Der Pakt: Wie Tucker Carlsons Interview mit Nick Fuentes den Bürgerkrieg in der MAGA-Bewegung entfesselt

Illustration: KI-generiert

Es war mehr als nur ein Interview. Es war ein Brandbeschleuniger, vielleicht sogar ein Dammbruch. Als Tucker Carlson, der wohl mächtigste Resonanzboden der amerikanischen Rechten, den Hitler-bewundernden Antisemiten Nick Fuentes zum Gespräch lud, tat er dies nicht in einem Moment der Stille. Er tat es in einer Phase extremer Anspannung, kurz nach der Ermordung des rechten Influencers Charlie Kirk, die ein spürbares Machtvakuum im jungen, radikalen Flügel der Bewegung hinterlassen hatte. Dieses Gespräch, eine joviale Plauderei unter Gleichgesinnten statt einer kritischen Befragung, war kein Versehen. Es war eine bewusste Provokation, die eine längst schwelende Spaltung innerhalb des Konservatismus in einen offenen Bürgerkrieg verwandelt hat. Es ist ein Kampf um die Seele von MAGA, ein Kampf, in dem die alten Abgrenzungsrituale der Partei spektakulär versagen und die Zukunft der gesamten Bewegung neu verhandelt wird. Die These ist klar: Was wir erleben, ist nicht das Werk eines einzelnen Provokateurs, sondern die logische Konsequenz einer Bewegung, die ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung verloren hat. Während die alte Garde noch um Contenance ringt, hat eine neue Generation, befeuert durch eine veränderte Medienlandschaft, längst entschieden, dass es „keine Feinde rechts“ mehr gibt.

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Die neuen Torwächter: Wie Carlson und Musk den Extremismus rehabilitieren

Wie konnte Nick Fuentes, ein Mann, der jahrelang als „der meistgecancelte Mann Amerikas“ galt und von fast jeder relevanten Plattform verbannt war, zur Zentralfigur dieser nationalen Krise aufsteigen? Die Antwort liegt in einer neuen, digitalisierten Machtarchitektur. Der erste Schritt war technischer Natur: Elon Musks Entscheidung, Fuentes‘ Konto auf der Plattform X (ehemals Twitter) im Mai 2024 wieder freizuschalten. Diese Rehabilitierung gab dem 27-Jährigen eine Reichweite von über einer Million Follower zurück und machte seine radikalen Ansichten – die Vorherrschaft der Weißen, die Bösartigkeit der „organisierten Judenschaft“ – wieder sichtbar. Doch die bloße Plattform reicht nicht für den Sprung in den Diskurs der Eliten. Fuentes brauchte einen mächtigen Verbündeten, einen „Reputations-Wäscher“, und er fand ihn in Tucker Carlson.

Carlson, selbst seit seinem Rauswurf bei Fox News auf einer Art ideologischem Rachefeldzug, nutzt seine immense Podcast-Reichweite, um gezielt jene Figuren zu rehabilitieren, die das alte Establishment ausgestoßen hat: von Alex Jones bis hin zu Holocaust-Leugnern. Sein strategisches Motiv scheint dabei tief in die Geschichte der Bewegung zurückzureichen. Er und seine paleokonservativen Mitstreiter sehen sich in der Tradition von Patrick Buchanan, jenem Berater von Nixon und Reagan, der vor über drei Jahrzehnten wegen antisemitischer Äußerungen von William F. Buckley Jr. aus der Bewegung exkommuniziert wurde. Carlsons Interview mit Fuentes ist auch ein Versuch, diese Scharte auszuwetzen und Buchanans Isolationismus – eine radikale Abkehr von Amerikas globalen Verpflichtungen – wiederzubeleben.

Sein Umgang mit Fuentes war daher nicht der eines kritischen Journalisten, sondern der eines wohlwollenden Mentors. Man war sich einig in der Verachtung für „christlichen Zionismus“, den beide als „Gehirnvirus“ bezeichneten. Die wenigen Rügen Carlsons dienten nicht der Distanzierung, sondern waren strategische Ratschläge: Das ständige Reden über „die Juden“ sei kontraproduktiv, da es „den Neocons helfe“.

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Der institutionelle Kollaps: Die Heritage Foundation und die Kunst des Zurückruderns

Der Schock über diesen Pakt traf das konservative Establishment hart, aber nirgendwo war das Beben so sichtbar wie bei der Heritage Foundation, dem einstigen intellektuellen Rückgrat der Reagan-Revolution und Architekten von „Project 2025“. Deren Präsident, Kevin Roberts, fand sich in einer unmöglichen Zwickmühle wieder. In einer ersten, fast schon panischen Reaktion verteidigte er Carlson vehement in einem Video. Er griff Carlsons Kritiker als „giftige Koalition“ und „Globalisten“ an – ein gängiges Codewort in rechten Kreisen, das oft antisemitisch konnotiert ist. Carlson, so Roberts, sei und bleibe ein „enger Freund“ der Stiftung.

