
Es ist ein politisches Erdbeben in Kyjiw, dessen Erschütterungen bis nach Washington und Moskau reichen. Mit Andrij Jermak verliert Wolodymyr Selenskyj nicht nur seinen Stabschef, sondern seinen wichtigsten Architekten der Macht. Der erzwungene Rücktritt inmitten eines massiven Korruptionsskandals ist ein Sieg für den Rechtsstaat und zugleich ein strategischer Albtraum für ein Land, das an der Front ums Überleben kämpft.
Die Dämmerung über dem Kyjiwer Regierungsviertel war noch nicht gewichen, als sich am vergangenen Freitagmorgen eine Szene abspielte, die in der ukrainischen Geschichte als Zäsur gelten dürfte. Männer in Schutzwesten, gezeichnet mit dem Kürzel NABU, durchschritten die sonst hermetisch abgeriegelten Kontrollpunkte der Bankowa-Straße. Ihr Ziel war nicht irgendein Büro, sondern das Zentrum der ukrainischen Machtarchitektur: die Räumlichkeiten und die Privatwohnung von Andrij Jermak. Dass die Ermittler des Nationalen Antikorruptionsbüros Zugang zum Allerheiligsten der ukrainischen Führung erhielten, markierte das Ende einer Ära, in der Jermak als unantastbar galt. Wenige Stunden später war der Mann, der als zweitmächtigste Figur des Staates galt, Geschichte. Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündete am Abend den Rücktritt seines engsten Vertrauten, ein Schritt, der offiziell als freiwilliger Verzicht inszeniert wurde, faktisch aber einer Entlassung unter dem erdrückenden Druck der Beweislast und der westlichen Partner gleichkam.
Dieser personelle Kahlschlag trifft die Ukraine in ihrer wohl vulnerabelsten Phase seit Beginn der russischen Vollinvasion vor fast vier Jahren. Während an der Front im Donbass die Verteidigungslinien bröckeln und russische Truppen unaufhaltsam vorrücken, verliert die politische Führung in Kyjiw ihren Kopf. Jermak war mehr als ein Stabschef; er war der unermüdliche Motor der ukrainischen Diplomatie, der Verhandlungsführer mit der neuen US-Administration unter Donald Trump und der Mann, der im Hintergrund die Fäden der Innenpolitik zog. Sein Sturz reißt ein Vakuum in die ukrainische Strategie, genau in dem Moment, in dem über die Zukunft des Landes verhandelt wird.

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Die Anatomie des Minditsch-Gate: Ein Sumpf im Energiesektor
Der Skandal, der Jermak zu Fall brachte, ist nicht das Ergebnis eines einzelnen Fehltritts, sondern die Enthüllung eines systemischen Krebsgeschwürs, das die ukrainische Kriegswirtschaft befallen hat. Im Zentrum steht der Energiesektor, die Lebensader des Landes, die durch russische Angriffe ohnehin am seidenen Faden hängt. Ermittlungen der Antikorruptionsbehörden NABU und SAPO haben ein Netzwerk aufgedeckt, das sich wie ein Parasit an den staatlichen Atomenergiekonzern Enerhoatom geheftet hatte. Es geht um Schmiergelder, Veruntreuung und Kickbacks in Höhe von mindestens 100 Millionen Dollar, Gelder, die unter anderem beim Bau von Schutzbunkern für Kraftwerke abgezweigt wurden.
Die zentrale Figur in diesem Geflecht ist Timur Minditsch, ein ehemaliger Geschäftspartner und enger Freund von Präsident Selenskyj. Minditsch, der inzwischen nach Israel geflohen ist, gilt als der mutmaßliche Kopf einer Gruppe von Insidern, die bis zu 15 Prozent Rückvergütung auf staatliche Verträge verlangten. Doch der Skandal blieb nicht bei zwielichtigen Geschäftsleuten stehen; er fraß sich bis in die höchsten Regierungskreise. Zwei Minister mussten bereits ihren Hut nehmen, und auch Rustem Umerow, der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, geriet ins Visier der Ermittler. Umerow, der ebenfalls eine Schlüsselrolle in den Verhandlungen mit dem Westen spielt, wurde zu Vorwürfen befragt, er habe sich für einen Lieferanten minderwertiger Schutzwesten eingesetzt.
Die Indizienkette, die schließlich zu Jermak führte, ist erdrückend. In abgehörten Gesprächen, von denen die Ermittler über 1.000 Stunden Material gesammelt haben, taucht immer wieder ein mysteriöser Akteur mit dem Codenamen „Ali Baba“ auf. Dieser „Ali Baba“ soll Anweisungen gegeben haben, die Ermittlungen gegen das Korruptionsnetzwerk zu behindern und Staatsanwälte unter Druck zu setzen. Für den Abgeordneten Jaroslaw Schelesniak und viele Beobachter in Kyjiw besteht kein Zweifel: Hinter dem Märchennamen verbirgt sich Andrij Boryssowytsch Jermak. Dass Geld aus den illegalen Geschäften in den Bau von Luxusvillen bei Kyjiw geflossen sein soll, eine davon mutmaßlich für Jermak bestimmt, verdichtete den Verdacht zur politischen Unhaltbarkeit.
