Der Pakt mit dem Teufel: Wie Amerikas Demokratie im Kampf um Wahlkreise ihre Seele verkauft

Illustration: KI-generiert

Ein nüchternes Ergebnis, 88 zu 52, verkündet in einem altehrwürdigen Parlamentssaal in Austin, Texas. Doch was an jenem Mittwochabend geschah, war weit mehr als eine simple Abstimmung. Es war das Zünden einer politischen Lunte, deren Glimmen sich nun rasend schnell durch das Fundament der amerikanischen Demokratie frisst. Auf den ersten Blick ging es nur um Linien auf einer Landkarte – die Neugestaltung der Wahlkreise für das US-Repräsentantenhaus. Doch in Wahrheit wurde hier ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen, eine fragile Norm der politischen Mäßigung geopfert auf dem Altar des kurzfristigen Machterhalts. Präsident Donald Trump selbst salbte die neue Karte in den sozialen Medien mit der ihm eigenen, großspurigen Geste als „EINE GROSSE, WUNDERSCHÖNE KONGRESSKARTE!“. Diese Abstimmung war der Startschuss für einen erbitterten Wettlauf, der nicht nur die politische Landschaft der USA neu zu ordnen, sondern auch die Spielregeln der Demokratie selbst für immer zu verändern droht. Es ist die Geschichte eines kalkulierten Tabubruchs, der eine zerstörerische Kettenreaktion in Gang gesetzt hat – ein Rüstungswettlauf des Misstrauens, der am Ende nur Verlierer kennen könnte.

Das Texanische Manöver: Ein kalkulierter Tabubruch

Normalerweise ist das Ziehen von Wahlkreisgrenzen ein mühsames Ritual, das einmal pro Jahrzehnt nach der Volkszählung stattfindet. Es soll sicherstellen, dass jede Stimme in etwa das gleiche Gewicht hat. Doch in Texas entschieden sich die regierenden Republikaner, diesen Zyklus zu durchbrechen und die Karten sechs Jahre früher als geplant neu zu mischen. Die offizielle Begründung wirkte wie ein administratives Feigenblatt: Man reagiere auf einen Hinweis des Justizministeriums, dass einige bestehende Bezirke möglicherweise eine verfassungswidrige rassistische Schlagseite aufwiesen.

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Doch hinter dieser Fassade verbarg sich eine kaum verhüllte Machtdemonstration. Todd Hunter, der republikanische Abgeordnete, der den Gesetzentwurf verantwortete, legte die Karten offen auf den Tisch: „Das grundlegende Ziel dieses Plans ist einfach: die Verbesserung der politischen Leistungsfähigkeit der Republikaner“. Es ging darum, fünf neue Kongressbezirke zu schaffen, in denen Donald Trump bei der letzten Wahl mit zweistelligem Vorsprung gewonnen hatte. In einem landesweit knapp verteilten Repräsentantenhaus, in dem die Republikaner nur eine hauchdünne Mehrheit halten, ist ein solcher Zug nicht weniger als ein strategischer Geniestreich – oder ein Frontalangriff auf den fairen Wettbewerb.

Die Demokraten in Texas sahen darin letzteres. Sie warfen den Republikanern vor, eine „illegale und rassistisch diskriminierende Kongresskarte“ zu verabschieden, die es insbesondere schwarzen und hispanischen Wählern erschweren würde, Kandidaten ihrer Wahl ins Amt zu bringen. Ihr Protest war dramatisch und verzweifelt. Um die Abstimmung zu verhindern, flohen Dutzende demokratische Abgeordnete wochenlang aus dem Bundesstaat und entzogen dem Parlament so die Beschlussfähigkeit. Einige verbarrikadierten sich nach ihrer Rückkehr im Plenarsaal und übernachteten auf den Stühlen ihrer Büros, in einer Geste, die eine Abgeordnete als „unsere Pyjamaparty für die Demokratie“ bezeichnete. Es waren Bilder, die um die Welt gingen – Symbole eines politischen Systems, das an seine Grenzen stößt. Doch aller Widerstand war letztlich vergebens. Die republikanische Mehrheit setzte ihren Willen durch, sobald die Demokraten zurück waren.

Der Gegenschlag aus Kalifornien: Notwehr oder Eskalation?

