
Es ist Mitte November 2025 und in der Ukraine herrscht ein bitterer Winter, nicht nur meteorologisch. Während an der Front die russischen Truppen vorrücken und die Zivilbevölkerung unter Angriffen auf das Stromnetz leidet, offenbart ein gewaltiger Skandal im Herzen Kyjiws den moralischen Verfall der politischen Elite. Ein System namens „Schlagbaum“ zeigt, wie der Krieg zum Deckmantel für systematische Bereicherung wurde, und erklärt, warum Präsident Wolodymyr Selenskyj, einst als strahlender Reformer angetreten, nun um sein politisches Überleben kämpft.
Die Anatomie der Gier: Wenn der Schutzwall zur Einnahmequelle wird
Man muss sich die Szenerie vorstellen: Draußen heulen die Sirenen, russische Raketen zerfetzen Transformatoren und Millionen Menschen bangen um Wärme und Licht. Doch in den schallgedichteten Räumen der Macht, in einem unscheinbaren „Backoffice“ in der Kyjiwer Wolodymyrska-Straße, herrscht eine ganz andere Betriebsamkeit. Hier geht es nicht um das Überleben der Nation, sondern um Prozente. Es geht um Bündel von US-Dollar-Noten, teilweise noch originalverschweißt von der Zentralbank, die auf Tischen gestapelt, gezählt und neu verpackt werden. Im Zentrum dieses surrealen Schauspiels steht der staatliche Atomkonzern Energoatom, das Rückgrat der ukrainischen Energieversorgung.

US Politik Deep Dive: Der Podcast mit Alana & Ben
Die Ermittlungen zeichnen das Bild einer kriminellen Organisation, die zynischer kaum sein könnte. Das System, das die Akteure etabliert haben, trägt den bezeichnenden Namen „Schlagbaum“. Der Mechanismus ist von brutaler Einfachheit: Wer als Bauunternehmer den Auftrag erhält, lebenswichtige Schutzvorrichtungen für die Energieinfrastruktur zu errichten, muss zahlen. Zwischen zehn und 15 Prozent der Auftragssumme werden als Tribut gefordert. Verweigert sich ein Unternehmen, senkt sich der metaphorische Schlagbaum: Rechnungen werden nicht beglichen, Zertifizierungen entzogen. In einer Kriegswirtschaft, in der der Staat oft der einzige liquide Auftraggeber ist, kommt dies einem Todesurteil gleich. Besonders perfide ist die Drohung, die Mitarbeiter unwilliger Firmen gezielt zur Armee einziehen zu lassen. Es ist eine Erpressung, die die Wehrhaftigkeit des Landes direkt untergräbt, nur um die Taschen weniger zu füllen. Die Ermittler sprechen von Schmiergeldern in Höhe von bis zu 100 Millionen Euro. Geld, das eigentlich den Schutz vor russischem Terror finanzieren sollte, versickert in dunklen Kanälen.
„Karlsson“ und die Parallelwelt des inneren Zirkels
Was diesen Skandal von den vielen Korruptionsfällen der ukrainischen Geschichte unterscheidet, ist die Nähe zum Präsidenten. Die Spuren führen nicht nur in die Ministerien, sondern in den engsten Kreis um Wolodymyr Selenskyj. Eine Schlüsselfigur ist Timur Minditsch, in den abgehörten Gesprächen oft nur „Karlsson“ genannt – eine fast kindliche Chiffre für einen Mann mit enormem Einfluss. Minditsch ist kein gewöhnlicher Bürokrat; er ist ein Freund des Präsidenten, ein ehemaliger Geschäftspartner aus der Zeit des Fernsehstudios „Kwartal 95“. Seine Rolle symbolisiert die Transformation der ukrainischen Politik in einen „Familienbetrieb“, in dem Loyalität und gemeinsame Vergangenheit wichtiger sind als Kompetenz oder Integrität. Minditsch, der kein offizielles Regierungsamt bekleidet, agiert offenbar als graue Eminenz, die Ministerien steuert und Geldflüsse lenkt.
Die veröffentlichten Abhörprotokolle offenbaren eine hermetisch abgeriegelte Parallelwelt. Während die Durchschnittsbürger an der Front sterben oder in kalten Wohnungen ausharren, diskutieren die Akteure über Luxusurlaube auf den Malediven und den Bau privater Villen-Komplexe mit Namen wie „Dynastie“. Es ist eine Welt voller Codes und Tarnnamen. Da wird aus einer Million eine „Zitrone“, Geldzahlungen nach Russland werden kryptisch als „Dwuschka“ bezeichnet. Diese beiläufige Erwähnung von Transfers in das Land des Aggressors wiegt besonders schwer. Sie deutet darauf hin, dass die alten, korrupten Netzwerke, die einst Moskau in der Ukraine installierte, nicht zerschlagen, sondern lediglich für den eigenen Profit adaptiert wurden. Dass Minditsch, ein wehrpflichtiger Mann, kurz vor dem Zugriff der Behörden ins Ausland fliehen konnte, verstärkt den Verdacht, dass hier nicht nur Einzelne versagt haben, sondern der Staatsapparat selbst Komplizen schützt.