Der Schattenpräsident: Machtfülle jenseits der Verfassung
Um die Tragweite von Jermaks Sturz zu verstehen, muss man die Architektur seiner Macht betrachten. Offiziell leitete er lediglich das Präsidialbüro, eine Institution, deren Befugnisse in der ukrainischen Verfassung kaum definiert sind und die eigentlich nur der administrativen Unterstützung des Staatsoberhauptes dienen sollte. Faktisch jedoch hatte Jermak diese Behörde zu einem Superministerium ausgebaut, das Parlament und Regierung zu bloßen Befehlsempfängern degradierte.
Seit Selenskyjs Amtsantritt 2019 und insbesondere seit der Eskalation des Krieges 2022 wuchs Jermak in eine Rolle hinein, die ihm den Beinamen „Vize-Präsident“ oder gar „Schattenpräsident“ einbrachte. Er kontrollierte den Zugang zum Präsidenten so rigoros, dass kein wichtiger Besucher und keine entscheidende Information an ihm vorbeikam. Er war der „Filter“ und der „Vollstrecker“, der unliebsame Rivalen politisch kaltstellte und loyale Gefolgsleute in Schlüsselpositionen hievte. Kritiker warfen ihm vor, das Parlament zu einer „Unterabteilung des Präsidialbüros“ gemacht zu haben, in der Gesetze nicht debattiert, sondern abgenickt wurden.
Diese Machtkonzentration war lange Zeit Selenskyjs Stärke und Schwäche zugleich. Jermak fungierte als Blitzableiter, der Kritik auf sich zog und den Präsidenten abschirmte. Er war der Mann für das Grobe, derjenige, der die unangenehmen Telefonate führte und die komplexen Deals im Hinterzimmer schmiedete. Die Symbiose der beiden Männer, der charismatische Kommunikator Selenskyj und der kühle Technokrat Jermak, schien unauflöslich. Dass Selenskyj bis zur letzten Minute an Jermak festhielt, obwohl der Druck aus der eigenen Partei und der Zivilgesellschaft unerträglich wurde, zeugt von dieser tiefen Abhängigkeit. Der Präsident sah in Jermak keinen Angestellten, sondern einen integralen Bestandteil seines eigenen politischen Überlebens.
Der institutionelle Krieg: Bankowa gegen Korruptionsjäger
Der Rücktritt Jermaks ist jedoch nicht nur das Ergebnis individuellen Fehlverhaltens, sondern der vorläufige Höhepunkt eines erbitterten Machtkampfes zwischen der alten politischen Elite und den neuen, unabhängigen Antikorruptionsinstitutionen. NABU und SAPO, die unter westlichem Druck aufgebaut wurden, haben sich als erstaunlich resilient erwiesen. Der Versuch des Präsidialamtes im vergangenen Juli, diese Behörden durch eine Gesetzesänderung zu entmachten und ihrer Unabhängigkeit zu berauben, kann heute als verzweifelter Präventivschlag gegen die nun erfolgten Ermittlungen gelesen werden.
Damals waren es Massenproteste der Zivilgesellschaft und scharfe Warnungen der internationalen Geldgeber, die Selenskyj zwangen, das Gesetz zurückzuziehen. Dass die Ermittler trotz des enormen politischen Drucks und der Versuche, sie durch loyale Generalstaatsanwälte zu blockieren, ihre Arbeit fortsetzten, ist ein bemerkenswertes Zeichen für die Reifung der ukrainischen Demokratie. Die Razzia am Freitagmorgen war somit auch eine Demonstration der Stärke: In der Ukraine steht niemand mehr über dem Gesetz, nicht einmal der Mann, der dem Präsidenten ins Ohr flüstert.
Doch dieser Sieg des Rechtsstaats birgt ein enormes Risiko. Aktivisten wie Daria Kalenjuk befürchten, dass das „System“ nun zu subtileren Methoden greifen wird, um die Korruptionsjäger zu diskreditieren oder durch fingierte Verfahren kaltzustellen. Die Gefahr einer Gegenreaktion des tiefen Staates ist real, zumal Schlüsselfiguren wie der SAPO-Chef Oleksandr Klymenko weiterhin im Fadenkreuz der Mächtigen stehen.
Das diplomatische Vakuum: Ein Geschenk für Putin?
Die wohl gefährlichste Dimension des Skandals liegt jedoch nicht in Kyjiw, sondern auf der internationalen Bühne. Jermak war der Kopf der ukrainischen Delegation in den Friedensgesprächen mit den USA. Er hatte gerade erst in Genf versucht, die härtesten Kanten des neuen US-Friedensplans abzuschleifen, und sollte sich in diesen Tagen erneut mit US-Vertretern treffen. Sein Wegfall reißt ein Loch in die ukrainische Verhandlungsstrategie, das so schnell nicht zu füllen ist.
