Der große Ausverkauf: Wie der Westen die Ukraine im Winter 2025 neu vermisst

Illustration: KI-generiert

Während in Moskau US-Gesandte mit Wladimir Putin über die Köpfe der Europäer hinweg verhandeln, bröckelt in Kiew die Front und das Vertrauen. Der Traum von der transatlantischen Einheit weicht einer neuen, kühlen Realität, in der Deals wichtiger sind als Werte und Landkarten neu gezeichnet werden.

Es ist ein kalter Dezember im Jahr 2025, und die politische Weltordnung, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kannten, scheint sich in Echtzeit aufzulösen. Nicht mit einem lauten Knall, sondern in den gedämpften Konferenzräumen des Kremls und den geschäftigen Hallen von Mar-a-Lago. Zwei Wochen nachdem Präsident Donald Trump eine Frist für einen Friedensvertrag hatte verstreichen lassen, wird deutlich: Die USA haben ihre Rolle gewechselt. Sie sind nicht mehr der unerschütterliche Schutzpatron der NATO-Ostflanke, sondern verstehen sich nun als kühler Makler in einem Konflikt, den sie zunehmend als Belastung empfinden. Die Ukraine, militärisch in der Defensive und innenpolitisch von Korruptionsskandalen erschüttert, steht vor der bittersten Wahl ihrer jungen Geschichte, während Europa am Katzentisch der Diplomatie Platz nehmen muss.

Das Ende der Allianz: Wenn der Partner zum Makler wird

Die Szenerie könnte symbolträchtiger kaum sein: Während die Außenminister der NATO in Brüssel zusammenkamen, um Geschlossenheit zu demonstrieren, fehlte der wichtigste Mann im Raum. US-Außenminister Marco Rubio glänzte durch Abwesenheit. Stattdessen saßen Trumps Sondergesandter Steve Witkoff und sein Schwiegersohn Jared Kushner in Moskau, um in einem fünfstündigen Marathon mit Wladimir Putin über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln. Es ist eine diplomatische Demütigung für Brüssel, Berlin und Paris. Die USA agieren nicht mehr als „Primus inter Pares“ innerhalb der Allianz, sondern machen, wie es ein Diplomat formulierte, „ihr eigenes Ding“.

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Diese Verschiebung ist fundamental. Der Geist des neuen US-Plans suggeriert, dass Washington nicht mehr länger in einem Lager steht, sondern über den Dingen schwebt. Für die Europäer, die Russland als existentielle Bedrohung wahrnehmen, ist diese Haltung eine Katastrophe. Sie müssen hilflos zusehen, wie über ihre Sicherheitsarchitektur verhandelt wird, ohne selbst am Tisch zu sitzen. Die Angst geht um, dass hier ein Deal geschmiedet wird, der die Souveränität der Ukraine opfert, um Trumps Wahlversprechen eines schnellen Friedens einzulösen.

Pokrowsk und die Anatomie des militärischen Zerfalls

Während die Diplomaten Karten studieren, schafft die russische Armee Fakten. Der Fall von Pokrowsk, einem logistischen Nadelöhr im Donbas, markiert einen Wendepunkt in diesem zermürbenden Abnutzungskrieg. Es ist nicht nur der Verlust einer Stadt; es ist der Verlust der logistischen Hauptschlagader, die die ukrainischen Truppen im Osten versorgte. Die russische Taktik hat sich gewandelt: Statt großer mechanisierter Verbände setzen sie nun auf die Infiltration durch kleine Infanteriegruppen – eine Methode, die zwar hohe Verluste fordert, aber gegen die ukrainische Verteidigung, die unter Munitionsmangel und Erschöpfung leidet, grausame Erfolge erzielt.

Die Einnahme von Pokrowsk wird vom Kreml propagandistisch ausgeschlachtet, um die Unausweichlichkeit eines russischen Sieges zu suggerieren. Und diese Botschaft verfängt, nicht zuletzt bei den US-Verhandlern, die Putins militärisches Selbstbewusstsein als Argument nutzen, um Kiew zu Zugeständnissen zu drängen. Die ukrainischen Soldaten an der Front, die oft in unterbesetzten Einheiten kämpfen, sehen sich einer Übermacht gegenüber, die bereit ist, für jeden Meter Boden tausende Leben zu opfern. Für sie ist ein Waffenstillstand, der Russland Zeit zur Reorganisation gibt, kein Frieden, sondern nur das Vorspiel zum nächsten, noch blutigeren Krieg.

