Der Architekt und sein Fluch: Das tragische Erbe des Dick Cheney

Illustration: KI-generiert

Er starb, wie er am Ende lebte: als ein Mann im Widerspruch. Mit 84 Jahren ist Dick Cheney gestorben, jener Vizepräsident, der das Amt zu einer Waffe umformte und als „Darth Vader“ der Bush-Jahre in die Geschichte einging. Doch sein Tod am 3. November 2025 hinterlässt ein zerrissenes Bild. Denn dieser „Darth Vader“, der Architekt des Irakkriegs und der Rechtfertiger der Folter, verbrachte seine letzten Jahre als einer der schärfsten Kritiker Donald Trumps und kündigte als ultimativen Bruch mit seiner Partei an, die Demokratin Kamala Harris zu wählen. Wie passt das zusammen? War dies eine Bekehrung in letzter Minute, eine Läuterung des Mannes, der einst „im Krieg gegen den Terror“ die „dunkle Seite“ umarmte?

Die Analyse seiner jahrzehntelangen Karriere legt einen unbequemeren Schluss nahe. Dick Cheney hat sich nicht geändert. Sein Leben war kein Bogen von einem Falken zu einer Taube, sondern eine starre Linie. Sein gesamtes politisches Handeln, von den Trümmern Watergates bis zum Schock des 11. Septembers, war einer einzigen Idee unterworfen: dem Glauben an eine unantastbare, fast imperiale Macht der Exekutive. Die ultimative, tragische Ironie seines Lebens ist, dass er, der Verfassungs-Konservative, ebenjener „imperialen Präsidentschaft“ den Weg bereitete, die er am Ende in den Händen eines Populisten wie Donald Trump als die „größte Bedrohung für unsere Republik“ verfluchte.

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Der Mann aus Wyoming: Ein Aufstieg in den Trümmern Washingtons

Um den Mann im Weißen Haus zu verstehen, muss man den jungen Mann aus Wyoming betrachten. Richard Bruce Cheney war ein Produkt des Westens – pragmatisch, lakonisch und scheinbar unideologisch. Seine frühe Laufbahn war alles andere als glanzvoll. Er flog von der Elite-Universität Yale (zweimal), schlug sich als Linienarbeiter durch und sammelte zwei Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer. Den Vietnamkrieg erlebte er dank fünf Deferments – als Student und junger Vater – nur aus der Ferne. Es war eine Biographie, die kaum auf einen der mächtigsten Männer der Welt hindeutete.

Sein Schicksal wendete sich, als er 1968 als 27-Jähriger nach Washington kam. Er traf auf eine Hauptstadt, die von den Katastrophen dieser Ära traumatisiert war: Vietnam und kurz darauf Watergate. Cheney stieg nicht trotz dieses Chaos auf, sondern wegen ihm. Während erfahrenere Männer in Skandale verwickelt waren, ihren Ruf verloren oder zurücktraten, war Cheney der junge, unbelastete Technokrat. Hier, im Epizentrum der Krise, formte sich seine politische DNA. Er sah eine Präsidentschaft, die er als „Nadir“ ihrer Autorität empfand, eine Exekutive, die er durch den Kongress und die Gerichte als kastriert wahrnahm. Sein rasanter Aufstieg – vom Praktikanten zum mit 34 Jahren jüngsten Stabschef des Weißen Hauses unter Gerald Ford – war fundamental geprägt von der Überzeugung, dass die Exekutive ihre Macht zurückerobern müsse. Diese Überzeugung war kein Schnellschuss nach 9/11; sie zeigte sich schon 1987, als er als Kongressabgeordneter Ronald Reagan aggressiv in der Iran-Contra-Affäre verteidigte. Es war die erste, deutliche Manifestation seiner lebenslangen Mission. Gleichzeitig knüpfte er die wichtigste Allianz seiner Karriere: die mit Donald Rumsfeld. Rumsfeld war sein Mentor; Cheney wurde sein Stellvertreter und schließlich sein Nachfolger als Stabschef. Es war eine Partnerschaft, die Washington über Jahrzehnte prägen und in einem fernen Krieg kulminieren sollte.

