Der Gouverneur, der den Bund herausfordert: J. B. Pritzkers Kampf um Chicago und seine amerikanische Zukunft

Illustration: KI-generiert

Es ist ein Bild, das sich in das politische Gedächtnis des Herbstes 2025 brennt: Bundesagenten in schwerer Ausrüstung, die durch die Straßen von Chicago patroulieren. Eine Metropole, von der amtierenden Administration in Washington zur „Kriegszone“ erklärt. Und mittendrin ein Mann, der diese Erzählung nicht nur zurückweist, sondern zum Zentrum seines politischen Handelns macht: J. B. Pritzker, der Gouverneur von Illinois.

Der Konflikt zwischen dem Bundesstaat und der Zentralregierung ist weit mehr als ein administratives Scharmützel. Es ist ein Ringen um die Deutungshoheit, ein juristischer Seiltanz und ein hochgradig personalisierter Machtkampf. Für die Trump-Administration ist Chicago ein Symbol des Scheiterns „blauer“ Staaten, ein urbaner Raum, der mit der vollen Härte des Bundes „befriedet“ werden muss. Für Pritzker ist genau dieser Einsatz von ICE- und CBP-Einheiten eine „fabrizierte Krise“, eine aggressive „Militarisierung“ und, in seinen schärfsten Worten, „rassistische Profilierung“ unter dem Deckmantel der Strafverfolgung.

Dieser Kampf wird nicht nur mit Worten geführt. Er hat sich zu einer veritablen juristischen und administrativen Konfrontation ausgewachsen, die das föderale Gefüge der Vereinigten Staaten auf eine harte Probe stellt. Pritzker, ein milliardenschwerer Erbe der Hyatt-Hotels, der kein Gehalt als Gouverneur bezieht, inszeniert sich als Fels in der Brandung, als der „happy warrior“, der er seit Trumps Wahlsieg sein will. Doch der Konflikt um Chicago ist für ihn ebenso ein persönliches Manöver auf dem Weg zur Präsidentschaftskandidatur 2028 – ein gefährlicher Balanceakt zwischen Verfassungspatriotismus und politischem Kalkül.

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Pritzkers Arsenal: Wie ein Gouverneur zurückschlägt

Angesichts der massiven Bundespräsenz bleibt Pritzker nicht passiv. Er agiert nicht nur als Kritiker, sondern als Stratege, der die ihm zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung setzt. Sein bemerkenswertester Schachzug ist die Einrichtung einer staatlichen „accountability commission“, einer Rechenschaftskommission. Dieses Gremium, besetzt mit Gemeindeführern, soll jede Aktion der Bundesbeamten minutiös dokumentieren. Bürger werden aufgerufen, Videos zu machen, Zeugenaussagen zu sammeln. Die Idee ist zweigleisig: Kurzfristig soll sie eine abschreckende Wirkung entfalten; Bundesagenten, die wissen, dass ihre Handlungen aufgezeichnet und für zukünftige Anhörungen – vielleicht unter einem anderen Kongress – archiviert werden, könnten zögerlicher agieren. Langfristig, so das Kalkül, schafft Pritzker damit ein Beweisarchiv für die Zeit nach Trump. Es ist der Aufbau einer juristischen Infrastruktur des Widerstands, ein Signal, dass der Staat Illinois nicht gewillt ist, die Aktionen der Bundesexekutive als gegeben hinzunehmen.

Die rote Linie: Ein Kampf um die Nationalgarde und das Recht

Dieser administrative Widerstand manifestiert sich am schärfsten an der verfassungsrechtlichen Bruchstelle: dem Kampf um die Nationalgarde. Hier wird der Konflikt existenziell. Die Trump-Administration versucht, die Nationalgarde in Illinois zu föderalisieren, sie dem Kommando des Gouverneurs zu entziehen. Pritzker klagt dagegen – und ist damit nicht allein. Gerichte in Illinois, aber auch in Kalifornien und Oregon, haben ähnliche Versuche der Administration blockiert.

