
In den Korridoren des Pentagon, wo die strategische Zukunft der Supermacht USA entworfen wird, hallt eine Idee wider, die so radikal wie riskant ist: Um eine Supermacht zu bleiben, müsse Amerika vorübergehend aufhören, sich wie eine zu verhalten. Dies ist der Kern der Doktrin von Elbridge Colby, dem wohl einflussreichsten Vordenker einer neuen amerikanischen Außenpolitik. Colby, ein Mann, dessen intellektuelle Schärfe ebenso bekannt ist wie sein politischer Sprengstoff, entwirft das Bild einer Welt, in der es nur noch einen einzigen, existenziellen Gegner gibt: China. Seine These ist eine strategische Brandfackel: Er argumentiert, dass die USA ihre globalen Verpflichtungen, ihre jahrzehntelangen Allianzen und ihre militärische Präsenz in Europa und im Nahen Osten drastisch zurückfahren müssen, um jede Ressource auf die Eindämmung Pekings zu konzentrieren. Colbys Vision ist mehr als nur ein Politikpapier; sie ist der intellektuelle Fahrplan für eine Revolution, die das Fundament der globalen Ordnung seit 1945 erschüttert und einen tiefen Riss durch die amerikanische Politik und ihre Bündnisse treibt.
Vom globalen Sheriff zum einsamen Duellanten
Es ist eine bemerkenswerte Metamorphose, die Elbridge Colby durchlaufen hat. Noch als einer der Hauptautoren der Nationalen Verteidigungsstrategie von 2018 unter der ersten Trump-Administration zeichnete er das Bild einer USA, die sich einer Vielzahl von Bedrohungen stellen musste – von China und Russland über den Iran und Nordkorea bis hin zum internationalen Terrorismus. Es war die klassische Haltung einer Weltmacht, die versucht, überall gleichzeitig präsent und handlungsfähig zu sein. Doch etwas hat sich fundamental geändert, nicht nur in der Welt, sondern vor allem in Colbys Denken. Heute argumentiert er, die USA seien schlecht vorbereitet und stünden am Rande eines möglichen Dritten Weltkriegs mit China. Um diesen zu verhindern, sei eine Priorisierung unausweichlich.

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Was diesen Wandel antrieb, scheint weniger eine dramatische Neubewertung der militärischen Lage als vielmehr eine Anpassung an den politischen Zeitgeist innerhalb der Republikanischen Partei zu sein. Colby, der Enkel eines ehemaligen CIA-Direktors und Absolvent von Eliteuniversitäten wie Yale und Harvard, personifiziert einen inneren Widerspruch: Er ist ein Produkt des Washingtoner Establishments, das er nun mit den intellektuellen Werkzeugen eines Insiders demontieren will. Er ist kein schlichter Isolationist, wie seine Anhänger betonen, sondern ein „Prioritizer“: ein Stratege, der glaubt, dass Amerikas Kraft nicht unendlich ist und für den entscheidenden Kampf gebündelt werden muss. In seiner neuen Weltordnung gibt es keinen Raum mehr für die Rolle des globalen Polizisten. Es gibt nur noch das Duell mit Peking.
Eine Strategie der schmerzhaften Opfer
Was bedeutet diese Konzentration auf China in der Praxis? Es ist ein Plan, der tief in die Substanz des amerikanischen Militärs und seiner Bündnispolitik eingreift. Colby plädiert für eine massive Umverteilung von Finanzmitteln weg vom Heer, hin zur Marine und Luftwaffe – den Teilstreitkräften, die in einem pazifischen Konflikt die Hauptlast tragen würden. Dies zwingt die Army in einen verzweifelten Kampf, ihre eigene Relevanz zu beweisen. Doch die Konsequenzen reichen weit über interne Budgetkämpfe hinaus.
Colbys Plan sieht den Abzug amerikanischer Truppen aus Europa vor, die stattdessen im asiatisch-pazifischen Raum stationiert werden sollen. Die Hauptaufgabe des US-Militärs wäre es, einen chinesischen Angriff auf Taiwan abzuschrecken – und die Insel zu verteidigen, falls die Abschreckung scheitert. Traditionelle Verbündete wie Israel und die Ukraine werden in diesem Kalkül zu einer strategischen Belastung. Ihre Unterstützung, so Colbys Logik, verbraucht Ressourcen – von Luftabwehrsystemen bis zu Marinekapazitäten –, die im Pazifik fehlen. Die Botschaft an die Welt ist unmissverständlich: Amerika kann und will nicht mehr alle Fronten gleichzeitig halten. Es ist eine strategische Triage, bei der langjährige Partner zu nachrangigen Prioritäten werden.
