Das Santos-Signal: Loyalität als Währung in einer Justiz nach Trumps Art

Illustration: KI-generiert

Es ist ein Moment, der die Gesetze der politischen Schwerkraft außer Kraft zu setzen scheint. Vierundachtzig Tage. Das ist die Zeit, die der ehemalige Kongressabgeordnete George Santos von einer mehr als siebenjährigen Bundesgefängnisstrafe verbüßt hat. Am späten Freitagabend verließ der Mann, dessen Name zum Synonym für dreiste politische Hochstapelei und Betrug geworden ist, als freier Mann das Gefängnis in New Jersey. Entlassen auf direkte Anordnung von Präsident Donald Trump.

Diese Entscheidung ist mehr als nur ein kontroverser Gnadenakt in einer langen Reihe von Trumps Klemense-Entscheidungen. Sie ist ein sorgfältig kalkuliertes politisches Statement. Es ist die Geschichte einer Transaktion, einer methodisch aus dem Gefängnis heraus geführten Kampagne und einer Botschaft, die lauter nicht sein könnte: Im System der zweiten Trump-Amtszeit schlägt performative, unerschütterliche Loyalität jedes Verbrechen. Gerechtigkeit wird zur Verhandlungssache, und die Opfer sind der Kollateralschaden.

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Die Anatomie eines Verbrechens, das keine Lüge war

Um die Tragweite von Trumps Entscheidung zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wofür George Santos verurteilt wurde. Der Präsident und seine Verbündeten versuchen, dies in einem rhetorischen Nebel zu verbergen. Trump selbst tat die Vergehen als die eines „Rogues“ ab und stellte sie in eine Reihe mit den Falschaussagen von Senator Richard Blumenthal über dessen Militärdienst. Die Botschaft soll sein: Santos hat eben gelogen, so wie andere Politiker auch.

Doch dies ist eine bewusste und gefährliche Verharmlosung. George Santos saß nicht im Gefängnis, weil er fälschlicherweise behauptete, ein Volleyball-Star am College gewesen zu sein, bei Goldman Sachs gearbeitet zu haben oder dass seine Großeltern vor dem Holocaust geflohen seien. Er saß dort wegen kalter, krimineller Finanzdelikte. Die Anklagepunkte, zu denen er sich im vergangenen August vollumfänglich schuldig bekannte, lesen sich wie das Handbuch eines Serientäters. Es ging um schweren Identitätsdiebstahl und Drahtbetrug. Santos gab zu, Spender seiner eigenen Kampagne betrogen zu haben. Er stahl ihre Kreditkarteninformationen und belastete ihre Konten ohne Autorisierung mit Tausenden von Dollar, um das Geld für seinen persönlichen Gebrauch abzuzweigen. In einem Fall stahl er 11.000 Dollar von einem einzigen Spender.

Er gab zu, Wahlkampffinanzunterlagen gefälscht zu haben, um nicht existierende Spenden von Familienmitgliedern zu erfinden. Er log über einen angeblichen persönlichen Kredit von 500.000 Dollar an seine Kampagne, zu einer Zeit, als er gerade einmal 8.000 Dollar auf seinen Konten hatte. All dies tat er, um fälschlicherweise Unterstützung von der nationalen Parteiführung zu erhalten. Parallel dazu bezog er fast ein Jahr lang unrechtmäßig Arbeitslosenunterstützung, während er angestellt war.

Die Staatsanwaltschaft hatte bei der Urteilsverkündung im April eine Strafe von 87 Monaten gefordert. Sie argumentierte, eine „signifikante Gefängnisstrafe“ sei notwendig, nicht nur um Santos für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch, um eine klare „Botschaft an andere Möchtegern-Betrüger zu senden“.

Die Opfer-Inszenierung: Santos‘ Weg in die Freiheit

George Santos‘ Freilassung nach nur 84 Tagen war kein plötzlicher Sinneswandel des Präsidenten. Sie war das Finale einer methodischen, fast schon obsessiven Kampagne, die Santos vom Moment seiner Verurteilung an führte. Der Mann, der vor Gericht noch „tiefe Reue“ heuchelte, änderte sofort seinen Ton. Kaum war das Urteil gesprochen, begann er, sich öffentlich als Opfer eines „politisch beeinflussten“ Urteils zu stilisieren.

