
James D. Watson ist tot. Mit ihm geht einer der unbestrittenen Giganten der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts – und zugleich eine ihrer tragischsten und am tiefsten gefallenen Figuren. Er war der Mann, der 1953 im Alter von nur 25 Jahren half, das innerste Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln: die Struktur der DNA. Diese Entdeckung war der Startschuss für die moderne Biologie und Biotechnologie. Doch Watsons wissenschaftliches Genie war untrennbar verwoben mit einer persönlichen Arroganz, die in späten Jahren in einen unentschuldbaren Rassismus und Sexismus umschlug. Er, der den Code des Lebens fand, starb als Ausgestoßener der wissenschaftlichen Gemeinschaft, verbannt von jenem Institut, das er selbst zu Weltruhm geführt hatte. Sein Leben ist eine unbequeme Lektion darüber, dass Genie und moralisches Versagen im selben Menschen wohnen können – und stellt die Wissenschaft vor die quälende Frage, wie man einen Gründervater ehrt, dessen Ideologien man verabscheut.

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Der Funke: Wie die Helix das Denken veränderte
Um das Drama von James Watson zu verstehen, muss man die schiere Größe seiner Entdeckung begreifen. Als Watson, ein junger, ungestümer Amerikaner, Anfang der 1950er Jahre an die Universität Cambridge kam, war die Biologie ein Feld voller offener Fragen. Man wusste, dass Merkmale vererbt werden – Darwin hatte die Evolution und Mendel die Vererbungsregeln beschrieben –, aber niemand kannte den Mechanismus. Man ahnte, dass eine Substanz namens Desoxyribonukleinsäure (DNA) der Träger sein könnte, aber ihre Form und Funktion waren ein Rätsel. Watsons und Francis Cricks Geistesblitz im Jahr 1953 war mehr als nur das Erkennen einer eleganten Form, einer Doppelhelix. Ihr physikalisches Modell, das sie aus Metallstücken und Drähten zusammenbauten, war die Antwort auf alles.
Es zeigte ein langes, gedrehtes Molekül, dessen Rückgrat aus Zucker und Phosphat bestand. Im Inneren hielten sich die vier chemischen Basen – Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C) – wie Stufen einer Wendeltreppe paarweise fest. Der Clou war die Spezifität: A paarte sich immer mit T, C immer mit G. Das war der Kopiermechanismus. Plötzlich war klar, wie sich das Leben vervielfältigt: Die „Leiter“ teilt sich in der Mitte, und jede Hälfte dient als Vorlage, um eine neue, identische Doppelhelix zu bauen. Es erklärte Vererbung. Und es erklärte Mutation – ein Fehler in dieser Abfolge. Es war der Moment, in dem die Biologie zu einer Informationswissenschaft wurde. Die Entdeckung war der Urknall der Molekularbiologie, der Gensequenzierung, der Gentechnik und der modernen Medizin.
Der Schatten: „Photo 51“ und die verleugnete Pionierin
Doch dieser Triumph der Wissenschaftsgeschichte trug von Anfang an den Keim eines tiefen ethischen Makels in sich. Die entscheidende Grundlage für Watsons und Cricks Modell stammte nicht von ihnen. Sie stammte von Rosalind Franklin, einer brillanten Röntgenkristallographin am King’s College in London. Franklin hatte mit akribischer Präzision Röntgenbilder der DNA erstellt, insbesondere das legendäre „Photo 51“, das die Helix-Struktur unmissverständlich andeutete. Maurice Wilkins, ein Kollege Franklins (und späterer Mit-Nobelpreisträger), zeigte Watson dieses Foto – ohne Franklins Wissen oder Erlaubnis. Was heute als schwerwiegender Bruch des Forschungsprotokolls gilt, war damals in der von Männern dominierten Wissenschaftskultur der 1950er Jahre vielleicht nur ein weiterer Beleg für die institutionelle Geringschätzung weiblicher Forscher. Franklins Beitrag war essenziell, doch sie wurde zur Fußnote degradiert. Sie starb 1958 an Krebs, vier Jahre bevor Watson, Crick und Wilkins den Nobelpreis erhielten.
