Der Alleingang des Präsidenten: Trumps Ukraine-Gambit und die Krise der transatlantischen Sicherheit

Illustration: KI-generiert

Es gibt Momente in der Weltpolitik, die sich anfühlen wie das abrupte Reißen einer Saite in einem ansonsten sorgfältig gestimmten Orchester. Ein solcher Moment ereignete sich am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Es war kein Putsch, keine Kriegserklärung, sondern etwas auf den ersten Blick Flüchtigeres: ein Social-Media-Post des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Doch die Erschütterungen, die diese wenigen Zeilen auslösten, hallen noch immer durch die Kanzleien und Hauptstädte der westlichen Welt. In einer spektakulären Kehrtwende, die selbst erfahrene Diplomaten ungläubig die Köpfe schütteln ließ, erklärte Trump, er glaube nun an einen vollständigen militärischen Sieg der Ukraine über Russland. Kiew, so der Präsident, könne mit der Unterstützung seiner europäischen Verbündeten und der NATO sein gesamtes Territorium zurückerobern.

Ein Paukenschlag. Denn noch vor wenigen Wochen klang derselbe Mann völlig anders. Damals, nach einem Gipfeltreffen mit Wladimir Putin in der kühlen Abgeschiedenheit Alaskas, predigte Trump den Realismus des Unvermeidlichen: Die Ukraine müsse Land gegen Frieden tauschen, schmerzhafte Kompromisse eingehen, um das Blutvergießen zu beenden. Diese plötzliche Volte ist mehr als nur ein weiterer Beweis für die sprunghafte Natur des Präsidenten. Sie ist ein politisches Erdbeben, das die Fundamente der transatlantischen Sicherheitsarchitektur erschüttert und eine Kaskade unbequemer Fragen aufwirft. Was steckt hinter diesem Manöver? Ist es der Beginn einer neuen, entschlossenen Eindämmungspolitik gegen Russland? Oder ist es vielmehr der verzweifelte, impulsive Akt eines politisch isolierten Dealmakers, dessen Pläne gescheitert sind? Die Antwort auf diese Frage entscheidet nicht nur über das Schicksal der Ukraine, sondern auch über die Zukunft des westlichen Bündnisses selbst.

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Vom Dealmaker zum Falken: Eine Kehrtwende in Echtzeit

Um das Ausmaß der Wende zu verstehen, muss man sich die Ausgangslage vor Augen führen. Donald Trumps zweite Amtszeit war von Beginn an von dem Versprechen geprägt, den Krieg in der Ukraine binnen weniger Tage zu beenden. Sein Ansatz war der des Geschäftsmanns: ein pragmatischer, wenn auch zynischer Deal, bei dem die Ukraine Teile ihrer Souveränität – konkret die von Russland seit 2014 besetzte Krim sowie Teile des Donbas – aufgeben sollte, um einen dauerhaften Frieden zu erkaufen. Dieser Kurs stieß in Europa und Kiew auf Entsetzen, wurde er doch als Belohnung für den russischen Aggressor und als Verrat an den Prinzipien des Völkerrechts empfunden. Doch Trump beharrte auf seiner Linie, die er als einzig realistische Lösung darstellte.

Die plötzliche Abkehr von dieser Doktrin, formuliert in der unverblümten Sprache sozialer Medien, wirkt daher wie der politische Salto eines Akrobaten. Trump spricht nun nicht mehr von Kompromissen, sondern vom Sieg. Er bezeichnet Russland, dessen Präsidenten er wochenlang umgarnt hatte, plötzlich als „Papiertiger“, dessen Militär einen Krieg, der hätte Tage dauern dürfen, seit über drei Jahren planlos führe. Diese neue, aggressive Rhetorik fand bei den europäischen Partnern und insbesondere bei Wolodymyr Selenskyj zunächst Anklang. Der ukrainische Präsident, der noch Monate zuvor im Oval Office von Trump harsch zurechtgewiesen worden war, nannte seinen amerikanischen Amtskollegen nun einen „Game-Changer“. Doch hinter der erleichterten Fassade der Verbündeten macht sich tiefes Unbehagen breit. Denn Trumps Kurswechsel erfolgte ohne jede Vorwarnung, ohne strategische Absprachen und, wie es scheint, ohne einen kohärenten Plan.