Sein unwahrscheinlichstes Werkzeug: eine kleine Lokalzeitung auf Long Island, The South Shore Press. Aus seiner Zelle im FCI Fairton heraus lieferte Santos regelmäßige Kolumnen, die ein detailliertes und mitleiderregendes Bild seiner Existenz malten. Er beschrieb den „Faustschlag in die Magengrube“, als er sich zum ersten Mal in Häftlingsuniform sah. Er beklagte die angeblich unhaltbaren Zustände: Schimmel an der Decke, unzureichende Klimatisierung im Sommer und eine Infrastruktur, die „kaum für eine langfristige Bewohnung geeignet“ sei.

Es ist eine klassische Taktik: Wer die Schwere seiner Taten nicht leugnen kann, beklagt die Härte der Konsequenzen. Den dramaturgischen Höhepunkt dieser Inszenierung erreichte Santos, als er nach eigenen Angaben in die Einzelhaft verlegt wurde. Er schrieb von einer „langsamen Form der Folter“ und beklagte, dass ihm Telefonate und E-Mails an die Familie gesperrt worden seien. Was er in seinen Kolumnen als willkürliche Bestrafung darstellte, hatte jedoch einen anderen Hintergrund: Sein eigener Anwalt hatte die Gefängnisleitung über eine angebliche Todesdrohung informiert, woraufhin die Beamten ihn zu seinem eigenen Schutz isolierten.

Während Santos so das Drama aus dem Inneren lieferte, mobilisierten seine treuesten Verbündeten von außen. Allen voran die Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene. Greene, die Santos als eine ihrer wenigen Freundinnen im Kongress bezeichnet hatte und vehement gegen seinen Ausschluss gestimmt hatte, verfasste bereits im August einen formellen Antrag auf Begnadigung an den Pardon-Anwalt des Justizministeriums. Sie räumte zwar ein, dass seine „Verbrechen eine Bestrafung rechtfertigen“, nannte das Urteil aber gleichzeitig einen „missbräuchlichen Übergriff des Justizsystems“. Sie bediente damit exakt das Vokabular, das Präsident Trump für seine eigene Agenda benötigt. Andere Abgeordnete wie Tim Burchett aus Tennessee und Lauren Boebert aus Colorado machten ebenfalls Druck und forderten Untersuchungen der Haftbedingungen.

Ein Präsident, sein Narrativ und der Preis der Loyalität

Am Ende war es ein direkter, unterwürfiger Appell, der den Deal besiegelte. Am 13. Oktober veröffentlichte The South Shore Press einen offenen Brief von Santos an Präsident Trump. Darin beschwor er seine unerschütterliche Loyalität: „Als lebenslanger Republikaner und stolzer Anhänger Ihrer America-First-Vision habe ich nie geschwankt“. Er appellierte an Trumps „Sinn für Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ und bat um die „Chance, neu aufzubauen“.

Vier Tage später war er frei. Präsident Trumps öffentliche Begründung für die Strafumwandlung ist ein Meisterstück der politischen Vernebelung. In einem Social-Media-Beitrag nannte er Santos einen „Rogue“, wiederholte die Behauptungen über dessen Misshandlung in Einzelhaft und nannte die Strafe von sieben Jahren exzessiv.

Doch die wahre Währung dieser Transaktion legte der Präsident selbst offen, als er den Fall Santos gegen den von Senator Blumenthal abwog. Trumps Fazit, das er der Nation mitteilte, lautete: Blumenthals Lügen seien „viel schlimmer“ gewesen, und „wenigstens hatte Santos den Mut, die Überzeugung und die Intelligenz, IMMER REPUBLIKANISCH ZU STIMMEN!“.

Hier liegt die Logik des Systems Trump offen zutage. Nicht Reue, nicht Rehabilitation, nicht einmal die Schwere der Tat sind die entscheidenden Kriterien für Gerechtigkeit. Die einzige relevante Variable ist die absolute, bedingungslose und öffentlich zur Schau gestellte Loyalität gegenüber dem Präsidenten und seiner Bewegung. Santos‘ Verbrechen – Diebstahl, Betrug, Lügen – wurden gewogen und gegen seine Loyalität aufgerechnet. Die Loyalität war schwerer.