Diese Verteidigung löste eine interne Implosion aus. Hochrangige jüdische Konservative, Spender und langjährige Mitarbeiter waren entsetzt. Der Druck wurde so unerträglich, dass Roberts gezwungen war, eine Kehrtwende hinzulegen. Er entschuldigte sich für sein Video, nannte es einen Fehler und bezeichnete Fuentes nun plötzlich als „böse“.

Doch der Schaden war angerichtet. Der Vorfall legt die tiefe Spaltung und institutionelle Schwäche der gesamten Bewegung offen. Die Denkfabriken, einst die unantastbaren Torwächter der Ideologie, sind zerrissen zwischen ihrer traditionellen, pro-israelischen Spenderbasis und dem neuen, radikalen, isolationistischen Flügel, den Carlson und Fuentes bedienen.

Das gebrochene Tabu: Warum die Buckley-Regel nicht mehr funktioniert

Was wir hier beobachten, ist der Tod des „Buckley-Prinzips“. Es war William F. Buckley Jr., der Gründer der National Review, der die moderne konservative Bewegung einst salonfähig machte, indem er klare rote Linien zog. Er exkommunizierte die paranoide John Birch Society in den 1960er Jahren und später, in den 1990ern, Patrick Buchanan. Buckley verstand, dass eine Bewegung, die regieren will, eine „moralische Hygiene“ braucht – die Fähigkeit, ihre eigenen Extremisten auszugrenzen.

Heute ist diese Linie nicht nur verblasst; sie wurde vorsätzlich ausgelöscht. An ihre Stelle ist eine neue, ungeschriebene Doktrin getreten: „No Enemies To The Right“ (NETTR). In der post-Trump’schen MAGA-Welt gilt der Akt der Abgrenzung selbst als Verrat. Der Versuch, Tabus durchzusetzen oder jemanden für seine Ansichten zu „canceln“ – selbst wenn es sich um Hitler-Verehrung handelt – wird als schlimmeres Vergehen betrachtet als die Ansichten selbst.

Führende Analysten wie Ross Douthat weisen darauf hin, dass die alten Methoden im dezentralisierten Medienzeitalter schlichtweg versagen. Man kann niemanden mehr „verbannen“ oder aus dem Diskurs ausschließen, wenn dieser über Plattformen wie X Millionen erreicht und von den größten Podcastern des Landes hofiert wird. Die bloße Verurteilung verpufft als wirkungslose Geste.

Die Erben im Kreuzfeuer: JD Vance und der „Groyper Squeeze“

In diesem neuen, regellosen Machtspiel ist der designierte Thronfolger, Vizepräsident JD Vance, die vielleicht tragischste Figur. Vance verdankt seinen Aufstieg aus der politischen Bedeutungslosigkeit maßgeblich der Protektion durch Tucker Carlson. Nun, da sein Gönner sich offen mit dem radikalsten Rand verbündet, hängt Vance in den Seilen. Er kann Carlson nicht verurteilen, ohne seine eigene Basis und seinen wichtigsten medialen Verbündeten zu verlieren. Er kann Fuentes aber auch nicht umarmen, ohne sich für jede zukünftige nationale Wahl unmöglich zu machen.

Diese Ambivalenz ist lähmend. Als Vance kürzlich auf antisemitische Textnachrichten von Mitgliedern der Jungen Republikaner angesprochen wurde, tat er dies als harmloses Verhalten ab („was Kinder eben so tun“). Als er bei einer Veranstaltung an der University of Mississippi von einem „Groyper“ – einem Anhänger von Fuentes – wegen seiner Unterstützung Israels konfrontiert wurde, wich er der antisemitischen Prämisse der Frage aus, anstatt sie zu korrigieren. Nick Fuentes spürt diese Schwäche. Er hat bereits den „Groyper Squeeze“ angekündigt: eine koordinierte Kampagne in den frühen Vorwahlstaaten für 2028. Fuentes droht damit, Vance bei jedem Schritt zu verfolgen und ihn so lange zu bedrängen, bis er gezwungen ist, sich entweder offen gegen die „Groypers“ zu stellen (und damit die Basis zu verlieren) oder zu schweigen (und damit als schwach zu gelten).