Watson zementierte diese Geringschätzung später in seinem 1968 erschienenen Bestseller „The Double Helix“. Das Buch ist eine brillante, schonungslos subjektive und oft witzige Erzählung über den Forschungsprozess, die das Bild des Wissenschaftlers als objektiven Wahrheitssucher demontierte. Es ist aber auch ein Dokument der Arroganz. Watson beschrieb Franklin herablassend als „Rosy“ (ein Spitzname, den sie nie benutzte), als unattraktive, streitlustige und einfallslose Laborantin. Ironischerweise war es Watsons eigene, sexistische Darstellung, die Franklins Schicksal öffentlich bekannt machte und sie posthum zu einer feministischen Ikone und Märtyrerin der Wissenschaft machte.
Das Imperium: Der Baumeister von Cold Spring Harbor
Watsons Karriere war mit der Doppelhelix nicht zu Ende; sie begann erst. Er bewies, dass sein Genie nicht auf das Labor beschränkt war. Er war ein brillanter, oft rücksichtsloser Administrator und Visionär. 1968 übernahm er die Leitung des Cold Spring Harbor Laboratory (CSHL), einer damals eher unbedeutenden Einrichtung auf Long Island. Mit strategischem Geschick und einem untrüglichen Gespür für die nächste große Wende fokussierte er das Labor auf die Genetik von Krebs und machte es zu einem der weltweit führenden Zentren der Mikrobiologie. Er war auch die treibende Kraft hinter dem Human Genome Project, dem monumentalen Unterfangen, das menschliche Erbgut Buchstabe für Buchstabe zu kartieren. Als dessen erster Leiter zeigte Watson erneut seine widersprüchliche Natur. Einerseits bestand er vehement darauf, dass ein signifikanter Teil des Budgets (anfangs 3 Prozent) für die Erforschung der sozialen, moralischen und ethischen Implikationen (ELSI) der Genomforschung verwendet werden müsse. Er schien die gesellschaftliche Sprengkraft seiner Arbeit zu ahnen. Andererseits war er es, der im Streit um die Patentierung von Genen – eine Idee, die er verabscheute, weil er den „Bauplan des Lebens“ nicht in den Tresoren von Konzernen sehen wollte – 1992 wütend von seinem Posten zurücktrat. Sein Auftreten war schon damals legendär. Kollegen wie der berühmte Evolutionsbiologe E.O. Wilson nannten ihn den „Caligula der Biologie“ – ein Kaiser, der glaubte, alles sagen und tun zu können, befreit von den Fesseln gewöhnlicher Höflichkeit.
Der Absturz: Wenn das Denkmal Risse bekommt
Die Widersprüche in Watsons Charakter waren immer vorhanden. Wie konnte ein Mann, der in den 1960er Jahren Forscherinnen wie die spätere MIT-Biologin Nancy Hopkins aktiv förderte und ihr sagte, sie sei genauso klug wie er, gleichzeitig öffentlich darüber spötteln, dass Frauen in der Wissenschaft „wahrscheinlich weniger effektiv“ seien? Dieser Hang zur Provokation, diese „brutale Offenheit“, die er selbst als „Ehrlichkeit“ verklärte, wurde zu seinem Verhängnis. Der Absturz kam nicht plötzlich, aber er war unaufhaltsam. Jahrzehntelang hatte man seine Ausfälle als Spleens eines exzentrischen Genies abgetan. Doch 2007 ging er zu weit. In einem Interview mit der Sunday Times erklärte er, er sei „von Grund auf pessimistisch, was die Zukunft Afrikas angeht“, weil „alle unsere Sozialmaßnahmen darauf basieren, dass ihre Intelligenz die gleiche ist wie unsere – wohingegen alle Tests sagen, nicht wirklich.“
Der Aufschrei war global. Für das Cold Spring Harbor Laboratory, das Watson aufgebaut hatte, war die Situation besonders heikel. Das CSHL war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Zentrum der amerikanischen Eugenik-Bewegung gewesen, einer rassistischen Ideologie, die Watson nun wieder salonfähig zu machen schien. Die Reaktion war unausweichlich: Watson wurde als Kanzler abgesetzt. Es war ein Exil auf dem eigenen Campus. Doch Watson hatte nichts gelernt. In einer PBS-Dokumentation im Jahr 2018 wiederholte er seine Ansichten ungerührt. Für das CSHL war dies der endgültige Bruch. 2019 entzog ihm das Labor alle verbliebenen Ehrentitel und verbannte ihn vollständig. Watson, der Architekt, war aus seinem eigenen Haus geworfen worden.