Diese Gerichtsentscheidungen sind von immenser Tragweite. Sie berühren den Kern des Posse Comitatus Act, jenes Gesetzes, das den Einsatz von Militär im Inland streng reglementiert. Die Richter müssen abwägen, wo die Befugnisse des Präsidenten enden und die Souveränität eines Bundesstaates beginnt. Die Administration argumentiert mit der Notwendigkeit, Bundeseigentum und -personal zu schützen. Die Gouverneure, Pritzker und sein kalifornisches Pendant Gavin Newsom, sehen darin einen Vorwand, um eine militärische Besatzung zu legitimieren und politisch unliebsame Staaten zu disziplinieren. Jede dieser juristischen Auseinandersetzungen ist ein Präzedenzfall. Es ist ein Kampf um die Definition von „Aufstand“ und „innerem Notstand“, der die Balance zwischen Washington und den Einzelstaaten für Generationen neu justieren könnte. Pritzker steht hier an vorderster Front und weiß, dass die Geschichtsbücher diesen Moment festhalten werden.

Die Schlacht der Bilder: „Kriegszone“ gegen Realität

Während die Anwälte im Stillen Schriftsätze verfassen, tobt öffentlich ein Krieg der Narrative, der mit allen Mitteln der Kommunikation geführt wird. Die Administration zeichnet das Bild eines apokalyptischen Chicagos, das im Chaos versinkt. Diese Rhetorik dient als strategische Grundlage für die Entsendung der Truppen. Pritzker und lokale Beobachter kontern dieses Bild vehement. Sie verweisen auf offizielle Kriminalitätsstatistiken, die zwar, wie in vielen Städten, Herausforderungen zeigen, aber das Narrativ der „Kriegszone“ als propagandistische Übertreibung entlarven. Die Realität, so Pritzker, sei keine Stadt in Flammen, sondern eine Stadt, in der Bundesagenten Angst und Schrecken verbreiten.

Die Belege für den Vorwurf des „racial profiling“ speisen sich aus den Razzien selbst. Es sind Berichte von Anwohnern über massive Einsätze in Wohnkomplexen, bei denen Hunderte durchsucht wurden, um eine Handvoll Verdächtige zu finden. Es sind die Geschichten von US-Bürgern, die sich Sorgen machen, wegen ihrer Hautfarbe ins Visier zu geraten. Dieser Deutungskampf wird besonders scharf, wenn es zu Eskalationen kommt. Nach der Schießerei auf eine Autofahrerin durch einen Bundesagenten prallen die Darstellungen frontal aufeinander: Das Department of Homeland Security (DHS) spricht von einem Akt der Selbstverteidigung gegen ein „rammendes“ Fahrzeug. Lokale Zeugen und Aktivisten berichten von einer unprovozierten Eskalation. Pritzker nutzt solche Momente, um die Bundespräsenz als das eigentliche Problem darzustellen – als den Funken, der die Lunte erst entzündet, während beide Seiten, Pritzker wie Trump, die Medien virtuos für ihre Zwecke nutzen.

Die Langzeitstrategie: Von Chicago nach Washington D.C.?

Es wäre naiv zu glauben, Pritzkers Handeln sei allein von Sorge um seinen Bundesstaat getrieben. Jede Konfrontation mit Trump ist für einen demokratischen Gouverneur im Jahr 2025 auch eine Bewerbung für höhere Weihen. Der Konflikt dient Pritzker unverkennbar dazu, sein Profil für eine mögliche Präsidentschaftskandidatur 2028 zu schärfen. Er kultiviert das Image des Machers, des Kämpfers, der nicht nur redet, sondern handelt. Während er selbst versucht, die Debatte über seine Ambitionen herunterzuspielen und auf die drängenden Probleme vor Ort zu verweisen, ist die nationale Bühne längst aufgebaut.