Die Schockwellen aus Texas erreichten schnell die Westküste. In Kalifornien, einer Hochburg der Demokraten, sah man sich zum Handeln gezwungen. Gouverneur Gavin Newsom initiierte einen Plan, der wie die politische Version des Prinzips der nuklearen Abschreckung anmutet: eine Art „Trigger-Gesetz“. Die Demokraten dort entwarfen ihrerseits eine neue Wahlkreiskarte, die darauf abzielt, bis zu fünf von Republikanern gehaltene Sitze zu erobern und so die Gewinne aus Texas exakt zu neutralisieren. Der Clou: Diese Karte soll nur dann in Kraft treten, wenn Texas seine Pläne tatsächlich umsetzt.

Doch was in Texas ein einfacher Mehrheitsbeschluss war, ist in Kalifornien ein juristischer und politischer Hürdenlauf. Der Bundesstaat hat seine Macht zur Wahlkreisziehung eigentlich an eine unabhängige Kommission abgegeben, um genau jene Art von parteipolitischer Manipulation zu verhindern, die nun in Texas praktiziert wird. Um diese Kommission zu umgehen, müssen die Demokraten die Verfassung des Bundesstaates ändern lassen. Das erfordert nicht nur eine Zweidrittelmehrheit im Parlament – die sie besitzen –, sondern auch die Zustimmung der Wähler in einem landesweiten Referendum im November. Es ist ein gewagtes Manöver, dessen Ausgang völlig offen ist.

In diese aufgeheizte Atmosphäre sprach ein Mann, der acht Jahre lang versucht hatte, die Gräben der Nation zu überbrücken: Barack Obama. Sein Zuspruch für Kaliforniens Pläne klang wie das widerwillige Eingeständnis eines Strategen, der seine idealistischen Prinzipien der bitteren Realität anpassen muss. Er nannte den Ansatz „intelligent und maßvoll“ und betonte, dass man einer Partei nicht einseitig erlauben könne, „das Spiel zu manipulieren“. Es war eine bemerkenswerte Positionierung: Der ehemalige Präsident, der sich stets für ein Ende des parteiischen Gerrymandering eingesetzt hatte, befürwortete nun eine Maßnahme, die er im Grunde seines Herzens ablehnte. Seine Worte spiegeln das Dilemma wider, in dem sich die Demokraten befinden: Sollen sie an ihren Prinzipien festhalten und zusehen, wie ihre Gegner die Regeln zu ihren Gunsten verbiegen? Oder sollen sie zurückschlagen und riskieren, selbst Teil des Problems zu werden, das sie bekämpfen?

Ein Riss im Fundament: Wenn Normen zerbrechen

Der Konflikt zwischen Texas und Kalifornien ist mehr als nur ein politisches Tauziehen zwischen zwei bevölkerungsreichen Staaten. Er ist ein Symptom für eine tiefere Krise. Das Vorgehen, mitten in einer Dekade die Wahlkreise neu zu ziehen, bricht mit einer langjährigen politischen Konvention. Es öffnet die Büchse der Pandora für eine permanente Politisierung der Wahlgeometrie. Wenn die Spielregeln jederzeit geändert werden können, sobald eine Partei die Macht dazu hat, verliert das System an Vorhersehbarkeit und Legitimität.

Was in Texas begann, könnte sich schnell zu einer nationalen Epidemie ausweiten. Republikaner in Bundesstaaten wie Florida, Indiana und Missouri erwägen bereits ähnliche Schritte. Demokraten in Illinois und Maryland prüfen ebenfalls ihre Optionen. Die Gefahr eines landesweiten „Rüstungswettlaufs“ im Gerrymandering ist real. Das Resultat wäre ein politischer Teufelskreis: Jede Seite rechtfertigt ihre eigenen Grenzüberschreitungen mit den Taten der anderen. Am Ende stünde ein Repräsentantenhaus, das nicht mehr die Vielfalt der politischen Meinungen im Land widerspiegelt, sondern aus einer Ansammlung von künstlich geschaffenen, für eine Partei sicheren Bezirken besteht. Der politische Wettbewerb würde von den Wahlurnen in die Hinterzimmer der Kartografen verlagert. Die Wähler suchen sich nicht mehr ihre Abgeordneten aus, sondern die Abgeordneten suchen sich ihre Wähler.

