Das letzte Gefecht auf hoher See: Wie Kiews Verzweiflung auf Trumps kalten Realismus trifft

Illustration: KI-generiert

Die Ukraine bricht ihr letztes Tabu und jagt Russlands Schattenflotte, während Washington den Druck für einen schnellen Frieden erhöht. Zwischen brennenden Tankern und dem Ruf nach Wahlen kämpft Präsident Selenskyj nicht mehr nur um Territorium, sondern um die nackte Existenz seines Staates in einer neuen Weltordnung.

Es gab ein ungeschriebenes Gesetz in diesem grausamen Krieg, eine rote Linie im dunklen Wasser. Als ukrainische Drohnenpiloten im August 2023 einen russischen Öltanker im Visier hatten, zögerte die Führung in Kiew. Das ist nicht unser Ziel, hieß es damals aus dem Regierungszug nach Lwiw. Das Argument war moralischer Natur, fast ritterlich in einer Zeit der Barbarei: Man betreibe keine Piraterie, man greife keine zivilen Schiffe an, erst recht nicht unter fremder Flagge. Doch diese Tage der Zurückhaltung sind vorbei. Der Krieg hat seine Unschuld, soweit er sie je besaß, endgültig verloren.

In den letzten Wochen des Jahres 2025 hat sich die ukrainische Strategie radikal gewandelt. Was als Verteidigungskampf begann, wandelt sich unter dem immensen Druck der geopolitischen Realitäten zu einer Strategie der asymmetrischen Nadelstiche, die den Gegner dort treffen sollen, wo es am meisten schmerzt: im Geldbeutel. Kiew hat begonnen, die sogenannte Schattenflotte Russlands direkt zu attackieren, jene Geisterschiffe, die Moskaus Öl unter Umgehung westlicher Sanktionen über die Weltmeere schippern.

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Kinetische Sanktionen statt wirkungslose Dekrete

Es ist ein Akt der Verzweiflung, geboren aus der Erkenntnis, dass die diplomatischen Federn des Westens stumpf geworden sind. Während Brüssel und Washington jahrelang versuchten, den russischen Bären mit Papier zu bändigen, floss das Öl weiter, und mit ihm die Petrodollars in den Kreml. Die ukrainische Antwort darauf ist brutal und direkt: Man nennt es intern kinetische Sanktionen. Wo Finanzsanktionen versagen, sollen Sprengköpfe wirken.

Die Logik dahinter ist bestechend simpel und zugleich hochriskant. Wenn der Westen nicht willens oder fähig ist, das Embargo durchzusetzen, übernimmt die ukrainische Marine diese Aufgabe physisch. Fünf Tanker in dreizehn Tagen – die Frequenz der Angriffe zeigt, dass dies keine isolierten Vorfälle sind, sondern eine systematische Kampagne. Dabei nimmt Kiew keine Rücksicht mehr auf Kollateralschäden. Ob ein Schiff unter der Flagge Gambias fährt oder vor der Küste der Türkei kreuzt, spielt keine Rolle mehr, solange es russisches Öl transportiert.

Das Ziel ist klar: Die Versicherungskosten sollen in die Höhe getrieben, die Reeder abgeschreckt und der russische Exportapparat lahmgelegt werden. Und tatsächlich zeigen sich erste Risse im System. Reedereien ziehen sich zurück, Kapitäne weigern sich, die gefährlichen Routen zu befahren. Doch der Preis für diese Taktik könnte hoch sein. Wladimir Putin hat das Vorgehen bereits als Piraterie gebrandmarkt und mit einer totalen Seeblockade gedroht, die die Ukraine endgültig vom Meer abschneiden würde. Es ist ein Spiel mit dem Feuer auf einem Ozean aus Öl, und die ökologischen Risiken einer solchen Eskalation lassen selbst engste Verbündete der Ukraine erschaudern.

Der lange Schatten des Weißen Hauses

Dass Kiew bereit ist, diese extremen Risiken einzugehen, lässt sich nicht ohne den Blick über den Atlantik verstehen. In Washington weht seit dem Machtwechsel ein neuer, eisiger Wind. Die Administration unter Donald Trump hat ihre eigene Definition von Frieden, und sie deckt sich kaum mit den Hoffnungen der Ukrainer. Die Devise lautet Realismus, doch für viele in Osteuropa klingt es eher nach Kapitulation.