Lektionen in Macht: Der erste Golfkrieg und das „unerledigte Geschäft“

Nach Fords Wahlniederlage kehrte Cheney nach Wyoming zurück und baute seine eigene politische Basis auf, die ihn für ein Jahrzehnt in den Kongress führte. 1989 holte ihn George H. W. Bush als Verteidigungsminister zurück in die Exekutive. Hier erlebte Cheney seinen ersten Krieg als Architekt: die „Operation Desert Storm“ 1991. Der Krieg war ein militärischer Triumph, doch er hinterließ bei Cheney eine tiefe, prägende Narbe. Die Koalition stoppte an der irakischen Grenze. Man scheute das „Chaos“ einer Besetzung Bagdads, das Cheney selbst damals als „Quagmire“ (Sumpf) bezeichnete. Die fatale Folge dieser Entscheidung war ein Moment, den Cheney nie vergaß: Ein US-Kommandant, Norman Schwarzkopf, gestattete den geschlagenen Irakern „fahrlässig“ den Einsatz von Helikoptern. Saddam Hussein nutzte diese Erlaubnis, um die Aufstände der Schiiten und Kurden in einem Blutbad zu ertränken. Für Cheney war dies der Beweis: Das Problem Saddam war „unerledigtes Geschäft“. Man durfte Diktatoren keine halben Niederlagen zufügen. Nach Bushs Abwahl wechselte Cheney in die Wirtschaft und wurde CEO des Öl-Dienstleisters Halliburton. Es war eine Zeit, in der er nicht nur ein beträchtliches Vermögen machte, sondern auch seine Verbindungen zur globalen Energie- und Militärlogistik vertiefte – ein Netzwerk, das während seiner Vizepräsidentschaft von unschätzbarem Wert sein würde.

Die „Co-Präsidentschaft“: Wie Cheney das Weiße Haus neu formatierte

Als George W. Bush ihn im Jahr 2000 bat, einen Vizepräsidenten zu suchen, war dies vielleicht Cheneys größter strategischer Coup. Er leitete den Suchprozess, interviewte niemanden und präsentierte am Ende den idealen Kandidaten: sich selbst.

Was folgte, war keine normale Vizepräsidentschaft. Cheney war nicht der Mann für Beerdigungen und das Durchschneiden von Bändern. Er handelte mit Bush einen Pakt aus, der ihn zu einem „Co-Präsidenten“ machte. Er war, so die Vereinbarung, „ein wichtiger Teilnehmer“ an jedem Prozess.

Cheney verstand, dass Personal Politik ist. Er installierte ein paralleles Machtzentrum im Weißen Haus, besetzt mit loyalen Ideologen wie I. Lewis „Scooter“ Libby und David Addington, bekannt als die „Vulkane“. Dieses Team operierte oft im Geheimen, umging die etablierten Kanäle des Nationalen Sicherheitsrates und der Ministerien und trieb Cheneys Agenda voran. Er kontrollierte den Informationsfluss zum Präsidenten und nutzte seine immense Erfahrung in Washington, um den außenpolitisch unerfahrenen Bush zu lenken.

Doch sein Einfluss beschränkte sich nicht auf die Außenpolitik. Cheney war ein überzeugter Anhänger der freien Marktwirtschaft. Er trieb die Deregulierung und massive Steuersenkungen voran. Diese Politik der „unfettered markets“, die Banken und Finanzinstitutionen von Fesseln befreite, sahen viele Kritiker später als direkten Wegbereiter für die katastrophale Finanzkrise von 2007-2008.