Die Suche nach dem Motiv: Zwischen Einflussnahme und gekränktem Stolz

Was also hat diesen dramatischen Sinneswandel ausgelöst? Die wohlwollendste Interpretation, die auch in Kiew und Paris gerne gehört wird, ist die des „Selenskyj-Effekts“. Das persönliche Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten am Rande der UN-Generalversammlung, so die Hoffnung, habe Trump die Augen geöffnet. Selenskyj, den Trump nun als „mutigen Mann“ lobte, der einen „verdammt harten Kampf“ führe, könnte es gelungen sein, dem amerikanischen Präsidenten die Realität des ukrainischen Widerstandswillens und die Brutalität des russischen Vorgehens nahezubringen. In dieser Lesart wäre Trumps Wende das Ergebnis einer späten, aber ehrlichen Einsicht – der Triumph der persönlichen Diplomatie über den kalten Pragmatismus.

Doch es gibt eine zweite, weitaus plausiblere und beunruhigendere Erklärung, die tief in der Psyche des Präsidenten und der Dynamik seiner Beziehung zu Wladimir Putin wurzelt. Trumps gesamte Ukraine-Strategie basierte auf der Annahme, er könne Putin zu direkten Verhandlungen mit Selenskyj bewegen. Er inszenierte sich als großer Vermittler, rollte dem Kremlchef in Alaska den roten Teppich aus und versprach einen historischen Friedensschluss. Doch Putin spielte nicht mit. Statt an den Verhandlungstisch zu kommen, intensivierte Moskau die Bombardements auf die Ukraine. Für einen Mann wie Trump, dessen politisches Selbstverständnis auf der Kunst des Deals beruht, kommt dies einer öffentlichen Demütigung gleich. Seine Kehrtwende erscheint in diesem Licht nicht als strategische Neuausrichtung, sondern als Akt der Rache – die impulsive Reaktion eines gekränkten Egos. Die scharfen Worte gegen Russland sind weniger Ausdruck einer neuen Überzeugung als vielmehr die verbale Bestrafung eines Geschäftspartners, der sich als unzuverlässig erwiesen hat. Putin habe ihn, so die Analyse Selenskyjs, schlicht zu oft belogen.

Die Last der Freiheit: Europas neue, ungewollte Führungsrolle

Die wahre Brisanz von Trumps neuem Kurs liegt jedoch nicht in seiner Rhetorik, sondern in dem, was er nicht sagt. Denn während er der Ukraine einen glorreichen Sieg in Aussicht stellt, verspricht er keinerlei neue, direkte amerikanische Militär- oder Finanzhilfen. Stattdessen formuliert er einen Satz, der die tektonische Verschiebung in der amerikanischen Außenpolitik offenbart: Die Unterstützung müsse von Europa und „insbesondere der NATO“ kommen. Washington werde weiterhin Waffen an die NATO liefern, damit diese tun könne, was sie wolle.

Diese Formulierung ist kein Zufall, sie ist eine politische Willenserklärung. Trump wäscht seine Hände nicht in Unschuld, aber er delegiert die schmutzige und teure Arbeit an seine europäischen Verbündeten. Die USA ziehen sich aus der Rolle des unersetzlichen Anführers der freien Welt zurück und nehmen die Position eines gut bestückten Waffenlieferanten ein, der die Rechnung an andere weiterreicht. Für Europa ist dies eine paradoxe und gefährliche Situation. Einerseits erhalten die Europäer von Washington die lang ersehnte Rückendeckung für eine härtere Gangart gegenüber Moskau. Andererseits wird ihnen die volle Verantwortung für die Sicherheit des Kontinents aufgebürdet, ohne dass sie sich auf die Verlässlichkeit ihres wichtigsten Partners stützen könnten.

Europas Staats- und Regierungschefs, von Emmanuel Macron in Frankreich bis zu Ursula von der Leyen in Brüssel, begrüßten Trumps Worte pflichtschuldig, doch sie wissen, dass sie auf einem schmalen Grat wandeln. Sie müssen nun eine europäische Verteidigungs- und Unterstützungsarchitektur für die Ukraine aufbauen, die robust genug ist, um Russland standzuhalten, und gleichzeitig flexibel genug, um den nächsten unvorhersehbaren Schwenk der amerikanischen Politik abzufedern. Die formale Befehlsstruktur der NATO, in der ein amerikanischer General den Oberbefehl innehat, bleibt zwar bestehen, doch die politische und finanzielle Last liegt nun squarely auf den Schultern von Berlin, Paris, London und Warschau. Es ist eine Führungsrolle, die Europa nie aktiv gesucht hat und auf die es nur unzureichend vorbereitet ist.