Diese Begnadigung ist kein Ausreißer. Sie ist das definierende Muster von Trumps zweiter Amtszeit. Sie steht in einer direkten Linie mit der umfassenden Klemense für Hunderte von Randalierern des 6. Januar, die er als Patrioten und Geiseln umdeutet. Sie folgt der Logik der Begnadigungen für andere in Ungnade gefallene politische Verbündete wie den ehemaligen Gouverneur Rod Blagojevich oder den ebenfalls wegen Betrugs verurteilten Ex-Kongressabgeordneten Michael Grimm. Das Kriterium ist nicht Gerechtigkeit im juristischen Sinne, sondern die Nützlichkeit des Delinquenten für das Narrativ eines „politisierten Justizsystems“, als dessen ultimatives Opfer sich der Präsident selbst sieht.

Der Preis der Freiheit: Warum die Opfer doppelt bestraft werden

Die volle Tragweite dieser Entscheidung, ihre ganze Brutalität, verbirgt sich in den juristischen und finanziellen Details. George Santos erhielt eine „Commutation“ (Strafumwandlung), keine „Pardon“ (Begnadigung). Laut den Richtlinien des Justizministeriums bedeutet eine Strafumwandlung, dass die Strafe – also die Haftzeit – reduziert wird, aber die Verurteilung selbst, der Schuldspruch und die damit verbundenen zivilen Konsequenzen bestehen bleiben. Sie impliziert keine Unschuld.

Doch Trumps Anordnung geht offenbar einen entscheidenden, verheerenden Schritt weiter. Wie aus Kopien des Erlasses hervorgeht, die vom Pardon-Anwalt des Justizministeriums veröffentlicht wurden, befreit die Klemense Santos nicht nur von seiner restlichen Haftzeit. Sie entbindet ihn auch von allen „weiteren Geldstrafen, Restitutionen, Bewährungsauflagen oder anderen Bedingungen“.

Er muss die mehr als 370.000 Dollar an gerichtlich angeordneter Restitution an seine Opfer nicht zurückzahlen. Das ist der vielleicht brutalste Teil der gesamten Affäre. Die Opfer, jene Menschen, deren Vertrauen er missbrauchte, deren Identitäten er stahl und deren Geld er für Botox, Designermode und OnlyFans-Abonnements ausgab, werden nicht entschädigt. Ihre Anerkennung als Geschädigte durch das Justizsystem wurde mit derselben Unterschrift ausradiert, die Santos‘ Zellentür öffnete.

Um zu verstehen, was das in menschlichen Begriffen bedeutet, muss man den Fall von Richard Osthoff betrachten. Osthoff ist ein Veteran der Navy, der 2016 in Not geriet, als sein Diensthund eine lebensrettende Operation benötigte. Santos, der sich damals unter einem Pseudonym ausgab, richtete eine GoFundMe-Seite für den Veteranen ein. Er sammelte Tausende von Dollar – und verschwand dann mit dem Geld. Der Hund starb.

Für Osthoff war die Verurteilung von Santos im April ein später, aber wichtiger Akt der Gerechtigkeit. Die Nachricht von der Begnadigung beschreibt er als „widerlich und krankmachend“. Gegenüber Reportern fand er drastische Worte: Er fühle sich, „als hätte mir der Präsident der Vereinigten Staaten persönlich ein Messer in den Bauch gerammt“.

Republikanische Bruchlinien: Der Riss zwischen MAGA und der Basis

Die Begnadigung von Santos reißt die tiefen Gräben innerhalb der Republikanischen Partei auf. Sie zwingt die Abgeordneten, Farbe zu bekennen: Gilt ihre Loyalität den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit oder dem Willen des Präsidenten?

Für den nationalen MAGA-Flügel ist die Antwort einfach. Marjorie Taylor Greene triumphierte auf Social Media und dankte Trump für die „richtige Entscheidung“. Auch Tim Burchett, der Santos nach dessen Freilassung anrief, zeigte sich erfreut und berichtete, Santos klinge „wie der alte George“.