Dieses Dilemma wird durch das Machtvakuum verschärft, das der Tod von Charlie Kirk hinterlassen hat. Kirk, Gründer von Turning Point USA, war ein erbitterter Feind von Fuentes. Er versuchte jahrelang, seine eigene Organisation vor der Infiltration durch Fuentes‘ „Groypers“ zu schützen. Mit Kirks Ermordung ist dieser mäßigende (wenn auch selbst radikale) Puffer verschwunden. Fuentes sieht seine Chance, Kirks junge, männliche Anhängerschaft nun für sich zu gewinnen.

Die ideologischen Bruchlinien: Gaza, Zionismus und die wahre Bedeutung von „America First“

Der Konflikt ist nicht nur personell, er ist zutiefst ideologisch und wird durch globale Ereignisse befeuert. Der Krieg in Gaza, der nach dem 7. Oktober 2023 begann, wirkt wie ein Katalysator. Er hat nicht nur auf der Linken, sondern auch auf der Rechten eine Welle der Israel-Kritik ausgelöst. Diese Kritik bietet den perfekten Nährboden für Antisemitismus. Die Grenze zwischen legitimer Kritik an der israelischen Kriegsführung und der Dämonisierung der „organisierten Judenschaft“ wird von Akteuren wie Fuentes und Carlson systematisch verwischt.

Ein zentraler Angelpunkt ist dabei die schwindende Kraft des „christlichen Zionismus“. Jahrzehntelang war die evangelikale Unterstützung für Israel ein theologisches Fundament der Republikaner. Doch bei einer jüngeren, online-affinen Rechten verfängt diese Theologie nicht mehr. Wenn Ted Cruz heute Slogans zitiert wie „Wer Israel segnet, wird gesegnet“, trifft er nicht mehr den Nerv einer Generation, die in Israels Handeln primär einen weiteren, von „Neocons“ befeuerten „Forever War“ sieht, der amerikanischen Interessen schadet.

Hier wird auch die gefährliche Unschärfe des „Nationalkonservatismus“ deutlich. Wo genau endet die legitime Sorge um „soziale Solidarität“ (ein Begriff von JD Vance) oder die Kritik an einem überbordenden Multikulturalismus, und wo beginnt die offen „pro-weiße“ Rassenideologie eines Nick Fuentes? Die Grenzen sind bewusst fließend gehalten. Schließlich geht es um die Definition von „America First“. Carlson und Fuentes vertreten einen isolationistischen Paleokonservatismus: Rückzug aus der Ukraine, keine Unterstützung mehr für Israel, Fokus auf die „weiße“ Demografie Amerikas. Donald Trump hingegen, obwohl er als Isolationist auftrat, hat in seiner Amtszeit oft interventionistischer gehandelt. Er verhängte neue Sanktionen gegen Moskau, unterstützte Israel bei Angriffen auf Irans Atomprogramm (Operation Midnight Hammer) und benannte das Verteidigungsministerium symbolträchtig in „Kriegsministerium“ um. Es ist ein Kampf zweier fundamental unterschiedlicher außenpolitischer Visionen, die beide Anspruch auf denselben Slogan erheben.

Das dröhnende Schweigen von Mar-a-Lago

Und wo steht der Mann, in dessen Namen dieser Krieg um die Zukunft der Bewegung geführt wird? Donald Trump schweigt. Sein Schweigen ist dröhnend. Trump, der 2022 selbst mit Nick Fuentes und Kanye West in Mar-a-Lago dinierte, meidet den Konflikt. Er hat sich weder hinter Carlson gestellt noch sich von ihm distanziert. Womöglich, weil er die Spaltung seiner Koalition fürchtet. Womöglich aber auch, weil die Wahrnehmung einer politisch geschwächten Präsidentschaft es ihm unmöglich macht, eine lautstarke Fraktion seiner Basis zu verprellen, ohne seine Zustimmungswerte weiter zu schmälern.

Die Republikanische Partei steht damit vor einer Zerreißprobe von historischem Ausmaß. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie man mit dem offen antisemitischen Extremismus in den eigenen Reihen lebt. Die alten Methoden der Ausgrenzung sind tot. Doch welche Alternativen gibt es? Ross Douthat deutet sie an: rigorose institutionelle Disziplin (also das Entlassen von „Groyper“-Sympathisanten in den eigenen Büros), überlegene Argumente statt bloßer Slogans und vor allem: echter politischer Erfolg, der die Paranoia der Ränder überflüssig macht.

Doch ob die aktuelle Führung der Republikaner, von Trump bis Vance, die Kraft oder auch nur den Willen zu dieser Art von „moralischer Hygiene“ hat, ist mehr als fraglich. Der Pakt zwischen Carlson und Fuentes hat die amerikanische Rechte an einen Abgrund geführt. Der Blick hinunter offenbart eine Fratze, die viele lange nicht sehen wollten – und von der nun unklar ist, ob sie nicht längst das wahre Gesicht der Bewegung geworden ist.

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