Der letzte Klick: Wie Russland die digitale Neugier unter Strafe stellt

Illustration: KI-generiert

Es ist eine unsichtbare Grenze, die der Kreml in die Weiten des Internets zieht. Eine Grenze nicht mehr nur um das, was gesagt, geteilt oder verbreitet wird, sondern um das, was überhaupt erst gedacht und gesucht werden darf. Mit einem neuen, im Eilverfahren durch das Parlament gepeitschten Gesetz vollzieht Russland einen beunruhigenden Paradigmenwechsel in seiner Zensurpolitik. War bisher die Verbreitung „verbotener“ Inhalte strafbar, so rückt nun der Akt der reinen Neugier ins Visier der Strafverfolger. Wer gezielt nach als extremistisch eingestuften Informationen sucht und dabei auch noch technische Hürden wie VPNs überwindet, macht sich künftig strafbar. Damit wird der erste Schritt zur Information, der suchende Klick, zu einem potenziellen Delikt. Es ist der Versuch, eine digitale Festung zu errichten, deren Mauern nicht nur aus technologischen Blockaden, sondern auch aus der Angst und der Selbstzensur ihrer Bewohner bestehen.

Die strategischen Ziele hinter dieser Eskalation sind vielschichtig, doch sie zielen alle auf einen Kern: die vollständige Kontrolle über den Informationsraum. Seit der großangelegten Invasion der Ukraine 2022 hat der Staat die Daumenschrauben systematisch angezogen und Gesetze gegen „Fake News“ oder die „Diskreditierung“ der Armee erlassen. Das neue Gesetz ist die logische Fortsetzung dieser Entwicklung, gerechtfertigt mit den angeblichen Notwendigkeiten des Kriegszustandes. Im Visier stehen dabei explizit VPN-Dienste und andere Umgehungstechnologien, die für viele Russen das letzte Tor zu unabhängigen Nachrichten und unzensierten Plattformen wie Instagram, X oder YouTube sind. Indem der Staat nicht nur deren Bewerbung, sondern auch deren Nutzung zur Informationssuche bestraft, will er diese digitalen Fluchtwege austrocknen und seine Bürger auf die kontrollierten, heimischen Plattformen zwingen. Unterstützt wird dies durch massive Investitionen in Überwachungstechnologien wie Deep Packet Inspection (DPI), die eine granularere Filterung des Datenverkehrs ermöglichen und das Fundament für ein „souveränes Internet“ legen sollen.

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Die Architektur der Angst: Wie vage Gesetze das Misstrauen säen

Das eigentliche Machtinstrument des neuen Gesetzes liegt jedoch nicht in der Höhe der Strafen – eine Geldbuße von umgerechnet etwa 65 Dollar erscheint zunächst gering. Die wahre Gefahr, so warnen Freiheitsaktivisten, liegt in der juristischen Willkür, die durch die vage Formulierung erst ermöglicht wird. Was genau als „extremistisches Material“ gilt, entscheidet ein Gericht und landet auf einer ständig wachsenden, Tausende Einträge umfassenden schwarzen Liste des Justizministeriums. Diese Liste reicht von Al-Qaida bis zur „LGBT-Bewegung“ und schafft einen Raum der Rechtsunsicherheit, in dem jeder Nutzer potenziell gefährdet ist. Wie aber sollen Behörden beweisen, dass jemand „wissentlich“ nach etwas gesucht hat, dessen extremistischer Charakter ihm bekannt war? Genau diese Unklarheit ist das Fundament der neuen Repression. Die geringe Geldstrafe, so die Befürchtung, ist nur das juristische Einfallstor – ein Vorwand, um Bürger festzuhalten, unter Druck zu setzen und letztlich den Weg für Strafverfahren zu ebnen.

Dieser Mechanismus wird durch die Art des Gesetzgebungsverfahrens zusätzlich entlarvt. Die brisanten Änderungen wurden heimlich in einen harmlosen Gesetzentwurf über Frachtunternehmen eingeschleust, um sie binnen eines Tages ohne öffentliche Debatte durch die Duma zu bringen. Es ist eine Taktik, die den desolaten Zustand der politischen Institutionen offenlegt und zeigt, dass Repression nicht mehr den Anschein eines rechtsstaatlichen Prozesses wahren muss. Die beschwichtigenden Worte der Gesetzesautoren, es gehe nicht um eine Massenbestrafung von Nutzern, stehen im scharfen Kontrast zur Realität eines Gesetzes, das wie ein Damoklesschwert über jedem kritischen Geist schwebt. In einer geradezu kafkaesken Pointe führt das Gesetz sogar dazu, dass regierungsnahe Zensur-Wächter wie die „Liga für ein sicheres Internet“ ihre eigene Arbeit nicht mehr verrichten können, ohne sich strafbar zu machen – denn auch sie müssen die verbotenen Inhalte ja aufrufen, um sie zu melden. Es ist der Moment, in dem die Schlange der Repression beginnt, sich in den eigenen Schwanz zu beißen. Doch für die Freiheit des Einzelnen ist das kein Trost.

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