Der Kostümball über den Wolken: Warum Krawatten keine Strukturprobleme lösen

Illustration: KI-generiert

US-Verkehrsminister Sean Duffy sehnt sich nach dem „Goldenen Zeitalter“ des Fliegens zurück. Mit einer neuen Kampagne fordert er Passagiere auf, sich besser zu kleiden, um die Sitten an Bord zu retten. Doch hinter dem nostalgischen Ruf nach Krawatte und Hut verbirgt sich ein fundamentaler Konflikt: Dient die Ästhetik der Höflichkeit dazu, den Verfall der Infrastruktur und die Aushöhlung von Passagierrechten zu übertünchen? Eine Analyse der „Pajama Resistance“ und der wahren Kosten des Billigfliegens.

Es ist ein Bild, das wie aus der Zeit gefallen wirkt: Männer in scharfen Anzügen, die Hüte tief in die Stirn gezogen, Frauen in Perlenketten und Kostümen, die anmutig eine Gangway hinaufschreiten. Im Hintergrund schmeichelt die Stimme Frank Sinatras, Trompeten künden von einer Ära, in der das Reisen noch ein Ereignis war, keine Tortur. Dieses Szenario ist keine Szene aus „Mad Men“, sondern der Kern einer neuen Kampagne der US-Regierung. Verkehrsminister Sean Duffy hat sich ein Ziel gesetzt, das ebenso ambitioniert wie anachronistisch anmutet: Er möchte die Zivilität im Luftverkehr wiederherstellen.

Sein Mittel der Wahl ist dabei nicht etwa eine massive Investition in die überlastete Infrastruktur oder eine Regulierung der Sitzabstände, sondern ein Appell an die Garderobe der Reisenden. Unter dem Slogan „Das Goldene Zeitalter des Reisens beginnt mit Ihnen“ fordert Duffy die Passagiere auf, Pyjamas und Hausschuhe im Schrank zu lassen und sich wieder mit „Respekt“ zu kleiden. Die These dahinter ist verführerisch simpel: Wer aussieht wie ein Gentleman, benimmt sich auch wie einer. Doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich diese Kampagne als ein faszinierendes Lehrstück über politische Ablenkungsmanöver, nostalgische Verklärung und den tiefen Graben zwischen staatlichem Anspruch und der rauen Realität des modernen Massentourismus.

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Die Psychologie der Garderobe und die Realität der Wut

Duffys Vorstoß basiert auf einer soziopsychologischen Wette. Er impliziert, dass Kleidung nicht nur den Körper bedeckt, sondern den Geist formt. „Zivilität zurückzubringen, verbessert das Reiseerlebnis für alle“, argumentiert Duffy und verknüpft dies direkt mit der Aufforderung, nicht im Schlafanzug zum Flughafen zu kommen. Es ist der Glaube daran, dass äußere Ordnung zu innerer Haltung führt – eine Art „Broken-Windows-Theorie“ der Mode. Das begleitende Video der Kampagne inszeniert diesen Kontrast drastisch: Hier die eleganten Pioniere der Luftfahrt, dort die heutigen Passagiere, die barfuß Entertainment-Bildschirme mit den Zehen bedienen oder sich in den Gängen prügeln.

Die Dringlichkeit des Problems ist unbestritten. Die Daten der Federal Aviation Administration (FAA) zeichnen ein düsteres Bild: Die Zahl der „Ausbrüche“ an Bord ist seit 2019 um 400 Prozent gestiegen. Doch die Frage bleibt: Ist der Kapuzenpullover der Auslöser der Aggression, oder ist er die Uniform des Widerstands gegen eine zunehmend feindselige Umgebung? Kritiker und Beobachter weisen darauf hin, dass die aggressive Atmosphäre an Bord weniger mit dem Stoff der Hosen zu tun hat als mit der Physik des Raumes.

Die Kampagne des Ministeriums scheint die strukturellen Brandbeschleuniger der „Air Rage“ fast gänzlich auszublenden. Die Passagiere von heute werden in Sitze gepresst, deren Beinfreiheit seit dem goldenen Zeitalter um drei bis sechs Zoll geschrumpft ist – auf oft nur noch rund 31 Zoll (ca. 79 cm). In der Economy Class herrscht eine Enge, die eher an Viehtransporte erinnert als an die luxuriöse Leere der 1950er Jahre. Hinzu kommen systemische Verspätungen und Ausfälle, die oft durch Personalmangel bei der Flugsicherung verursacht werden – ein Problem, das durch den jüngsten Regierungsstillstand (Shutdown) noch verschärft wurde, als Duffy Flüge streichen musste, um überlastete Fluglotsen zu entlasten. Wenn Menschen, die stundenlang in Terminals festsitzen, in überfüllte Röhren gepfercht werden, ist die Zündschnur kurz – unabhängig davon, ob sie Krawatte oder Jogginghose tragen.