Ein Riss geht durch Washington und die Welt
Colbys radikale Thesen haben einen politischen Flächenbrand ausgelöst. Innerhalb der Republikanischen Partei verläuft eine tiefe Bruchlinie. Auf der einen Seite stehen die traditionellen Falken wie Senator Mitch McConnell, die in Colbys Ansatz eine gefährliche strategische Kurzsichtigkeit sehen. Sie argumentieren, dass man Wladimir Putin nicht vom Haken lassen dürfe und ein Rückzug aus Europa die amerikanische Glaubwürdigkeit weltweit untergraben würde. Auf der anderen Seite hat sich Colby eine begeisterte Anhängerschaft im MAGA-Lager aufgebaut, von einflussreichen Stimmen wie Tucker Carlson bis zu wichtigen Beratern wie Steve Bannon. Für sie ist er derjenige, der die „America First“-Doktrin endlich konsequent auf die Sicherheitspolitik anwendet und die Verbündeten zwingt, mehr für ihre eigene Verteidigung auszugeben.
Nirgendwo wurde dieser Konflikt deutlicher als bei der kurzzeitigen Aussetzung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Obwohl Colbys Memo keine explizite Empfehlung enthielt, machte es doch unmissverständlich klar, dass die Unterstützung für Kiew die Ressourcen für andere Missionen belasten könnte. Diese Analyse lieferte die intellektuelle Munition für eine Entscheidung, die selbst das Weiße Haus überraschte und scharfe Proteste von Republikanern wie McConnell und Tom Cotton provozierte. Obwohl Präsident Trump die Entscheidung schnell revidierte, hatte der Vorfall den immensen Einfluss von Colbys Denken im Pentagon demonstriert.
Bei Amerikas Verbündeten löst die Colby-Doktrin blankes Entsetzen aus. Europäische Diplomaten wehren sich vehement gegen die Vorstellung, die Sicherheit des Pazifiks allein den Amerikanern zu überlassen, während sie gleichzeitig ihre eigenen erheblichen Wirtschaftsinteressen in Asien haben, die verteidigt werden müssen. Es ist das Gefühl, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Man wirft Colby vor, die komplexe, vernetzte Natur globaler Bedrohungen zu ignorieren. Viele europäische Offizielle sind überzeugt, dass Russlands Krieg in der Ukraine und Chinas Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer zwei Seiten derselben Medaille sind – ein gemeinsamer Angriff autoritärer Mächte auf die regelbasierte Ordnung. Colbys Ansatz, so die Kritiker, zerreißt dieses Netz und ersetzt eine seit 80 Jahren bewährte Sicherheitsarchitektur durch eine übermäßig vereinfachte und riskante Alternative.
Die riskante Wette auf eine neue Weltordnung
Gibt es einen anderen Weg? Einen, der die wachsende Herausforderung durch China ernst nimmt, ohne das globale Bündnissystem aufzugeben? Kritiker wie Bryan Clark vom Hudson Institute argumentieren, dass Colbys Ansatz auf der fehlerhaften Annahme beruht, nur eine massive Truppenkonzentration im Westpazifik könne Peking aufhalten. Eine intelligentere, präzisere und besser orchestrierte Machtprojektion könnte ebenso wirksam sein, ohne die Präsenz in Europa und im Nahen Osten vollständig zu opfern.
Doch Elbridge Colby hat sich für die radikale Wette entschieden. Er verkörpert eine neue Generation von Strategen, die bereit sind, das Erbe der amerikanischen globalen Führung über Bord zu werfen, um sich für einen einzigen, entscheidenden Kampf zu wappnen. Seine Vision ist klar, kompromisslos und zutiefst spaltend. Sie zwingt die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu einer fundamentalen Wahl: Halten sie fest an der Idee einer kollektiven Sicherheit, in der die Bedrohung eines Partners eine Bedrohung für alle ist? Oder akzeptieren sie eine neue Realität, in der Amerika seine Freunde und Interessen priorisiert und einige bewusst dem Risiko aussetzt, um den vermeintlich größten Gegner in Schach zu halten? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur über die Zukunft der amerikanischen Außenpolitik entscheiden, sondern die Konturen der globalen Machtbalance für Jahrzehnte neu definieren.