Interessant ist der Vergleich mit Gavin Newsom. Beide, Pritzker und Newsom, regieren große „blaue“ Staaten und sind natürliche Rivalen um die Führung der Partei. Doch ihre Stile unterscheiden sich. Wo Newsom oft auf medienwirksames „Trolling“ der Administration in sozialen Medien setzt, wählt Pritzker den Weg der puren Belligerenz. Er sucht die frontale Auseinandersetzung, die administrative und juristische Schlacht. Er positioniert sich als der kompromisslose Architekt des Widerstands, eine Haltung, die bei der demokratischen Basis gut ankommt.

Die düstere Prognose: Von Razzien zu Wahlen

Pritzkers Strategie blickt jedoch nicht nur auf 2028, sondern auch auf eine sehr viel unmittelbarere Bedrohung. Die vielleicht beunruhigendste Dimension dieses Konflikts ist seine Warnung vor den Auswirkungen auf den demokratischen Prozess selbst. Er sieht in der eskalierenden Bundespräsenz nicht nur ein polizeiliches, sondern ein politisches Manöver mit einem klaren Ziel: die Zwischenwahlen 2026.

Die Vorstellung, die er zeichnet, ist dystopisch: Bundesagenten in Uniform, vielleicht sogar bewaffnet, die vor Wahllokalen in überwiegend demokratisch wählenden Stadtteilen Stellung beziehen. Es ist das Szenario einer gezielten Einschüchterung. Eine Taktik, die darauf abzielt, Minderheiten vom Wählen abzuhalten und das Vertrauen in den Wahlprozess zu untergraben. Diese Befürchtung erhebt den Konflikt von einer Frage der öffentlichen Ordnung zu einer fundamentalen Bedrohung der amerikanischen Demokratie. Es geht nicht mehr nur um Einwanderung oder Kriminalität, sondern um die Frage, ob die Exekutive ihre Macht missbraucht, um den Ausgang von Wahlen zu manipulieren.

Der Preis der Politik: Angst als neuer Normalzustand

Abseits der politischen Strategien und der juristischen Debatten hat die Bundesintervention einen sehr realen, menschlichen Preis. Die massiven Razzien und die militaristische Rhetorik schaffen ein Klima der Angst, das weit über die Zielgruppen der Einwanderungsbehörden hinausgeht. Anwohner berichten von einer Verunsicherung, die den Alltag durchdringt. Selbst US-Bürger, die in den betroffenen Vierteln leben, entwickeln Notfallpläne und rüsten sich mit Trackern in Schuhen aus, aus Angst, in das Netz der Razzien zu geraten. Diese unbeabsichtigten Folgen sind ein Kollateralschaden, der das soziale Gefüge der Stadt zersetzt. Das Vertrauen in staatliche Autorität – egal ob lokal oder föderal – erodiert. Pritzker steht vor der Herausforderung, nicht nur gegen Washington zu kämpfen, sondern auch die Wunden zu versorgen, die dieser Kampf in seiner eigenen Bevölkerung hinterlässt.

Das Pritzker-Paradoxon: Milliardär, Zocker und Volkstribun

Wer ist dieser Mann, der sich zum Anführer des Widerstands aufschwingt? J. B. Pritzker ist eine Gestalt voller faszinierender Widersprüche. Als Erbe eines Milliardenvermögens könnte er ein distanziertes Leben jenseits der Politik führen. Stattdessen sucht er die raue Arena der Öffentlichkeit. Sein Verzicht auf das Gouverneursgehalt ist eine Geste, die seine finanzielle Unabhängigkeit demonstrieren soll. Doch diese Unabhängigkeit hat auch eine Kehrseite, die seine Gegner genüsslich ausschlachten.

