Das zerrissene Netz: Warum der Kampf um Amerikas „Food Stamps“ ein Krieg um die Seele der Nation ist

Illustration: KI-generiert

Es ist ein Szenario, das die Zerbrechlichkeit des sozialen Fundaments offenbart: 42 Millionen Amerikaner, darunter Geringverdiener, Kinder und Ältere, blicken auf eine ungewisse Zukunft, weil die monatliche Unterstützung für das Nötigste – Lebensmittel – plötzlich zum Spielball politischer Machtkämpfe wird. Das Supplemental Nutrition Assistance Program (SNAP), besser bekannt als „Food Stamps“, ist mehr als nur ein Sozialprogramm. Es ist ein Seismograf für die politischen Verwerfungen der USA. Die jüngsten Auseinandersetzungen, von juristischen Dramen während eines Regierungsstillstands bis hin zu erbitterten Fakten-Checks in Wahlkampfzeiten, zeigen eine beunruhigende Wahrheit: Die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen wird als politisches Instrument benutzt, während ein paralleler Kampf um die öffentliche Wahrnehmung durch Desinformation geführt wird.

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Die politische Waffe: Wie ein Shutdown das Netz der Nation zerschnitt

Der vielleicht dramatischste Moment in dieser Auseinandersetzung war ein Regierungsstillstand unter der Trump-Administration. Was hier geschah, war kein bloßer Verwaltungsengpass; es war eine bewusste politische Entscheidung. Die Regierung weigerte sich wochenlang, bereits vorhandene und zweckgebundene Mittel – Dutzende Milliarden Dollar, darunter ein Notfallfonds des Kongresses – für die Auszahlung der November-Leistungen freizugeben. Das Argument der Administration: Man sei rechtlich nicht befugt, Geld aus „metaphorischen Sofakissen“ zu kramen, um eine politische Pattsituation zu lösen.

Diese Weigerung war der Zündfunke für eine juristische Eskalation. Eine Koalition aus Städten und gemeinnützigen Organisationen zog vor Gericht. Ihre Argumentation war nicht nur juristisch, sondern zutiefst moralisch: Die Regierung, so ihre Position, habe eine rechtliche und moralische Verpflichtung, die notwendigen Mittel bereitzustellen und die Versorgung der Bedürftigsten nicht als Verhandlungsmasse in einem politischen Shutdown zu missbrauchen.

Ein Bezirksrichter, John McConnell, fasste die Situation in scharfen Worten zusammen. Er wies die Regierung an, die Konten beim Landwirtschaftsministerium zu nutzen, um die vollen SNAP-Leistungen auszuzahlen. Seine Anordnung war unmissverständlich und seine Worte hallten nach: „Das sollte in Amerika niemals passieren“. Er machte deutlich, dass die Handlungen der Administration unnötige Kürzungen und Verzögerungen verursacht hatten.

Das Beben der Justiz: Ein Moment der Ungewissheit am Supreme Court

Doch der juristische Sieg war von kurzer Dauer. Die Regierung legte umgehend Berufung ein und der Fall landete auf dem Tisch des Obersten Gerichtshofs. Dort sorgte Richterin Ketanji Brown Jackson für eine dramatische Wende. Sie erließ eine temporäre Aussetzung des Urteils – einen sogenannten „administrative stay“.

Es ist entscheidend zu verstehen, was dieser Schritt bedeutete. Es war keine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Weigerung der Regierung. Vielmehr war es eine prozessuale Atempause, die dem Berufungsgericht Zeit geben sollte, die komplexen juristischen Argumente in Gänze zu prüfen.

Die Folgen dieser juristischen Atempause waren jedoch unmittelbar und verheerend. Für die 42 Millionen SNAP-Empfänger und die Bundesstaaten, die sich auf die Auszahlung vorbereiteten, stürzte die Welt erneut ins Chaos. Die Intervention des Supreme Court goss Öl ins Feuer der Unsicherheit. Die ohnehin schon angespannte Lage eskalierte: Würde das Geld kommen? Wenn ja, wann? Und wie viel? Das soziale Netz, das Sicherheit versprach, war von einem auf den anderen Moment selbst infrage gestellt.

Der Riss im System: Ein Land im Notfallmodus

Die Unsicherheit auf Bundesebene löste eine Kettenreaktion in den Bundesstaaten aus und legte die strukturelle Anfälligkeit des gesamten Systems offen. Während die Mühlen der Justiz mahlten, standen Millionen Menschen vor leeren Kühlschränken. Der Druck auf lokale Tafeln (Food Banks) und Vorratskammern stieg explosionsartig an; Berichte über einen plötzlichen Anstieg der Nachfrage und lange Schlangen wurden landesweit laut.