„Nine-Eleven“: Der Moment, in dem alle Dämme brachen

Der 11. September 2001 war der Moment, auf den Cheneys gesamte Philosophie gewartet hatte. Während Präsident Bush in einer Schule in Florida festsaß, war es Cheney, der im Bunker unter dem Weißen Haus das Kommando übernahm. Für Cheney war 9/11 nicht nur ein Angriff, es war die ultimative Bestätigung seiner dunkelsten Befürchtungen und die Rechtfertigung für alles, was folgen sollte. Er sah die Nation in einem neuen, existenziellen Krieg, einem Krieg, den man nicht mit den alten Regeln gewinnen konnte. Er sprach von der Notwendigkeit, auf der „dunklen Seite“ zu operieren. Was er damit meinte, wurde schnell klar. Sein Team arbeitete fieberhaft daran, juristische Verbote als bloße Hindernisse „neu zu interpretieren“ oder zu umgehen. Dies führte zur Genehmigung von „robusten Verhörtechniken“ – ein Euphemismus für Foltermethoden wie Waterboarding – und dem geheimen, millionenfachen Überwachungsprogramm „Stellar Wind“, das den Kongress und die Gerichte bewusst ausschloss. Wie rechtfertigte er diesen Bruch mit dem Recht? Mit eisernem Schweigen und der Logik der Prävention. Cheney argumentierte, es wäre „unmoralisch“ gewesen, nicht alles zu tun, um einen weiteren, vielleicht nuklearen 9/11 zu verhindern. Es war eine bewusste Überkorrektur: Hatten die Geheimdienste Al-Qaida vor 9/11 unterschätzt, so würde man nun jeden Verdacht, jede zweideutige Information in die „ominösest mögliche Richtung“ interpretieren. Dieses neue Dogma führte direkt in den Irak.

Irak: Das Debakel als Dogma

Im Zentrum von Cheneys Denken nach 9/11 stand Saddam Hussein. Die alte Allianz mit Donald Rumsfeld, nun wieder Verteidigungsminister, wurde reaktiviert. Sie trieben die Regierung unerbittlich in Richtung Krieg. Die Begründungen – Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen und seine „langjährigen Beziehungen“ zu Al-Qaida – waren, wie sich herausstellte, bestenfalls auf manipulativer Interpretation geheimdienstlicher Rohdaten, schlimmstenfalls auf Lügen gebaut. Cheney war der rhetorische Frontmann, der 2002 verkündete, es gäbe „keinen Zweifel“, dass Saddam Massenvernichtungswaffen besitze. Er versprach, die US-Truppen würden als „Befreier“ empfangen. Dieser unnachgiebige Fokus auf den Irak hatte fatale Folgen. Während die besten Kräfte der USA auf einen Krieg hinarbeiteten, den Saddam nicht suchte, entkam Osama bin Laden in den Bergen Afghanistans. Der Irak wurde zum „unfinished business“ erklärt, während das eigentliche Geschäft – die Zerschlagung von Al-Qaida – ins Stocken geriet.

Warum aber hielt Cheney selbst dann noch an seiner Position fest, als keine Waffen gefunden wurden und das Land im Chaos versank? Warum zeigte er nie Bedauern? Weil ein Eingeständnis des Scheiterns seine gesamte Weltsicht demontiert hätte. Sein Handeln basierte nicht auf Fakten, sondern auf einem Dogma: dem Glauben an die absolute Notwendigkeit präventiver, exekutiver Allmacht. Als man ihn Jahre später mit seiner katastrophalen Fehleinschätzung konfrontierte, lautete seine Antwort an die Kritiker: „So?“ Hier lag der fundamentale Unterschied zu Realisten wie Henry Kissinger. Kissinger war ein Pessimist, der glaubte, die USA müssten ihre schwindende Macht klug verwalten. Cheney war ein Ideologe, ein unerschütterlicher Gläubiger an die Fähigkeit Amerikas, die Welt durch reine Willenskraft und militärische Überlegenheit nach seinem Bilde zu formen.

„Darth Vader“: Macht, Mythos und der Bruch mit Bush

In der zweiten Amtszeit von George W. Bush begann Cheneys Macht zu erodieren. Der Irakkrieg war zu einem blutigen Desaster geworden. Der „Darth Vader“-Spitzname, einst ein Ausdruck seiner unheimlichen Effizienz, wurde zur Chiffre für eine gescheiterte Politik. In seiner Familie wurde der Name zum Witz, doch in der Öffentlichkeit war er das Gesicht eines verhassten Krieges. Er selbst kultivierte seine Aura des Undurchdringlichen. Er war der „Schattenpräsident“, der leise sprach, tief zuhörte und im Geheimen agierte. Seine Medienstrategie war die der Vermeidung. Ein bizarrer Vorfall im Jahr 2006 wurde zur perfekten Metapher für seine Präsidentschaft: der Jagdunfall. Cheney schoss einem Freund ins Gesicht – und das Weiße Haus schwieg 24 Stunden lang. Es war ein PR-Desaster, aber es war mehr als das: Es war der Inbegriff von Cheneys Exekutivverständnis – Handlungen, selbst fehlerhafte, die keiner öffentlichen Rechtfertigung bedürfen.