Der Feind im Inneren: Wie Korruption die Verteidigung sabotiert

Doch die Ukraine kämpft nicht nur gegen russische Invasoren, sondern auch gegen die eigenen Dämonen. In einer Zeit, in der jeder Dollar und jede Patrone über das Überleben der Nation entscheidet, erschüttern Korruptionsskandale das Vertrauen der westlichen Geldgeber. Besonders gravierend ist die Situation bei den staatlichen Rüstungs- und Energieunternehmen. Die Regierung unter Wolodymyr Selenskyj hat systematisch die unabhängigen Aufsichtsräte entmachtet, die einst als Garanten gegen Misswirtschaft installiert wurden.

Beim staatlichen Atomkonzern Energoatom etwa wurde der Aufsichtsrat so lange blockiert und manipuliert, bis die Regierung die volle Kontrolle zurückerlangte – mit fatalen Folgen. Ermittler sprechen von Kickback-Zahlungen in Millionenhöhe, während an der Front die Ausrüstung fehlt. Auch die Verteidigungsbeschaffungsagentur, die eigentlich für saubere Waffenkäufe sorgen sollte, wurde durch Satzungsänderungen ihrer Unabhängigkeit beraubt. Diese „systematische Sabotage“ der Kontrolle ist Wasser auf die Mühlen jener Kräfte im Westen, die schon immer argumentierten, die Ukraine sei ein „Fass ohne Boden“. Wenn Europa und die USA sehen, dass ihre Hilfsgelder in dunklen Kanälen versickern, schwindet die Bereitschaft, das Land weiter bedingungslos zu finanzieren. Die Korruption wird so zur zweiten Front, an der die Ukraine zu verlieren droht.

Die finanzielle Bazooka, die zum Pflaster wurde

Die Hoffnung, dass Europa die Lücke füllen könnte, die der Rückzug der USA hinterlässt, erweist sich zunehmend als Illusion. Der große Plan, eingefrorene russische Vermögenswerte im Wert von über 200 Milliarden Euro zu nutzen, um Kiews Kriegskasse zu füllen, ist ins Stocken geraten. Was als „finanzielle Bazooka“ gedacht war, um Putin das Fürchten zu lehren, droht zu einem finanziellen „Pflaster“ zu verkommen.

Der Widerstand kommt ausgerechnet aus dem Herzen Europas: Belgien. Das Land, in dem der Großteil der Gelder bei der Clearingstelle Euroclear liegt, blockiert den Plan aus Angst vor rechtlichen und finanziellen Risiken. Die belgische Regierung fürchtet, dass Russland im Falle einer Konfiskation oder auch nur Nutzung der Zinserträge klagen könnte und der belgische Steuerzahler am Ende die Zeche zahlt. Diese Risikoaversion, gepaart mit der ungarischen Blockadepolitik, lähmt die europäische Handlungsfähigkeit in einem Moment, in dem Entschlossenheit überlebenswichtig wäre. Wenn Europa nicht einmal in der Lage ist, das Geld des Aggressors gegen ihn zu verwenden, wie soll es dann glaubwürdig für die Sicherheit des Kontinents garantieren?

Putins indischer Tango: Die Umgehung des Westens

Während der Westen mit sich selbst ringt, demonstriert Wladimir Putin, dass er keineswegs isoliert ist. Sein Staatsbesuch in Indien gleicht einem Triumphzug der Diplomatie des „Globalen Südens“. Premierminister Narendra Modi empfängt den russischen Präsidenten mit offenen Armen, eine Geste, die weit mehr ist als nur Höflichkeit. Trotz massiver US-Sanktionen fließt russisches Öl weiterhin in Strömen nach Indien – ein lebenswichtiger Einkommensstrom für den Kreml, um seine Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten.

Zwar zeigen die Sanktionen Wirkung und indische Raffinerien reduzierten zuletzt ihre Abnahmemengen aus Angst vor US-Strafmaßnahmen, doch Moskau und Neu-Delhi arbeiten bereits an neuen Umgehungsmöglichkeiten. Der Handel blüht, und Putin nutzt die Bühne, um der Welt zu zeigen: Russland hat Partner von globaler Bedeutung. Die indische Regierung vollzieht dabei einen Drahtseilakt, indem sie russische Waffen kauft und gleichzeitig versucht, Washington nicht vollends zu verprellen. Doch die Botschaft ist klar: Die Versuche des Westens, Russland wirtschaftlich zu strangulieren, stoßen an ihre Grenzen, solange Giganten wie Indien und China ihre eigenen Interessen verfolgen.

Das Trauma von Budapest und die Suche nach Sicherheit

Im Kern der aktuellen Verhandlungen steht eine Frage, die weit über Gebietsverluste hinausgeht: Wie kann die Ukraine sicher sein, dass ein Frieden nicht nur eine Atempause ist? Das Trauma des Budapester Memorandums von 1994 sitzt tief. Damals gab die Ukraine ihr nukleares Arsenal – das drittgrößte der Welt – auf, im Tausch gegen Sicherheitszusicherungen von Russland, den USA und Großbritannien. Diese Zusicherungen erwiesen sich 2014 und 2022 als das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt waren.