Das Paradoxon der politischen Prioritäten

Die eigentliche Brisanz der Debatte liegt jedoch nicht in der Modefrage, sondern in der politischen Dissonanz. Während Verkehrsminister Duffy die Passagiere zu mehr Höflichkeit und Rücksichtnahme ermahnt, hat er gleichzeitig Maßnahmen ergriffen, die den Schutz ebenjener Passagiere aushöhlen. Nur eine Woche vor dem Start der Zivilitätskampagne kippte Duffy einen Vorschlag, der Fluggesellschaften verpflichtet hätte, Passagiere für signifikante, selbstverschuldete Reiseunterbrechungen finanziell zu entschädigen.

Es wirkt wie eine zynische Pointe: Die Regierung entbindet die Konzerne von der Verantwortung für schlechten Service, fordert aber vom zahlenden Kunden ein Verhalten ein, das über jeden Tadel erhaben ist. Kritiker wie der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom spitzten dies auf die Formel zu: „Seine große Alternative? Zieht ein schönes Kleid im Flugzeug an.“. Duffy verteidigt diesen Schritt als notwendig, um Ticketpreise stabil zu halten und die Interessen von Passagieren und Airlines auszubalancieren. Doch für den Reisenden, der auf einem Flughafen gestrandet ist, ohne Anspruch auf Entschädigung, wirkt der Ruf nach einem „Bitte“ und „Danke“ wie Hohn.

Diese Widersprüchlichkeit zieht sich durch die gesamte Kommunikation. Duffy, der sich selbst gern als Mann des Volkes inszeniert, fordert gesündere Snacks an Bord, weil ihm die allgegenwärtigen Brezeln und Kekse zu zucker- und butterhaltig sind. Er nennt das aktuelle Angebot „Mist“. Während der Wunsch nach besserer Ernährung verständlich ist, wirkt er angesichts der massiven infrastrukturellen Defizite – wie dem veralteten Flugverkehrskontrollsystem, dessen Modernisierung zwar versprochen, aber noch Zukunftsmusik ist – wie das Verrücken von Liegestühlen auf der Titanic.

Der Mythos vom goldenen Zeitalter

Um die Absurdität des Vergleichs mit den 1950er Jahren zu verstehen, muss man einen Blick in die ökonomischen Maschinenräume jener Zeit werfen. Das „Goldene Zeitalter“, das Duffy beschwört, war eine Ära der Exklusivität und der strikten staatlichen Kontrolle. Bis zum Airline Deregulation Act von 1978 diktierte nicht der Markt die Preise und Routen, sondern das Civil Aeronautics Board. Fluggesellschaften konkurrierten nicht über den Preis, sondern über den Service. Es gab Klavierbars an Bord, mehrgängige Menüs auf Porzellan und echte Silberbestecke.

Doch dieser Luxus hatte einen Preis, der für den Durchschnittsbürger unerschwinglich war. Ein Ticket für den Pan-Am-Flug von New York nach Paris kostete 1958 in der Economy Class 272 Dollar – das entspricht heute einer Kaufkraft von über 3.300 Dollar. Ein Deluxe-Ticket schlug mit umgerechnet über 5.600 Dollar zu Buche. Fliegen war ein Club für die Elite, Flugzeuge waren oft nur halb voll. Die „Zivilität“ jener Tage war also weniger eine Frage der moralischen Überlegenheit, sondern das Resultat einer extremen sozioökonomischen Selektion.

Heute hingegen ist die Luftfahrtindustrie ein deregulierter Massenmarkt, dominiert von vier großen Playern – United, American, Delta und Southwest –, die 80 Prozent des Marktes kontrollieren. Der Wettbewerb findet fast ausschließlich über den Preis statt. Um Gewinne zu maximieren, haben die Airlines das Fliegen „entbündelt“: Leistungen, die früher selbstverständlich waren – Gepäck, Mahlzeiten, Sitzplatzwahl –, kosten heute extra. Der Historiker Shea Oakley bemerkt treffend: „Man hat das Gefühl, das Nächste, wofür sie Geld verlangen, ist der Sicherheitsgurt oder die Toilettenbenutzung.“.

In diesem Kontext wirkt der Vergleich mit 1958 fast schon grausam. Passagiere von heute fliegen nicht in fliegenden Restaurants, sondern in fliegenden Bussen. Die Demokratisierung des Fliegens hat es für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich gemacht, aber sie hat dem Erlebnis jeden Glamour entzogen. Die Erwartung, dass sich Menschen in einer Umgebung, die auf maximale Effizienz und minimale Kosten getrimmt ist, wie Aristokraten verhalten, ignoriert die ökonomischen Realitäten.

Die „Pajama Resistance“: Komfort als Notwehr

Die Reaktion der Öffentlichkeit auf Duffys Appelle ließ nicht lange auf sich warten und offenbart viel über das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat im Jahr 2025. In den sozialen Medien formierte sich rasch eine Art „Pajama Resistance“ (Schlafanzug-Widerstand). Unter Hashtags und in viralen Videos zelebrieren Reisende ihre bequeme Kleidung fast schon als politischen Akt.