Der Zeitpunkt könnte kaum schlechter gewählt sein. Die Trump-Administration drängt auf eine schnelle Lösung und hat mit dem sogenannten „28-Punkte-Plan“ ein Papier vorgelegt, das in Kyjiw die Alarmglocken schrillen lässt. Der Plan sieht unter anderem den Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft und faktische Gebietsabtretungen vor, Bedingungen, die für die Ukraine einer Kapitulation gleichkämen. Mit Jermak fehlt nun der Mann, der die Nuancen dieser Gespräche kannte und das Vertrauen oder zumindest den Respekt der amerikanischen Gegenseite besaß, auch wenn er dort oft als „schroff“ wahrgenommen wurde.
Wladimir Putin beobachtet dieses Chaos mit Genugtuung. In Bischkek präsentierte sich der Kremlchef entspannt und siegesgewiss. Er machte deutlich, dass er keine Eile hat und die politischen Wirren im Westen und in der Ukraine für sich arbeiten sieht. Seine Forderungen sind unmissverständlich: Rückzug der ukrainischen Truppen aus dem gesamten Donbass und den südlichen Regionen als Vorbedingung für Gespräche. Putin nutzt die Schwäche Kyjiws, um seine militärischen Ziele diplomatisch zu untermauern. Solange die Ukraine politisch mit sich selbst beschäftigt ist, kann Russland Fakten schaffen.
Die Rolle des US-Sondergesandten Steve Witkoff erschwert die Lage zusätzlich. Seine Nähe zu russischen Positionen und Berichte, er habe sich vom Kreml beraten lassen, nähren in Kyjiw den Verdacht, dass das Spiel längst abgekartet ist. Wenn Putin Witkoff öffentlich in Schutz nimmt und ihn als „Patrioten seines Landes“ bezeichnet, ist das für die Ukraine mehr Drohung als Beruhigung.
Die Front wankt: Korruption trifft auf Kriegsmüdigkeit
Während in den Regierungsfluren die Köpfe rollen, sterben an der Front die Soldaten. Die militärische Lage ist prekär. Russische Truppen rücken im Donbass vor, die Festung Pokrowsk droht zu fallen, und im Süden hat die russische Armee Geländegewinne erzielt, die in ihrer Geschwindigkeit an die Anfangsphase des Krieges erinnern. Die Korruptionsenthüllungen treffen auf eine Bevölkerung, die erschöpft ist von fast vier Jahren Krieg, stundenlangen Stromausfällen und der ständigen Angst vor dem nächsten Raketeneinschlag.
Dass sich hohe Beamte bereichern, während Soldaten an der Front unter Munitionsmangel leiden und Zivilisten im Dunkeln sitzen, wirkt wie Gift für die Moral. Die Wut auf die „Elite“, die sich in Sicherheit wähnt und Geschäfte macht, wächst. Der Skandal um minderwertige Schutzwesten, in den Rustem Umerow verwickelt sein soll, ist dabei besonders symbolträchtig: Er suggeriert, dass das Leben der Verteidiger für Profit aufs Spiel gesetzt wird.
Selenskyj steht nun vor der titanischen Aufgabe, das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern. Er hat eine „Neuaufstellung“ seines Büros angekündigt, doch die Personaldecke ist dünn. Namen wie Julija Swyrydenko oder Mychajlo Fedorow werden als Nachfolger gehandelt, Technokraten, die zwar kompetent sind, aber kaum über Jermaks brutale Durchsetzungskraft verfügen dürften.
Fazit: Ein Pyrrhussieg für die Demokratie?
Der Fall Jermak ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits beweist die Ukraine, dass ihre demokratischen Institutionen selbst im existenziellen Krieg funktionieren. Dass ein Mann von Jermaks Kaliber zur Rechenschaft gezogen wird, ist ein Signal an alle, dass die Zeiten der Straflosigkeit vorbei sind, eine Botschaft, die vor allem in Brüssel und Berlin, wo man die Korruptionsbekämpfung als Voraussetzung für weitere Hilfen sieht, wohlwollend registriert werden dürfte.
Andererseits hinterlässt der Skandal den Präsidenten isoliert und geschwächt wie nie zuvor. Selenskyj hat seinen wichtigsten Schild verloren. Er steht nun nackt im Wind, angreifbar für innenpolitische Gegner und erpressbar für internationale Partner. Wenn die USA und Russland über die Köpfe der Ukrainer hinweg verhandeln, fehlt in Kyjiw nun der erfahrene Stratege, der dagegenhalten könnte. Die Gefahr ist real, dass die Ukraine diesen Reinigungsprozess mit einem Diktatfrieden bezahlen muss, weil sie im entscheidenden Moment führungsschwach wirkt. Der Rücktritt Jermaks mag notwendig gewesen sein, um den Staat zu retten, er könnte aber auch der Moment sein, in dem der Krieg am Verhandlungstisch verloren geht.