Ein Papiertiger im Visier: Rhetorik trifft auf militärische Realität

Die Kluft zwischen Trumps siegessicherer Proklamation und der Lage an der Front könnte kaum größer sein. Während der Präsident von einer vollständigen Rückeroberung allen ukrainischen Territoriums spricht, zeichnen die militärischen Lageberichte ein düsteres Bild. Ukrainische Kommandeure klagen übereinstimmend über einen chronischen Mangel an Soldaten und Munition. Russland rückt langsam, aber stetig vor und erobert Monat für Monat neue Gebiete. Die ukrainische Armee, die selbst auf dem Höhepunkt der amerikanischen Waffenlieferungen unter der vorherigen Administration keine entscheidenden Geländegewinne erzielen konnte, steht nun vor der schier unlösbaren Aufgabe, eine zahlenmäßig überlegene Invasionsarmee zurückzudrängen – und das mit einer ungewissen europäischen Unterstützung als Hauptrückhalt.

Trumps Optimismus wirkt vor diesem Hintergrund entweder naiv oder zynisch. Er ignoriert die militärischen Realitäten ebenso wie die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten unter seiner Präsidentschaft die direkten Waffenspenden an Kiew eingestellt und die Ukraine gezwungen haben, Rüstungsgüter zu kaufen. Diese Diskrepanz entging auch Mitgliedern seiner eigenen Regierung nicht. Sein amtierender Nationaler Sicherheitsberater, Marco Rubio, widersprach dem Präsidenten fast zeitgleich und erklärte, der Krieg könne nicht militärisch, sondern nur am Verhandlungstisch beendet werden – eine Position, die exakt jener entsprach, die Trump selbst noch Tage zuvor vertreten hatte. Diese Kakofonie an der Spitze der US-Regierung offenbart das Fehlen jeder kohärenten Strategie und untergräbt die Glaubwürdigkeit der neuen amerikanischen Haltung.

Spiel mit dem Feuer: Das unkalkulierbare Risiko der Eskalation

Die wohl gefährlichste Facette von Trumps neuem Kurs ist seine Bereitschaft, das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland bewusst zu erhöhen. In den letzten Wochen kam es wiederholt zu Verletzungen des NATO-Luftraums durch russische Kampfflugzeuge und Drohnen, insbesondere über dem Baltikum und Polen. Trumps Reaktion darauf ist ein brandgefährliches Spiel mit dem Feuer. Er erklärte, die NATO-Staaten hätten das Recht, solche eindringenden Flugzeuge abzuschießen. Auf die Frage von Journalisten, ob die USA ihren Bündnispartnern in einem solchen Fall militärisch beistehen würden, antwortete er ausweichend: Es hänge „von den Umständen“ ab.

Diese Aussage ist eine Einladung zur Eskalation mit eingebauter Ausstiegsklausel. Einerseits ermutigt sie die osteuropäischen Staaten zu einem härteren Vorgehen, was die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes massiv erhöht. Andererseits lässt sie die entscheidende Frage der amerikanischen Bündnistreue im Ernstfall offen. Dieses Vorgehen steht in krassem Widerspruch zu Trumps ursprünglichem Ziel, den Krieg schnell zu beenden. Statt Deeskalation zu betreiben, schürt er das Potenzial für eine Ausweitung des Konflikts, ohne eine klare Strategie für den Tag danach zu haben. Für Wladimir Putin ist dies ein unklares Signal. Er könnte Trumps Rückzug aus der direkten Verantwortung als Zeichen der Schwäche deuten und seine Provokationen fortsetzen, in der Annahme, dass die USA letztlich zögern würden, in einen Krieg für Estland oder Polen einzutreten.

Fazit: Ein diplomatisches Vakuum mit ungewissem Ausgang

Donald Trumps Kehrtwende in der Ukraine-Politik ist kein strategischer Masterplan. Sie ist das chaotische Ergebnis einer von persönlichen Animositäten, gekränktem Stolz und impulsiven Entscheidungen getriebenen Außenpolitik. An die Stelle einer berechenbaren, wenn auch umstrittenen Strategie tritt ein Machtvakuum, gefüllt mit aggressiver Rhetorik und strategischer Leere. Der Präsident hat die Verantwortung für die Verteidigung der europäischen Friedensordnung an Europa delegiert, ohne die dafür notwendigen verlässlichen Garantien zu geben.

Für die Ukraine bedeutet dies eine kurze Atempause und eine gestärkte moralische Position, aber keine Sicherheit. Für Europa ist es ein Weckruf, die eigene sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Launen eines unberechenbaren Partners zu überwinden. Und für die transatlantische Allianz ist es die vielleicht größte Zerreißprobe ihrer Geschichte. Die zentrale Frage, die nach dem diplomatischen Beben von New York im Raum steht, ist beunruhigend einfach: Was passiert, wenn der nächste Social-Media-Post des Präsidenten alles wieder über den Haufen wirft? In der Stille, die dieser Frage folgt, liegt die eigentliche Krise der westlichen Welt.

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