Trump hat keinen Hehl aus seiner Sichtweise gemacht: Größe wird gewinnen, sagte er kürzlich und verwies auf die schiere Masse Russlands. Es ist eine brutale Arithmetik, die den Überlebenswillen einer kleineren Nation zur mathematischen Unmöglichkeit erklärt. Für den US-Präsidenten ist der Krieg ein Deal, der schlecht läuft und abgewickelt werden muss. Seine Emissäre drängen Kiew zu territorialen Zugeständnissen, zur Aufgabe des Donbass und zur Akzeptanz einer entmilitarisierten Zone, die den Verlust von fast einem Fünftel des Staatsgebietes zementieren würde.

Diese neue US-Politik ist nicht nur eine Abkehr von der bisherigen Unterstützung, sie ist ein Paradigmenwechsel. Das neue Nationale Sicherheitsstrategiepapier der USA deutet an, dass Amerika die Sicherheit Europas nicht mehr bedingungslos garantieren will. Trump spricht von einem zerfallenden Europa und suggeriert, dass die Ukraine realistisch sein müsse, ein Codewort für die Annahme schmerzhafter Kompromisse.

Die Falle der Legitimität: Wahlen im Bombenhagel

In dieser Zange zwischen russischer Offensive und amerikanischem Druck sieht sich Wolodymyr Selenskyj einer weiteren Front gegenüber: der Frage nach seiner eigenen Legitimität. Seine reguläre Amtszeit endete im Mai 2024, doch das Kriegsrecht verbietet Wahlen. Moskau nutzt dies weidlich für Propaganda, doch nun stimmt auch Washington in den Chor ein. Trump wirft der ukrainischen Führung vor, den Krieg zu nutzen, um Wahlen zu vermeiden, und stellt offen die Frage, ob die Ukraine überhaupt noch eine Demokratie sei.

Selenskyjs Antwort darauf ist ein rhetorisches Meisterstück, ein vergiftetes Angebot an den Westen. Er erklärt sich bereit, Wahlen abzuhalten, sofort, innerhalb von 60 bis 90 Tagen. Doch er knüpft dies an eine Bedingung, die kaum erfüllbar scheint: Der Westen, allen voran die USA, müssen die Sicherheit dieser Wahlen garantieren.

Es ist ein brillanter Schachzug. Selenskyj weiß, dass eine Wahl unter den aktuellen Bedingungen logistisch ein Albtraum wäre. Millionen Flüchtlinge sind im Ausland verstreut, Soldaten liegen in Schützengräben unter Dauerbeschuss, und weite Teile des Landes sind besetzt. Wie soll in einer Stadt, die täglich von Raketen terrorisiert wird, ein Wahllokal öffnen? Indem er die Verantwortung für die Sicherheit an die USA delegiert, spielt er den Ball zurück: Wollt ihr Wahlen? Dann gebt uns die Luftabwehr und die Sicherheitsgarantien, um sie durchzuführen. Liefert ihr nicht, könnt ihr uns auch nicht die Legitimität absprechen.

Gleichzeitig signalisiert er damit nach innen und außen, dass er nicht an der Macht klebt. Er entkräftet das Narrativ des Diktators und fordert seine Kritiker heraus. Potenzielle Rivalen wie der ehemalige Armeechef Walerij Saluschnyj mögen in Umfragen gut dastehen, doch ohne einen sicheren Rahmen für den Urnengang bleibt jede Diskussion über Alternativen theoretisch.

Europas Angst vor dem Alleingang

Während Washington drängt und Kiew taktiert, herrscht in den europäischen Hauptstädten Alarmstimmung. Die europäischen Kernmächte – Deutschland unter Kanzler Merz, Frankreich und Großbritannien – versuchen verzweifelt, den Riss im westlichen Bündnis zu kitten. Sie fürchten, dass ein von den USA forcierter Deal über die Köpfe der Ukrainer hinweg nicht Frieden bringt, sondern lediglich eine Atempause für Moskau, bevor der nächste Feldzug beginnt.