Doch in New York, auf dem politischen Trümmerfeld, das Santos in seinem ehemaligen Bezirk hinterlassen hat, ist die Stimmung explosiv. Die lokalen Republikaner, die mühsam versucht hatten, ihre Glaubwürdigkeit bei den Wählern auf Long Island wiederherzustellen, sehen die Entscheidung als direkten Angriff auf ihre Arbeit und ihre Wahlchancen. Nicole Malliotakis, eine republikanische Abgeordnete aus New York, distanzierte sich unmissverständlich: „George Santos ist ein verurteilter Hochstapler. Das wird für immer sein Erbe sein, und ich bin mit der Strafumwandlung nicht einverstanden“. Noch deutlicher wurde Nick LaLota, ein republikanischer Kongressabgeordneter aus Long Island, der die Kampagne zu Santos‘ Ausschluss aus dem Kongress maßgeblich angeführt hatte. LaLota schrieb auf Social Media, Santos habe „nicht nur gelogen – er hat Millionen gestohlen, eine Wahl betrogen“ und seine Verbrechen „rechtfertigen mehr als eine dreimonatige Strafe“. Diese Politiker wissen, dass sie ihren Wählern, die von Santos betrogen wurden, nun erklären müssen, warum der Präsident diesen Mann belohnt.

Fast noch aufschlussreicher ist die Reaktion derer, die versuchen, auf dem Hochseil zu balancieren. Führende Republikaner aus Nassau County, wie der Parteivorsitzende Joseph Cairo oder der Bezirksleiter Bruce Blakeman, die beide zuvor Santos‘ Rücktritt gefordert hatten, veröffentlichten Erklärungen. Sie verurteilten pflichtschuldig Santos und seine Taten, erwähnten Präsident Trump und die Begnadigung selbst aber mit keinem Wort. Blakeman nutzte die Gelegenheit stattdessen, um sofort zum Gegenangriff überzugehen und behauptete, die Kritiker der Begnadigung seien dieselben, die „schweigend zusahen, während Präsident Biden seinen Sohn Hunter, Senator Adam Schiff und Anthony Fauci begnadigte“. Es ist eine klassische Taktik der Ablenkung, die zeigt, in welche Zwickmühle Trump seine eigene Partei bringt.

„Ich bin zurück!!!“: Ein Betrüger als Reformer und das Signal an die Demokratie

Und George Santos selbst? Er verschwendet keine Zeit damit, Reue zu zeigen. Wenige Stunden nach seiner Freilassung reaktivierte er sein Konto auf der Plattform Cameo, auf der er schon nach seinem Rauswurf aus dem Kongress für Hunderte von Dollar personalisierte Videobotschaften verkauft hatte. Seine neue Profil-Botschaft, für jeden sichtbar: „Ich bin zurück!!!“.

In einem Social-Media-Post dankte er Trump für die „wahre zweite Chance im Leben“ und kündigte in einem Anfall von atemberaubendem Zynismus an, sich künftig der „Gefängnisreform und Rechenschaftspflicht“ zu widmen. Der verurteilte Betrüger, der 84 Tage abgesessen hat, stilisiert sich nun zum Experten für ein System, dessen gerechter Strafe er gerade durch politische Günstlingswirtschaft entkommen ist.

Am Ende bleibt die Frage, die weit über den Fall Santos hinausgeht: Welches Signal sendet diese Entscheidung aus? Die Staatsanwaltschaft wollte mit ihrem Plädoyer eine Botschaft der Abschreckung an „andere Möchtegern-Betrüger“ senden. Präsident Trump hat diese Botschaft nun persönlich umgeschrieben und mit seinem Siegel versehen. Die neue Botschaft, wie es der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete Adam Kinzinger auf den Punkt brachte, lautet: „Wenn du mich magst, kommst du mit allem durch“. Kinzinger nannte die Begnadigung nicht einfach einen Fehler, sondern „ein Merkmal von Korruption“.

Es ist eine Prämie für zur Schau gestellte Loyalität, eine Verhöhnung der Opfer und eine unmissverständliche Demonstration, dass das höchste Amt im Staat bereit ist, das Justizsystem zu einem Instrument persönlicher Machtpolitik zu degradieren. Die Zellentür von George Santos ist offen. Doch die Tür zu einer Justiz, die blind ist und für alle gleichermaßen gilt, scheint in dieser Nacht ein Stück weiter zugeschlagen worden zu sein.

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