Die Bundesstaaten sahen sich gezwungen, im Alleingang zu handeln. Es entstand ein Flickenteppich der Notversorgung. Einige Staaten, wie Hawaii, Oregon und Washington, reagierten mit beeindruckender Geschwindigkeit. Sie wiesen ihre EBT-Kartenanbieter an, die vollen Leistungen auszuzahlen, oft basierend auf der ursprünglichen Gerichtsentscheidung und bevor der Stopp des Supreme Court wirksam wurde. In Oregon, so wurde berichtet, arbeiteten Beamte „die ganze Nacht durch“, um sicherzustellen, dass Familien über das Wochenende Lebensmittel kaufen konnten. Andere, wie New York, kündigten an, dass die Gelder bis Sonntag auf den Konten sein sollten. Diese Staaten mussten logistische und administrative Hürden überwinden, oft ohne klares Mandat aus Washington. Sie navigierten ein Minenfeld aus juristischer Unsicherheit, um das Schlimmste zu verhindern. Diese Krise bewies: Wenn die zentrale Zusage des Bundes bricht, sind es die lokalen Verwaltungen und gemeinnützigen Organisationen, die das zerrissene Netz notdürftig flicken müssen.

Der Kampf um die Wahrheit: SNAP im Kreuzfeuer der Desinformation

Während der Shutdown die physische Verletzlichkeit des SNAP-Programms offenbarte, tobt parallel ein chronischer Kampf um dessen öffentliche Wahrnehmung. SNAP ist zu einem bevorzugten Ziel für politische Desinformation geworden, die darauf abzielt, die öffentliche Unterstützung durch gezielte Falschbehauptungen zu untergraben.

Die Realität der SNAP-Daten ist, wie so oft, weitaus komplexer als es die politischen Schlagzeilen suggerieren. Oft wird behauptet, die Kosten und Teilnehmerzahlen seien außer Kontrolle geraten. Ein genauerer Blick auf die Zahlen unter der Trump- und der Biden-Administration zeigt jedoch ein differenziertes Bild. Ja, die Ausgaben sind gestiegen, aber dies ist untrennbar mit massiven externen Schocks verbunden: der Covid-19-Pandemie, die Notfallzuweisungen erforderlich machte, und der anschließenden Inflation, die die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb. Interessanterweise wurde der absolute Höhepunkt der Teilnehmerzahlen nicht, wie oft behauptet, unter der Biden-Administration erreicht, sondern während der Trump-Administration, als die Notfallmaßnahmen auf dem Höhepunkt der Pandemie griffen.

Ein weiterer gängiger Vorwurf lautet, die Leistungen würden an „jeden“ verteilt. Dies ist nachweislich falsch. Die Berechtigung für SNAP basiert auf strengen Einkommens- und Vermögensgrenzen. Auch die Debatte um Arbeitsanforderungen (work requirements) ist ein ständiger politischer Zankapfel, obwohl diese Regeln bereits existieren, ihre Aussetzung während der Pandemie endete und die Biden-Regierung sogar einer Verschärfung im Rahmen anderer politischer Verhandlungen zugestimmt hat.

Besonders hartnäckig hält sich das Narrativ, SNAP diene vorwiegend Einwanderern. Die Rechtslage ist jedoch restriktiv: Unautorisierte Einwanderer sind von SNAP-Leistungen kategorisch ausgeschlossen. Flüchtlinge und Asylbewerber können zwar berechtigt sein, und Green-Card-Inhaber müssen in der Regel fünf Jahre warten, um anspruchsberechtigt zu werden. Die Verwirrung entsteht oft durch Analysen, die „noncitizen households“ betrachten. Diese Haushalte umfassen jedoch oft in den USA geborene Kinder, die Staatsbürger sind und einen Anspruch auf Leistungen haben, auch wenn ihre Eltern keine Staatsbürger sind. Daten des Landwirtschaftsministeriums (USDA) zeigen ein anderes Bild als die von Kritikern zitierten Studien, was die Komplexität und die Notwendigkeit der Differenzierung unterstreicht.

Mehr als ein Programm: Ein Spiegel der Nation

Was bleibt, ist das Bild eines Programms im Fadenkreuz. Die Auseinandersetzung um SNAP ist längst kein rein administrativer oder haushaltspolitischer Vorgang mehr. Sie ist zu einem Symbol geworden. Die Shutdown-Krise hat bewiesen, dass SNAP als politisches Druckmittel, als „Bargaining-Chip“, missbraucht werden kann, um ideologische Ziele in völlig anderen Politikfeldern zu verfolgen. Die Desinformationskampagnen zeigen, wie leichtfertig mit Fakten umgegangen wird, um ein Programm zu diskreditieren, das für jeden achten Amerikaner die Brücke zwischen Hunger und Grundversorgung schlägt. Die Mechanismen zur Bekämpfung dieser Desinformation – mühsame Fakten-Checks und komplexe Erklärungen – dringen kaum durch den Lärm der politischen Vereinfachung. Am Ende sind es die 42 Millionen Menschen, die nicht nur mit ökonomischer Unsicherheit, sondern auch mit der permanenten politischen Instabilität ihres wichtigsten Sicherheitsnetzes leben müssen. Die Frage ist nicht, ob das Netz hält, sondern wie lange es den Belastungen einer Nation standhält, die sich uneins darüber ist, wer ein Recht auf Sicherheit hat.

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