Die jüngste Berichterstattung über seinen Blackjack-Gewinn von 1,4 Millionen Dollar in Las Vegas ist ein gefundenes Fressen. Wie beeinflusst dieses Bild – der Milliardär, der aus Glücksspiel mehr Geld gewinnt, als die meisten seiner Wähler in zehn Jahren verdienen – die öffentliche Wahrnehmung? Für die einen mag es seine Weltgewandtheit und sein Glück unterstreichen. Für die anderen zementiert es das Bild eines Mannes, der in einer völlig anderen Stratosphäre lebt, abgekoppelt von den Sorgen der Normalbürger. Pritzker selbst, ein begeisterter Kartenspieler, der auch Pokerturniere für wohltätige Zwecke veranstaltet, gibt sich volksnah und spricht von „unglaublichem Glück“. Doch in einem politischen Kampf, der so stark auf Symbolik beruht, ist diese Episode ein unkalkulierbarer Faktor für seine Marke.

Jonglieren mit brennenden Bällen: Hoovers Erbe und Pritzkers Dilemma

Als wäre der Kampf mit Washington nicht genug, muss Pritzker gleichzeitig ein politisches Minenfeld auf Landesebene navigieren. Kaum etwas illustriert dies besser als der Clemency-Antrag des berüchtigten Gang-Anführers Larry Hoover. Trump hatte Hoover bereits auf Bundesebene begnadigt – ein Manöver, das viele als reinen Populismus sahen. Nun liegt der Ball bei Pritzker, der über Hoovers Strafe auf Staatsebene entscheiden muss. Es ist ein Dilemma ohne einfachen Ausweg. Gibt er dem Antrag statt, wird man ihm Schwäche gegenüber Kriminellen vorwerfen – ein Giftpfeil in jedem Wahlkampf, besonders angesichts der „Kriegszone“-Rhetorik. Lehnt er ab, verprellt er möglicherweise Reformer und einen Teil der schwarzen Wählerschaft, die in Hoover eine Symbolfigur für die Resozialisierung sehen.

Dieser Balanceakt setzt sich in seiner Haltung zur Kriminalitätsbekämpfung fort. Pritzker befindet sich im Zielkonflikt, einerseits die Intervention von ICE und CBP als Einmischung kategorisch abzulehnen, andererseits aber durchaus den Wunsch nach mehr Bundesunterstützung zu äußern. Er würde sich über mehr Ressourcen vom FBI, der DEA oder dem ATF freuen – Agenturen, die sich auf organisierte Kriminalität und Waffenschmuggel konzentrieren. Doch Washington schickt stattdessen Einwanderungsbeamte. Pritzker muss den Spagat schaffen, als „tough on crime“ zu gelten, ohne die Prinzipien des Föderalismus und der Bürgerrechte zu verraten.

Offene Rechnungen in einer gespaltenen Nation

Der Herbst 2025 zeigt ein Amerika, dessen innere Konfliktlinien schärfer denn je verlaufen. Der Machtkampf zwischen J. B. Pritzker und der Trump-Administration ist kein isoliertes Ereignis, sondern ein Symptom für eine tiefere Krise des föderalen Systems. Wie weit kann dieser Konflikt eskalieren? Die Bedingungen für eine weitere Zuspitzung sind gegeben. Solange die Administration ihre strategischen Ziele in „blauen“ Städten verfolgt und Gouverneure wie Pritzker jeden juristischen und administrativen Hebel dagegen in Stellung bringen, bleibt die Lage explosiv.

Am Ende bleiben Fragen, die über den Tag hinausweisen: Wie viel Macht darf die Zentralregierung in den Bundesstaaten ausüben? Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Strafverfolgung und politischer Einschüchterung? Und welche langfristigen Folgen hat es, wenn das Vertrauen zwischen den Regierungsebenen derart fundamental zerstört ist? J. B. Pritzker hat sich entschieden, diesen Kampf anzunehmen. Er führt ihn für Illinois, aber auch unverkennbar für sich selbst. Die kommenden Monate werden zeigen, ob er als Verteidiger der Verfassung in die Geschichte eingeht oder als ein weiterer Akteur, der im Ringen um die Macht die Balance verloren hat. Chicago ist dabei nur das erste Schlachtfeld.

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