Die Koalition der Willigen, wie sich die Gruppe der Unterstützer nennt, steht vor einer Herkulesaufgabe. Sie muss nicht nur die wegbrechende US-Militärhilfe kompensieren, ein fast unmögliches Unterfangen, wie die Zahlen des Kieler Instituts zeigen, wonach die Hilfe 2025 drastisch eingebrochen ist, sondern auch eine eigene Sicherheitsarchitektur für den Kontinent entwerfen. Die Warnung des NATO-Generalsekretärs Rutte hallt in Berlin und Paris nach: Wir sind Russlands nächstes Ziel.

Die Europäer versuchen, Trumps Transaktions-Logik mit eigenen Angeboten zu begegnen. Sie arbeiten an Sicherheitsgarantien und einem beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine, den einige bereits als unvermeidlich bezeichnen. Doch ob dies ausreicht, um Kiew vor einem Diktatfrieden zu bewahren, ist fraglich. Der diplomatische Eiertanz ist offensichtlich: Man versucht, Trump einzubinden, ihm zu schmeicheln, ihn nicht zu verprellen, während man gleichzeitig versucht, seine schlimmsten Impulse abzufedern.

Der Preis des Wiederaufbaus: Investitionen als Waffe?

Hinter den Kulissen der Friedensgespräche zeichnet sich jedoch noch eine andere Dynamik ab: Die Ökonomisierung des Friedens. Trumps Umfeld, insbesondere Figuren wie Jared Kushner, betrachten den Konflikt durch die Brille des Immobilienunternehmers. Wenn Ideologie nicht verfängt, muss Geld fließen. Pläne werden geschmiedet, den Wiederaufbau der Ukraine durch gigantische private Investitionsfonds zu finanzieren, orchestriert von Finanzgiganten wie BlackRock.

Die Idee ist verführerisch simpel: Man ersetzt staatliche Sicherheitsgarantien durch wirtschaftliche Verflechtung. Ein Land, in dem US-Konzerne Milliarden investiert haben, wird nicht so leicht angegriffen, so zumindest die Theorie kapitalistischer Friedensstiftung. Auch die eingefrorenen russischen Vermögenswerte, über 200 Milliarden Dollar, sollen als Hebel dienen, um Kiew den bitteren Geschmack der Gebietsverluste zu versüßen.

Es ist der Versuch, aus einer geopolitischen Katastrophe ein Business-Modell zu machen. Für die Ukraine ist dies Fluch und Segen zugleich. Investitionen sind überlebenswichtig, doch sie bergen die Gefahr, dass das Land nicht als souveräner Staat, sondern als Investitionsobjekt behandelt wird, dessen Grenzen in Boardrooms statt in Parlamenten gezogen werden.

Ein Tanz auf dem Vulkan

Wir erleben in diesen Dezembertagen 2025 einen Moment von historischer Tragweite. Die Ukraine steht mit dem Rücken zur Wand. Die Angriffe auf die Schattenflotte sind kein Zeichen von Stärke, sondern das Aufbäumen eines Akteurs, der weiß, dass seine Zeit abläuft. Es ist der Versuch, in letzter Minute Fakten zu schaffen, den Preis für Russland so hoch zu treiben, dass Moskau am Verhandlungstisch vielleicht doch blinzelt.

Doch die Risiken sind immens. Ein einziger fehlgeleiteter Drohnenangriff, eine Umweltkatastrophe im Schwarzen Meer oder eine drastische russische Vergeltung gegen den Getreidekorridor könnten die fragile Situation vollends zur Explosion bringen. Die Welt schaut zu, wie im Nebel des Krieges die Konturen einer neuen Ordnung sichtbar werden, einer Ordnung, in der das Recht des Stärkeren wieder mehr zählt als das Völkerrecht und in der kleine Nationen Gefahr laufen, zur Verhandlungsmasse der Großen zu werden.

Präsident Selenskyj hat verstanden, dass er nicht nur gegen russische Panzer kämpft, sondern auch gegen die Müdigkeit des Westens und den Zynismus der neuen Macht in Washington. Seine Bereitschaft zu Wahlen und die gleichzeitige militärische Eskalation auf See sind zwei Seiten derselben Medaille: Der verzweifelte Kampf um Relevanz, Souveränität und das Überleben seiner Nation als eigenständiger Akteur auf der Weltbühne. Ob dieser gewagte Einsatz aufgeht oder in einer Tragödie endet, wird sich in den nächsten Wochen entscheiden. Die See ist rau, und der Kompass des Westens dreht sich wild im Kreis.

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