Der Nebel des Krieges als moralischer Vorhang: Wie Pete Hegseths Karibik-Strategie das Völkerrecht versenkt

Illustration: KI-generiert

Das karibische Meer, sonst ein Ort azurblauer Ruhe, hat sich in den letzten Monaten in ein Testfeld für eine neue, radikale Interpretation amerikanischer Macht verwandelt. Wo früher die Küstenwache Patrouille fuhr, um Schmuggler festzunehmen und Beweise zu sichern, fliegen nun Raketen. Es ist ein Szenario, in dem die Grenzen zwischen polizeilicher Arbeit und militärischer Vernichtung nicht nur verwischen, sondern bewusst ausgelöscht werden. Im Zentrum dieses Sturms steht Verteidigungsminister Pete Hegseth, ein Mann, der angetreten ist, die „Kriegerkultur“ zurück ins Pentagon zu bringen, und der nun im Verdacht steht, das Völkerrecht in den warmen Gewässern vor Venezuela versenkt zu haben. Der Vorfall vom 2. September, bei dem Überlebende eines Angriffs gezielt getötet wurden , ist dabei mehr als nur eine verunglückte Operation; er ist das Symptom einer Führungskultur, die rechtliche Fesseln als hinderliches Beiwerk betrachtet und den „Nebel des Krieges“ als moralischen Vorhang nutzt.

Das Inferno vom 2. September: Eine Exekution auf hoher See?

Es war der Auftakt einer Kampagne, die Präsident Trump als Krieg gegen den Drogenhandel deklarierte. Ein Schnellboot, mutmaßlich beladen mit Kokain, wurde im karibischen Meer identifiziert. Doch was folgte, war kein Zugriff, sondern eine Vernichtung. Ein erster Raketenschlag traf das Boot. Die Bilder der Überwachungsdrohnen zeigten Feuer und Rauch, aber sie zeigten auch Leben: Zwei Männer klammerten sich an die Trümmer ihres zerstörten Gefährts. Nach den Regeln der Seekriegsführung und den Genfer Konventionen waren dies Schiffbrüchige – Menschen in Not, die Anspruch auf Schutz und Hilfe haben, unabhängig von ihrer Schuld oder Unschuld.

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Doch an diesem Tag galten andere Regeln. Berichten aus dem Inneren des Apparats zufolge hatte Verteidigungsminister Hegseth bereits im Vorfeld eine verbale Anweisung erteilt, die so eindeutig wie brutal war: „Tötet alle“. Es sollte keine Gefangenen geben, keine Überlebenden, die vor Gericht gestellt werden könnten. Um dieser Direktive zu entsprechen, ordnete der operative Kommandeur, Admiral Frank M. Bradley, einen zweiten Schlag an. Die Rakete traf die im Wasser Treibenden. Niemand überlebte. Insgesamt starben elf Menschen bei dieser Operation.

Dieser Vorgang markiert einen dramatischen Bruch mit der Tradition der US-Streitkräfte. Es steht der schwerwiegende Vorwurf im Raum, dass hier keine militärische Notwendigkeit vorlag, sondern eine Exekution stattfand. Die Administration versucht, diesen Vorwurf mit einer juristischen Konstruktion zu entkräften, die ebenso kühn wie fragwürdig ist: Die Definition von Drogenkriminellen als militärische Kombattanten in einem bewaffneten Konflikt.

Die juristische Alchemie: Vom Kriminellen zum „Narkoterroristen“

Um zu verstehen, wie aus einer Drogenfahndung ein Kriegsschauplatz wurde, muss man tief in die bürokratischen Winkel des Justizministeriums blicken. Ein internes, als geheim eingestuftes Memo des Office of Legal Counsel liefert das rechtliche Fundament für die tödliche Strategie. Die Argumentation gleicht einer juristischen Alchemie: Da die Drogenkartelle Gewalt anwenden und militärisch ausgerüstet seien, befinde sich die USA in einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“. Damit verwandeln sich Zivilisten, die Drogen transportieren, in legitime militärische Ziele – sogenannte „Narkoterroristen“.

Diese Umdeutung hat weitreichende Konsequenzen. In einem Krieg darf der Feind bekämpft werden, bis er keine Bedrohung mehr darstellt. Doch selbst unter dieser Annahme bleibt der zweite Schlag vom 2. September juristisch hochbrisant. Das Verteidigungsministerium argumentiert, die Überlebenden hätten über Funk kommuniziert. In der Lesart der Administration bedeutet dies, dass sie „noch im Kampf“ standen, möglicherweise Verstärkung riefen oder versuchten, die illegale Fracht zu retten.