Die Ironie: Wie die Wissenschaft ihren Vater widerlegt
Die größte und bitterste Ironie in Watsons Leben ist vielleicht diese: Die Wissenschaft, die er wie kein Zweiter vorantrieb, liefert heute die stärksten Argumente gegen seine kruden Thesen. Das Human Genome Project und die darauf folgende Genomforschung haben gezeigt, dass traditionelle Rassenkategorien biologisch fast wertlos sind. Institutionen wie die National Academies of Sciences empfehlen heute, in der genetischen Forschung auf diese sozialen Konstrukte zu verzichten, weil sie die genetische Vielfalt schlecht abbilden. Die Forschung zeigt, dass komplexe Merkmale wie Intelligenz nicht von einer Handvoll Genen bestimmt werden, die man einer „Rasse“ zuordnen könnte. Es ist ein unermesslich komplexes Zusammenspiel von Tausenden von Genen und, was noch wichtiger ist, von Umwelt, Bildung und sozialen Chancen. Watsons Festhalten an einem simplen genetischen Determinismus war nicht nur moralisch verwerflich; es war wissenschaftlich überholt. Seine eigene Schöpfung hatte ihn intellektuell desavouiert.
Watson selbst schien diesen intellektuellen Bankrott nie zu begreifen. Er fühlte sich von der Wissenschaftsgemeinschaft verraten und verlassen. In seinen letzten Jahren erklärte er, er sei zu einer „Unperson“ geworden. 2014 unternahm er einen letzten, bizarren Akt, der irgendwo zwischen finanzieller Not und purem Trotz angesiedelt war: Er versteigerte seine Nobelpreismedaille. Ein russischer Milliardär kaufte sie für über 4 Millionen Dollar – und gab sie ihm zurück. Eine Geste, die die Tragödie seiner späten Jahre nur noch unterstrich.
Das Urteil: Was von einem gefallenen Giganten bleibt
Was also bleibt von James D. Watson? Sein Name ist untrennbar mit einem der größten Momente menschlicher Erkenntnis verbunden. Wir können die Doppelhelix nicht betrachten, ohne an ihn zu denken. Aber wir können, und wir dürfen, seinen Namen nicht mehr nennen, ohne auch an Rosalind Franklin zu denken, und ohne seine verachtenswerten Ideologien zu benennen.
Sein Erbe ist keine einfache Heldengeschichte, die wir unseren Studenten erzählen können. Es ist eine unbequeme, schmutzige und zutiefst menschliche Lektion. Eine Lektion darüber, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht immer moralisch sauber ist und dass Genialität kein Schutz vor Dummheit oder Bosheit ist.
Die Herausforderung für die Wissenschaftsgeschichte ist monumental. Es geht nicht darum, Watson aus den Büchern zu streichen. Es geht darum, ihn vollständig darzustellen. Die Wissenschaft kann und muss seine Entdeckung würdigen, ohne seine Ideologien zu relativieren. Sie muss den Mechanismus der DNA lehren und gleichzeitig den ethischen Bruch bei ihrer Entdeckung und den moralischen Bankrott ihres Entdeckers analysieren. Die Doppelhelix ist sein unsterblicher Beitrag. Sein zutiefst gespaltenes Erbe ist unsere bleibende Verantwortung.