Die Stimmen der Anderen: Demokratiekrise oder politisches Theater?

Wie bedrohlich ist diese Entwicklung wirklich? Die Antworten darauf fallen je nach politischem Standpunkt und Perspektive radikal unterschiedlich aus. Für die Demokraten und ihre Anhänger ist die Sache klar: Das Vorgehen in Texas ist ein autoritärer Machtmissbrauch, ein Anschlag auf das Wahlrecht und ein Versuch, die demografische Entwicklung zu umgehen, die langfristig gegen die Republikaner arbeitet. Sie sehen darin eine existenzielle Bedrohung für die amerikanische Demokratie.

Andere mahnen zur Gelassenheit. Sie bezeichnen die Aufregung als „Gerrymander-Freakout“ und argumentieren, parteipolitische Wahlkreismanipulation sei zwar unschön, aber seit der Gründung der Republik ein fester und unappetitlicher Bestandteil der amerikanischen Politik. Aus dieser Sicht ist das, was in Texas geschieht, kein Tabubruch, sondern lediglich eine besonders aggressive Form des politischen Normalzustands. Sie argumentieren, dass die Demokratie nicht auf der Intensivstation liege und dass sich solche Manöver langfristig sogar als kurzsichtig erweisen könnten.

Diese unterschiedlichen Deutungen zeigen, wie tief der Riss bereits ist. Es gibt keinen Konsens mehr darüber, was legitimer politischer Wettbewerb ist und wo der Angriff auf die demokratischen Grundfesten beginnt. Das Spiel wird gespielt, ohne dass sich die Spieler einig sind, nach welchen Regeln sie eigentlich antreten.

Jenseits der Gräben: Gibt es einen Ausweg?

Angesichts dieser verfahrenen Situation werden Stimmen laut, die eine radikale Lösung fordern. Der Journalist und Autor Matthew Algeo wirft eine provokante Idee in den Raum: die vollständige Abschaffung der Kongresswahlbezirke. Sein Vorschlag sieht vor, dass jeder Bundesstaat seine Abgeordneten in einer einzigen, staatsweiten Wahl bestimmt, bei der einfach die Kandidaten mit den meisten Stimmen gewinnen.

Die Vorteile, so Algeo, lägen auf der Hand: Das Gerrymandering wäre mit einem Schlag beendet. Das Zweiparteiensystem würde aufgebrochen, da auch Kandidaten kleinerer Parteien wie Libertäre oder Sozialisten eine Chance hätten, landesweit genügend Stimmen für einen der vorderen Plätze zu sammeln. Jeder Wähler hätte plötzlich nicht mehr nur einen, sondern Dutzende Abgeordnete im Kongress, die den gesamten Staat vertreten. Es wäre, so die Utopie, ein repräsentativeres, faireres und vielfältigeres System.

Doch die Hürden für eine solche Revolution sind gewaltig. Die beiden großen Parteien, die das aktuelle System kontrollieren, hätten keinerlei Interesse daran, ihre Macht freiwillig zu beschneiden. Dennoch zeigt der Vorschlag, wie groß der Frust über den Status quo ist. Wenn die Zerstörung des Systems als einzige Rettung erscheint, ist das ein alarmierendes Zeichen für seinen Zustand.

Der Rauch der politischen Schlachtfelder in Texas und Kalifornien hat sich noch nicht verzogen, doch die Konturen einer neuen, gefährlicheren Ära der amerikanischen Politik werden bereits sichtbar. Der Pakt, den die Republikaner in Texas geschlossen haben – der Tausch von langfristiger demokratischer Legitimität gegen kurzfristigen Machterhalt –, hat eine Spirale in Gang gesetzt, die nur schwer zu stoppen sein wird. Kaliforniens Reaktion mag aus strategischer Sicht nachvollziehbar sein, doch sie gießt nur Öl ins Feuer. Am Ende droht ein Zustand, den ein Kommentator als „hyper-partisan nuclear winter“ bezeichnete – eine politische Eiszeit, in der Kompromisse erfrieren und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen endgültig zerbricht. Die Linien, die heute auf den Karten von Texas gezogen werden, könnten sich als die Bruchlinien erweisen, an denen die amerikanische Demokratie von morgen zerfällt.

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