Es ist ein Phänomen des „böswilligen Gehorsams“ und des Trotzes. Cat Sullivan, eine TV-Produzentin, reagierte auf Duffys Aufforderung, indem sie in einem bodenlangen, an Old Hollywood erinnernden Kleid reiste – und prompt die Unpraktikabilität dieser Garderobe in der modernen Reisehölle demonstrierte, als sie bei Minusgraden über das Vorfeld frieren musste. Andere, wie der Aktivist Johnny Palmadessa, trugen demonstrativ rot karierte Pyjamahosen, um den Minister zu „triggern“.

Doch hinter dem Spott steckt eine ernste Botschaft. Für viele ist die legere Kleidung – Leggings, Sweatshirts, Hausschuhe – keine Respektlosigkeit, sondern eine funktionale Anpassung an die Strapazen der Reise. Wenn man stundenlang in engen Sitzen ausharren muss, von Verspätungen zermürbt wird und durch endlose Sicherheitskontrollen geschleust wird, wird Komfort zur letzten Bastion der Selbstbestimmung. „Wir kleiden uns nicht für das Flugerlebnis, das wir wollen, wir kleiden uns für das Flugerlebnis, das wir haben“, brachte es die Komikerin Michelle Wolf auf den Punkt.

Passagiere betrachten ihre Kleidungswahl zunehmend als Schutzschild. In einer Umgebung, die oft als feindselig und entwürdigend empfunden wird, dient der „Schlabberlook“ als Kokon. Die Kritik der Reisenden zielt darauf ab, dass die Regierung die Prioritäten falsch setzt: „Es gibt größere Fische zu braten“, kommentierte die Luftfahrtjournalistin Benét J. Wilson, während sie in Pyjama und Hausschuhen auf ihren verspäteten Flug wartete.

Zivilität als Stellvertreterkrieg

Die Debatte um die Kleiderordnung ist jedoch mehr als nur eine Diskussion über Stil; sie ist ein kultureller Stellvertreterkrieg. Die Administration unter Trump, der selbst großen Wert auf Ästhetik und „Optics“ legt, versucht, eine nostalgische Ordnung wiederherzustellen. Es erinnert an ähnliche Vorstöße, wie die Anordnung von Verteidigungsminister Hegseth, Bärte und lange Haare im Militär zu verbieten, um „Standards“ durchzusetzen. Es ist der Versuch, durch äußere Form Disziplin in eine als chaotisch empfundene Welt zu bringen.

Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet diese Regierung Zivilität einfordert. Kritiker weisen darauf hin, dass Präsident Trump selbst für seine verbale Aggressivität bekannt ist – sei es, indem er einen Reporter als „Schweinchen“ (piggy) bezeichnet oder das Aussehen politischer Gegner kommentiert. Wenn Höflichkeit eingefordert wird, während die politische Führungsebene durch Pöbeleien auffällt, wirkt der Appell an den kleinen Bürger hohl. „Zivilität und Respekt müssen in beide Richtungen gehen“, schreibt ein Leserbriefschreiber treffend.

Auch die Fluggesellschaften haben in der Vergangenheit versucht, Kleidervorschriften durchzusetzen, allerdings mit begrenztem Erfolg und oft zum PR-Desaster. United Airlines erntete 2017 einen Shitstorm, als es Teenagern in Leggings den Zutritt verwehrte (allerdings als Angehörige von Mitarbeitern, die Freiflüge nutzten). Spirit Airlines warnt in seinen Beförderungsbedingungen vor „anzüglicher“ Kleidung. Doch diese Regeln sind Flickwerk und adressieren nicht den Kern des Problems.

Eine Frage der Würde, nicht der Wolle

Am Ende bleibt der Eindruck, dass Minister Duffy versucht, ein strukturelles Problem mit einem ästhetischen Pflaster zu heilen. Die Sehnsucht nach dem „Goldenen Zeitalter“ ist verständlich – wer möchte nicht mit Beinfreiheit und Porzellangeschirr reisen? – doch sie ignoriert die ökonomischen Realitäten des 21. Jahrhunderts. Die Rückkehr zu den Standards von 1958 würde auch eine Rückkehr zu den Preisen von 1958 bedeuten, was das Fliegen für die breite Masse wieder unmöglich machen würde.

Wenn die Regierung ernsthaft die „Air Rage“ bekämpfen will, muss sie tiefer graben als bis in den Kleiderschrank der Passagiere. Sie müsste sich den Fragen der Sitzplatzdichte, der Personalausstattung bei der Flugsicherung und der Rechenschaftspflicht der Airlines stellen. Zivilität ist keine Einbahnstraße. Sie entsteht dort, wo Menschen sich mit Würde behandelt fühlen.

Solange Passagiere das Gefühl haben, nur Frachtgut in einem Profitmaximierungssystem zu sein, werden sie sich auch so verhalten – und sich entsprechend kleiden. Der Pyjama im Flugzeug ist vielleicht kein Zeichen von mangelndem Respekt vor der Luftfahrt, sondern ein stiller Protest gegen eine Industrie, die den Respekt vor ihren Kunden schon lange an der Bordsteinkante abgesetzt hat. Die wahre „Goldene Ära“ beginnt nicht mit einem Anzug, sondern mit einem Sitz, in dem man atmen kann.

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