Völkerrechtsexperten und ehemalige Militärjuristen widersprechen dieser Darstellung vehement. Ein Schiffbrüchiger, der sich an Wrackteile klammert, stellt keine unmittelbare Bedrohung dar. Das eigene Kriegshandbuch des Pentagon verbietet ausdrücklich den Beschuss von Schiffbrüchigen. Die Kommunikation per Funk als „feindseligen Akt“ zu werten, erscheint als verzweifelter Versuch, das Unentschuldbare zu rechtfertigen. Es ist der Versuch, eine Tötung nachträglich zu legitimieren, die nach klassischen Maßstäben als Kriegsverbrechen gewertet werden müsste. Die Konstruktion der „Selbstverteidigung“ wirkt hierbei besonders zynisch, da die angegriffenen Boote oft nicht einmal bewaffnet sind und keine Gefahr für die weit entfernten US-Truppen darstellen.

Der „Nebel des Krieges“ als Ausrede im digitalen Zeitalter

Angesichts der massiven Kritik greift Verteidigungsminister Hegseth zu einer Verteidigungslinie, die so alt ist wie der Krieg selbst: dem „Nebel des Krieges“. Er behauptet, er habe aufgrund von Rauch und Feuer keine Überlebenden sehen können. Er habe den ersten Schlag live verfolgt, sei dann aber zum nächsten Meeting geeilt und habe die Entscheidung über den zweiten Schlag dem Kommandeur vor Ort überlassen.

Diese Argumentation wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. In einer Ära, in der hochauflösende Drohnenbilder jeden Winkel des Gefechtsfeldes in Echtzeit auf Bildschirme in Washington übertragen, wirkt der Verweis auf schlechte Sicht unglaubwürdig – zumal Hegseth selbst betonte, er habe den ersten Schlag „live gesehen“. Dass ein Verteidigungsminister, der eine Operation von solch politischer Brisanz persönlich autorisiert und den ersten Einschlag beobachtet, sich genau in dem Moment abwendet, als es um die Bewertung des Erfolgs geht, zeugt entweder von grober Fahrlässigkeit oder von einer bewussten Strategie der plausiblen Abstreitbarkeit.

Es offenbart sich hier eine toxische Dynamik zwischen politischer Führung und militärischer Befehlskette. Hegseth und auch Präsident Trump, der sich öffentlich vom zweiten Schlag distanzierte („Ich hätte das nicht gewollt“), schieben die Verantwortung auf Admiral Bradley. Bradley wird zwar als „amerikanischer Held“ gepriesen, doch faktisch wird er als Sündenbock positioniert, sollte die rechtliche Aufarbeitung zu einem negativen Ergebnis kommen. Militärs sprechen intern bereits von „Protect Pete“-Bullshit – einer Kultur, in der die politische Führung die Lorbeeren für die Härte erntet, aber die Risiken der Illegalität auf die Uniformträger abwälzt.

Signalgate: Leichtsinn als Führungsprinzip

Die Kontroverse um die Karibik-Einsätze ist nicht der einzige Brandherd, der Hegseths Amtsführung belastet. Ein Bericht des Generalinspekteurs wirft ein grelles Licht auf seinen Umgang mit sensiblen Daten. Hegseth nutzte die kommerzielle, unverschlüsselte App „Signal“, um Details über bevorstehende Angriffe im Jemen zu teilen – Informationen, die als „Secret/NoForn“ klassifiziert waren. In Gruppenchats mit Kabinettskollegen und Beratern wurden Operationspläne diskutiert, als handele es sich um Verabredungen zum Mittagessen.

Hegseths Reaktion auf diese Vorwürfe ist bezeichnend für sein Verständnis von Regeln. Er witzelt öffentlich darüber („Mike, ich schreib dir später auf Signal“) und verweist auf seine Befugnis als Minister, Informationen eigenmächtig zu deklassifizieren. Doch diese Arroganz verkennt das Risiko: Die Nutzung unsicherer Kanäle gefährdet nicht nur den Erfolg von Missionen, sondern das Leben von Piloten und Soldaten. Es entsteht das Bild eines Ministers, der Sicherheitsprotokolle als bürokratische Schikane betrachtet, die für einen „Krieger“ wie ihn nicht gelten. Diese Haltung untergräbt die Disziplin der Truppe, von der erwartet wird, dass sie sich an genau jene Regeln hält, die ihr oberster Dienstherr missachtet.