Heute fordert Kiew „harte“ Garantien, idealerweise die NATO-Mitgliedschaft. Doch genau das ist für den Kreml die rote Linie, und auch der Trump-Plan scheint dies auszuschließen. Die Diskrepanz zwischen den geleakten 28 Punkten des US-Plans, der territoriale Zugeständnisse und Neutralität vorsieht, und den existentiellen Bedürfnissen der Ukraine ist gewaltig. Ein „schmutziger Deal“, der Putin seine Eroberungen lässt, ohne der Ukraine den Schutzschirm der NATO zu bieten, wäre für Kiew kein Frieden, sondern eine Kapitulation auf Raten. Ukrainische Soldaten an der Front sind überzeugt: Ohne echte Sicherheitsgarantien wird Russland in drei bis fünf Jahren zurückkehren, stärker und besser vorbereitet.

Die „Trump-Doktrin“: Amerika zieht sich zurück

Hinter all diesen Entwicklungen steht eine ideologische Neuausrichtung in Washington, die Europa das Blut in den Adern gefrieren lassen muss. Die neue nationale Sicherheitsstrategie der Trump-Administration, oft als „Trump Corollary“ zur Monroe-Doktrin bezeichnet, markiert eine radikale Abkehr vom Transatlantismus. Der Fokus der USA verschiebt sich weg von Europa hin zur westlichen Hemisphäre, zur Grenzsicherung und zum Kampf gegen Drogenkartelle.

Das Dokument liest sich wie eine Absage an die Rolle der USA als „Atlas“, der die Weltordnung auf seinen Schultern trägt. Schlimmer noch: Es kritisiert europäische Regierungen offen dafür, den Krieg in der Ukraine gegen den Willen ihrer eigenen Bevölkerung zu verlängern. Diese Rhetorik übernimmt fast wortgleich russische Narrative und signalisiert, dass die USA unter Trump bereit sind, die Sicherheitsinteressen Europas für eine vage „strategische Stabilität“ mit Russland zu opfern. Die Abwesenheit Rubios bei NATO-Treffen ist kein terminlicher Engpass, sie ist ein politisches Statement: Europa ist nicht mehr Priorität.

Das Schweigen aus Peking

In diesem geopolitischen Vakuum hofft Europa verzweifelt auf China als mäßigenden Einfluss. Doch Emmanuel Macrons Versuche, Xi Jinping zu einer aktiveren Rolle im Friedensprozess zu bewegen, laufen ins Leere. Peking spielt sein eigenes Spiel. Xi unterstützt zwar verbal den Frieden, tut aber nichts, um Putin unter Druck zu setzen. China profitiert davon, dass die USA in Europa gebunden sind und Russland wirtschaftlich zum Juniorpartner degradiert wird. Für Macron und die Europäer bleibt die bittere Erkenntnis, dass ihre wirtschaftlichen Verflechtungen mit China nicht ausreichen, um Peking politisch zu bewegen.

Fazit: Ein Winter der Entscheidung

Der Winter 2025 stellt die Ukraine und Europa vor existentielle Fragen. Die USA drängen auf einen Deal, der die Realitäten auf dem Schlachtfeld anerkennt – Realitäten, die durch das Zögern des Westens bei Waffenlieferungen erst geschaffen wurden. Russland fühlt sich militärisch im Aufwind und sieht wenig Grund für Kompromisse, solange es glaubt, seine Ziele mit Gewalt erreichen zu können.

Die Gefahr eines „Diktatfriedens“ ist real. Ein Abkommen, das der Ukraine Land raubt, ihr den NATO-Beitritt verwehrt und sie innenpolitisch durch Korruption und Frustration destabilisiert zurücklässt, wäre ein historisches Scheitern des Westens. Es würde signalisieren, dass Grenzen im 21. Jahrhundert wieder mit Gewalt verschoben werden können und dass Sicherheitsgarantien nur für diejenigen gelten, die sie sich selbst militärisch leisten können.

Europa steht vor der Wahl: Entweder es füllt das Sicherheitsvakuum, das die USA hinterlassen – finanziell, militärisch und politisch – oder es akzeptiert, dass seine Sicherheit künftig in Moskau und Mar-a-Lago verhandelt wird. Die Zeit der bequemen Abhängigkeit ist vorbei. Was folgt, ist die raue Luft der geopolitischen Einsamkeit. Die Ukraine zahlt bereits den Preis dafür. Der Rest Europas könnte der Nächste sein.

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