der harten Realität der Milchwirtschaft bedeutet: weniger Tiere.
Es ist eine bittere Ironie, dass die strengen Pflichtenhefte der AOP-Produktion, die eigentlich die Qualität sichern sollen, nun zur Falle werden. Ein Gruyère-Produzent wie René Pernet kann nicht einfach auf die Herstellung von Mozzarella oder Billigkäse umschwenken. Er ist an sein Produkt, an seine Region und an die Tradition gebunden. Diese Starrheit, sonst ein Garant für Exzellenz, macht die Branche anfällig für externe Schocks. Die großen Konzerne wie Emmi können zwar leichter ausweichen, da sie einen Großteil ihrer Produkte bereits lokal in den USA herstellen, doch für die kleinen, handwerklichen Betriebe geht es um die Existenz.
Strategische Unsicherheit und der Blick nach vorn
Die US-Importeure reagieren auf dieses Chaos mit einer abwartenden Haltung, dem sogenannten „Wait-and-see“. Niemand füllt seine Lager, wenn nicht klar ist, wie sich die Preise entwickeln. Diese Unsicherheit ist Gift für ein Produkt, das monatelang reifen muss. Man kann die Produktion von Gruyère nicht wie einen Lichtschalter an- und ausknipsen.
Die Schweizer Käseindustrie versucht nun verzweifelt, neue Wege zu gehen. Man will diversifizieren, weg von der Abhängigkeit eines einzelnen Marktes. Doch die Alternativen sind rar. China hat keine Käse-Tradition, und der russische Markt ist seit dem Krieg in der Ukraine faktisch tot. Bleibt Europa, doch dort ist der Markt gesättigt und der Wettbewerb hart. Also setzt man auf Marketing: Man versucht, jüngere Zielgruppen mit milderen Käsesorten anzusprechen, um den strukturellen Nachfragerückgang zu kompensieren. Man stilisiert den Gruyère zum „neuen Gold der Schweiz“ – ein fast zynischer Verweis auf die Goldbarren, die den Weg für die Zollsenkung ebneten.
Fazit: Der Preis der Abhängigkeit
Was bleibt von diesem Drama, wenn der Rauch der diplomatischen Scharmützel verflogen ist? Die Schweiz hat gelernt, wie verletzlich sie ist. Die Episode zeigt, dass wirtschaftlicher Erfolg und historische Neutralität kein Schutzschild gegen die Launen einer protektionistischen Weltmacht sind. Die „Geschenk-Diplomatie“ mag kurzfristig Schlimmeres verhindert haben, doch sie hat einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Sie suggeriert, dass Prinzipien verhandelbar sind, wenn der Preis stimmt – oder der Druck groß genug ist.
Die Kühe im Jura, die nun früher als nötig ihren Weg zum Schlachthof antreten müssen, sind die stummen Zeugen dieser neuen Realität. Sie sind die Kollateralschäden eines Handelskrieges, in dem ein kleines Land versucht, seine Haut zu retten, indem es seine Seele ein stückweit verkauft. Der Gruyère wird wohl weiterhin in den Regalen der amerikanischen Feinkostläden liegen, teurer und exklusiver denn je. Doch er wird einen bitteren Beigeschmack haben – den Geschmack der Abhängigkeit.