Präsident Bush, der die politischen Kosten dieser Arroganz spürte, distanzierte sich zusehends. Cheneys engste Verbündete fielen: Rumsfeld wurde nach den desaströsen Zwischenwahlen 2006 entlassen, Libby wurde im Zuge der „Plame-Affäre“ verurteilt. Der Fall Libby markierte den endgültigen, persönlichen Bruch zwischen Bush und Cheney. Cheney war wütend über die Verurteilung und flehte Bush um eine vollständige Begnadigung an. Bush verweigerte sie und wandelte die Strafe nur um. Für Cheney war dies ein Akt ultimativer Illoyalität. In einem hitzigen Gespräch warf er Bush vor, einen „Soldaten auf dem Schlachtfeld zurückzulassen“. Die Partnerschaft, die Amerika in den Krieg geführt hatte, zerbrach an einem Akt verweigerter Gnade.

In dieser Zeit der politischen Dämmerung blitzte jedoch eine Seite auf, die im Widerspruch zu seinem Ruf stand: seine Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Während Bush ein Verfassungsverbot anstrebte, sprach sich Cheney für die „Freiheit für jeden“ aus. Die Quellen sind sich einig: Dies war kein politisches Kalkül. Es war die zutiefst persönliche Haltung eines Vaters, dessen Tochter Mary offen lesbisch lebte und die er bedingungslos unterstützte. Es war der seltene, vielleicht einzige Moment, in dem die Familie die Ideologie besiegte.

Das paradoxe Erbe: Der Architekt, der sein eigenes Haus verfluchte

Cheney verließ das Amt 2009 als einer der unbeliebtesten Vizepräsidenten der Geschichte. Er widmete sich seinen Memoiren, in denen er keine Reue zeigte, und kritisierte Barack Obamas „weichen“ Kurs. Dann kam Donald Trump. Zunächst unterstützte Cheney ihn widerwillig. Doch der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 war für ihn der absolute Bruchpunkt. Es war ein Angriff auf die Verfassung, die er auf seine Weise zu verteidigen geschworen hatte. In den letzten Jahren seines Lebens wurde Cheney, zusammen mit seiner Tochter Liz, zum erbittertsten Feind Trumps. Er nannte Trump einen „Feigling“ und eine „Bedrohung für unsere Republik“. Seine Ankündigung, Kamala Harris zu wählen, war der Schlusspunkt einer Entwicklung, die ihn zum Außenseiter in der Partei machte, die er Jahrzehnte dominiert hatte.

Wird dieser späte Bruch sein Erbe neu definieren? Es ist unwahrscheinlich. Denn das ist die bittere Ironie von Dick Cheneys Leben: Die Politik, die er für notwendig hielt, ebnete den Weg für den Mann, den er verachtete. Sein unerbittlicher Interventionismus und die „ewigen Kriege“ nährten den isolationistischen Populismus von „America First“. Und seine Doktrin der „imperialen Präsidentschaft“, seine Verachtung für „checks and balances“, lieferte die Blaupause – die Inspiration für Initiativen wie „Project 2025“ – für einen zukünftigen Präsidenten, der die Exekutive nicht zum Schutz der Verfassung, sondern zur Demontage der Demokratie nutzen könnte. Dick Cheney war, wie ein Biograf festhielt, „immer derselbe Dick Cheney“. Ein Mann, der glaubte, die Republik retten zu können, indem er ihre Regeln brach. Er hat ein mächtiges, juristisches Arsenal geschaffen. Am Ende musste er mitansehen, wie ein anderer die Waffen aufnahm, die er selbst geschmiedet hatte.

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