Der Preis der „Kriegerkultur“: Moralische Erosion und internationale Isolation

Hegseths erklärte Mission ist es, dem Militär eine „Kriegerkultur“ zurückzugeben und es von „woken“ Regeln zu befreien, die seiner Meinung nach die Hände der Kämpfer binden. Er fordert „maximalen tödlichen Einsatz“ und wettert gegen Anwälte in Uniform. Doch der Preis für diese Entfesselung ist hoch.

Innerhalb des Offizierskorps gärt es. Die Angst, in illegale Handlungen verstrickt zu werden, ist greifbar. Der vorzeitige Rücktritt von Admiral Alvin Holsey, dem Chef des Southern Command, nach nur einem Jahr im Amt, wird intern als deutliches Warnsignal verstanden. Wenn Vier-Sterne-Admirale ihren Posten räumen, weil sie Bedenken gegen die Missionen haben, steht die Institution vor einer Zerreißprobe. Es droht eine „Moral Injury“ – eine seelische Verwundung der Soldaten, die gezwungen werden, Handlungen auszuführen, die ihren ethischen Kompass verletzen. Der Soldat wird zum bloßen Vollstrecker, die Ehre des Dienstes wird durch das Blut von Schiffbrüchigen besudelt.

Auch international bleibt die Strategie nicht ohne Folgen. Großbritannien, der engste Verbündete der USA, hat den Austausch von Geheimdienstinformationen bezüglich der Drogenbekämpfung ausgesetzt. London sieht in den Angriffen einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht und will nicht mitschuldig werden. Dies ist ein diplomatisches Erdbeben, das die US-Sicherheitsarchitektur empfindlich schwächt. Wenn Amerika beginnt, internationale Normen zu ignorieren, verliert es seine wichtigste Währung: Vertrauen und Legitimität.

Die Suche nach Wahrheit: Ein Kongress im Dilemma

Der US-Kongress hat nun die Aufgabe, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Ausschüsse fordern Videoaufzeichnungen, Funkprotokolle und die Logbücher des Kommunikationssystems „Strike Bridge“ an. Diese Beweismittel könnten klären, ob der zweite Schlag tatsächlich auf einer militärischen Notwendigkeit basierte oder ob es sich um die Umsetzung des Befehls „kill everybody“ handelte. Doch das Pentagon mauert, hält Informationen zurück und spielt auf Zeit.

Für die republikanischen Abgeordnete ist die Situation ein Drahtseilakt. Sie stehen zwischen ihrer Loyalität zu Präsident Trump und ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Kontrolle der Exekutive. Einige, wie Senator Wicker, drängen auf Aufklärung und verlangen Antworten von Admiral Bradley und General Caine. Andere versuchen, die Kritik als politisch motivierte Hexenjagd abzutun. Doch die Frage, ob amerikanische Soldaten Befehle zu Kriegsverbrechen erhalten haben, duldet keine Parteipolitik.

Fazit: Wenn der Zweck jedes Mittel heiligt

Die Geschehnisse in der Karibik und die Affäre um die Signal-Protokolle sind keine isolierten Skandale. Sie sind Ausdruck einer fundamentalen Verschiebung im Verständnis amerikanischer Gewaltanwendung. Wenn der Kampf gegen Drogen mit den Mitteln des totalen Krieges geführt wird, wenn Verdachtsmomente ausreichen, um Todesurteile zu vollstrecken, und wenn die politische Führung sich hinter dem Rücken ihrer Generäle versteckt, dann steht mehr auf dem Spiel als nur die Karriere eines Ministers.

Es geht um die Seele der westlichen Wertegemeinschaft. Die Erosion der Trennlinie zwischen Polizei und Militär, zwischen Kriminellen und Kombattanten, schafft gefährliche Präzedenzfälle für die Zukunft asymmetrischer Konflikte. Wenn die USA vorleben, dass Schiffbrüchige legitime Ziele sind, welches Argument bleibt dann noch, um andere Nationen zur Einhaltung der Genfer Konventionen zu mahnen?

Pete Hegseth mag glauben, er befreie das Militär von unnötigem Ballast. In Wahrheit sägt er an den Säulen, auf denen die Disziplin und das Ansehen der mächtigsten Streitkräfte der Welt ruhen. Der Nebel des Krieges ist dicht, doch er darf niemals so undurchdringlich werden, dass er den Blick auf das Menschliche und das Recht verdeckt. Wer diesen Nebel nutzt, um Mord als Taktik zu tarnen, führt kein Militär, sondern eine bewaffnete Bande. Und das ist eine Gefahr, die weit größer ist als jedes Schnellboot in der Karibik.

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