Die Erosion der Institutionen: Ein Angriff auf den Rechtsstaat
Der Fall Energoatom ist kein isoliertes Ereignis, sondern Symptom einer systematischen Aushöhlung des Rechtsstaats. Selenskyj trat 2019 mit dem Versprechen an, das „Urteil“ für das alte System zu sein. Doch im Jahr 2025 zeigt sich ein gegenteiliges Bild. Statt die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden NABU und SAPO zu stärken, unternimmt die Exekutive massive Anstrengungen, diese unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Präsident selbst hat Gesetze vorangetrieben, die die Autonomie dieser Ermittler beschneiden. Mehr noch: Der Inlandsgeheimdienst SBU und das staatliche Ermittlungsbüro (SBI) scheinen zunehmend als politische Waffen instrumentalisiert zu werden, um Kritiker mundtot zu machen und unliebsame Ermittlungen gegen das eigene Lager zu torpedieren. Es ist bezeichnend, dass Antikorruptionsaktivisten wie Witalij Schabunin, die auf diese Missstände hinweisen, selbst ins Visier absurder Strafverfahren geraten.
Die Justizreform stockt und das Verjährungsrecht bleibt ein Schlupfloch für Kriminelle. Bürgerrechtler warnen, dass Dutzende Verfahren gegen korrupte Beamte drohen, ohne Urteil im Sande zu verlaufen, weil Verteidiger Prozesse fast unbegrenzt in die Länge ziehen können. Es entsteht der fatale Eindruck einer Zwei-Klassen-Justiz: eine harte Hand gegen politische Gegner und absolute Straffreiheit für den „Clan“ des Präsidenten. Selbst wenn Minister wie Herman Haluschtschenko oder Switlana Hryntschuk unter öffentlichem Druck zurücktreten müssen, wirkt dies eher wie ein Bauernopfer, um die wirklichen Machtzentren – bis hin zum mächtigen Präsidialamtschef Andrij Jermak – abzuschirmen.
Das internationale Dilemma: Waffenbrüder und Werte
Dieser moralische Verfall in Kyjiw stellt die westlichen Verbündeten vor ein strategisches Dilemma von enormer Tragweite. Die G7-Staaten und die EU sind gefangen in einer Zwickmühle: Sie müssen die Ukraine militärisch stützen, um einen russischen Sieg zu verhindern, wissen aber gleichzeitig, dass ihre Milliardenhilfen in einem Sumpf aus Korruption zu versickern drohen. Bundesaußenminister Johann Wadephul brachte es in Kanada auf den Punkt: Ohne einen entschlossenen Kampf gegen die Korruption verliert die westliche Unterstützung ihre Glaubwürdigkeit.
Doch die bisherige Strategie der „sanften Ermahnung“ ist gescheitert. Die EU war lange zu nachsichtig und zu gewillt, über Reformdefizite hinwegzusehen, um die Kriegsführung nicht zu gefährden. Analysten und die ukrainische Zivilgesellschaft fordern nun einen radikalen Kurswechsel: Finanzhilfen müssen an harte Bedingungen geknüpft werden. Eine zentrale Forderung ist die dauerhafte Einbindung ausländischer Experten mit echtem Vetorecht bei der Auswahl von Richtern und Staatsanwälten. Nur der Blick von außen, so die bittere Erkenntnis, kann die verkrusteten Seilschaften aufbrechen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene Institutionen, die Selenskyj bekämpft – unabhängige Ermittler und ausländische Aufsicht –, die einzige Hoffnung sind, das Vertrauen der Geberländer zu retten.
Selenskyjs politische Dämmerung
Für Wolodymyr Selenskyj persönlich könnte der „Schlagbaum“-Skandal zum Wendepunkt seiner Präsidentschaft werden. Der Mann, der einst als Churchill der Ukraine gefeiert wurde, sieht sich mit einem dramatischen Vertrauensverlust konfrontiert: Nur noch 22 Prozent der Ukrainer vertrauen ihm. Die Diskrepanz zwischen seinen heroischen Reden auf der Weltbühne und der schmutzigen Realität im eigenen Land ist zu groß geworden, um sie mit Rhetorik zu überbrücken. Die Menschen spüren, dass der Krieg nicht für alle gleich ist. Während sie frieren, feiern die Günstlinge des Systems in beschlagnahmten Villen der Janukowytsch-Ära – ein symbolträchtiger Akt, der zeigt, dass sich die Herrschaftsformen zwar ändern, die Privilegien der Macht aber bleiben. Dass der Justizminister Haluschtschenko die Nacht vor der Razzia ausgerechnet in einem solchen Luxusanwesen verbrachte, wirkt wie eine Szene aus einem schlechten Film, ist aber bittere Realität.
Selenskyj steht nun am Scheideweg. Um politisch zu überleben, müsste er mit seinem eigenen Umfeld brechen. Er müsste zulassen, dass die Justiz auch vor seinen engsten Freunden wie Minditsch oder seinem „Vizekönig“ Jermak nicht Halt macht. Doch alle Anzeichen deuten darauf hin, dass er den entgegengesetzten Weg wählt: Abschottung, Kontrolle und der Versuch, die Schuldigen vor dem Gefängnis zu bewahren. Sollte er diesen Kurs beibehalten, droht ihm nicht nur die Wahlniederlage, sondern ein viel vernichtenderes Urteil: das der Geschichte. Er wäre dann nicht der Präsident, der die Ukraine gerettet hat, sondern derjenige, der zuließ, dass sie von innen heraus ausgeplündert wurde, während sie um ihre Existenz kämpfte. Der „Schlagbaum“ ist damit mehr als ein Erpressungssystem im Energiesektor – er ist eine Barriere auf dem Weg der Ukraine in eine europäische, rechtsstaatliche Zukunft.


