Das große Vergessen: Wie Robert F. Kennedy Jr. die amerikanische Medizin entkernt

Illustration: KI-generiert

Unter dem Deckmantel der Gesundheit revolutioniert Robert F. Kennedy Jr. das US-Gesundheitswesen. Doch was als Kampf gegen chronische Krankheiten verkauft wird, entpuppt sich als Demontage der wissenschaftlichen Moderne – mit fatalen Folgen.

Das Hauptquartier des Department of Health and Human Services in Washington wirkt wie eine Festung aus grauem Beton, ein brutalistischer Block, der eher abweisend als einladend erscheint. Für die Mitarbeiter, die dort über Jahrzehnte hinweg die Seuchenschutzlinien der Vereinigten Staaten hielten, fühlte sich das Gebäude früher vielleicht wie eine Bastion der Wissenschaft an. Heute, unter der Führung von Robert F. Kennedy Jr., gleicht es eher einem belagerten Kastell. Kennedy selbst bezeichnete die Centers for Disease Control and Prevention, jene Behörde, die einst Goldstandard für epidemiologische Arbeit war, als eine Schlangengrube. Und wie ein neuer Burgherr, der die alten Geister austreiben will, hat er begonnen, das Inventar der amerikanischen öffentlichen Gesundheit nicht nur umzuräumen, sondern grundlegend zu zertrümmern.

Es vollzieht sich hier weit mehr als ein gewöhnlicher Regierungswechsel. Wir erleben einen epistemologischen Bruch. Die Administration Kennedy stellt nicht bloß politische Weichen neu; sie stellt die Art und Weise infrage, wie wir Wissen generieren, wie wir Risiken bewerten und was wir unter Krankheit verstehen. Es ist der Versuch, die Uhr der Medizin zurückzudrehen – nicht um Jahre, sondern um Jahrhunderte.

Die Renaissance des Miasmas

Im Zentrum dieser ideologischen Wende steht ein Konflikt, der längst als entschieden galt: der Streit zwischen der modernen Keimtheorie und der vorwissenschaftlichen Miasma-Lehre. Kennedy und seine neuen Verbündeten propagieren eine Weltanschauung, die das Terrain – also den Zustand des Körpers und seine Umweltbedingungen – über den Erreger stellt. In dieser Lesart sind nicht Viren die primäre Bedrohung, sondern ein geschwächtes Immunsystem, vergiftet durch falsche Ernährung und Umwelttoxine.

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Das klingt auf den ersten Blick verführerisch, fast intuitiv richtig. Wer würde widersprechen, dass gesunde Ernährung und Sport essenziell sind? Doch die neue Führung im Gesundheitsministerium nutzt diese Binsenweisheit als Waffe gegen die pharmazeutische Prävention. Kennedy greift in seinem Buch explizit den Begriff der Miasma-Theorie auf, um Krankheiten primär auf Umweltgifte und Mangelernährung zurückzuführen, während er die Rolle von Erregern – und damit die Notwendigkeit von Impfungen – marginalisiert.

Diese Verschiebung manifestiert sich in konkreter Politik. Jay Bhattacharya, der neue Direktor der National Institutes of Health, und sein Stellvertreter argumentieren, dass die Vorbereitung auf Pandemien nicht in der Entwicklung von Impfstoffen oder der Überwachung von Erregern liegen sollte, sondern darin, die Bevölkerung metabolisch gesund zu machen. Die Logik ist so simpel wie gefährlich: Wenn wir nur alle fit genug sind, brauchen wir keine Masken, keine Distanzierung und keine neuartigen Impfstoffe mehr. Es ist eine Form des biologischen Libertarismus, der die Verantwortung für das Überleben im Seuchenfall vollständig auf das Individuum abwälzt und die staatliche Schutzfunktion negiert.

Das administrative Ausradieren der Evidenz

Um diesen Paradigmenwechsel durchzusetzen, bedarf es der Kontrolle über das Narrativ. Kennedy weiß als erfahrener Anwalt: Wer die Beweise kontrolliert, gewinnt den Prozess. Daher erleben wir derzeit eine systematische Säuberung der wissenschaftlichen Datenbanken und Kommunikationskanäle der Regierung.

Der eklatanteste Fall ist die Webseite der CDC zum Thema Autismus. Über Jahre hinweg stand dort der klare, durch Dutzende Studien belegte Satz: Impfungen verursachen keinen Autismus. Kennedy, der seine politische Karriere auf der Widerlegung genau dieses Satzes aufgebaut hat, ließ ihn ändern. Heute liest der besorgte Bürger dort, dass Studien die Möglichkeit, dass Impfungen Autismus verursachen, nicht ausgeschlossen haben. Zwar blieb die Überschrift aufgrund einer politischen Absprache mit Senator Bill Cassidy formal erhalten, doch ein Sternchen führt nun zu einem Fußnotentext, der die eigentliche Aussage negiert und behauptet, die ursprüngliche Aussage sei nicht evidenzbasiert.

Es ist ein Meisterstück der Desinformation durch Bürokratie. Kennedy nutzt die wissenschaftliche Unmöglichkeit, eine absolute Negativität zu beweisen – man kann nie beweisen, dass etwas nicht passiert –, um Zweifel zu säen. Er institutionalisiert die Unsicherheit. Das Resultat ist eine staatliche Behörde, die sich selbst bezichtigt, kritische Studien ignoriert zu haben. Es ist, als würde die Feuerwehr offiziell verkünden, dass Wasser vielleicht doch Brände beschleunigt.

Die Säuberung der Experten

Diese inhaltliche Neuausrichtung wäre nicht möglich ohne einen radikalen Austausch des Personals. Kennedy hat verstanden, dass Personal Policy ist. Er hat die CDC-Direktorin Susan Monarez entlassen, weil sie an wissenschaftlicher Integrität festhielt. Er feuerte alle 17 Mitglieder des beratenden Impfausschusses ACIP – jenes Gremiums, das die Impfempfehlungen für das Land ausspricht – und ersetzte sie durch eigene Gefolgsleute, von denen einige offen impfskeptische Positionen vertreten.

Das Arbeitsklima in den Behörden wird als von Angst geprägt beschrieben; Wissenschaftler werden an den Rand gedrängt oder zur Kündigung gedrängt. Rund ein Viertel der HHS-Mitarbeiter und Tausende bei der CDC wurden durch Entlassungen oder erzwungenen Ruhestand aus dem Dienst entfernt. Dieser Brain Drain ist kein Kollateralschaden, er ist das Ziel. Indem Kennedy die Experten, die er als Biostitutes – eine Mischung aus Biologen und Prostituierten – verunglimpft, entfernt, beseitigt er den internen Widerstand gegen seine Agenda.

Die neuen Entscheidungsträger, wie der FDA-Kommissar Marty Makary oder der für Medicare zuständige Mehmet Oz, teilen Kennedys Grundskepsis gegenüber dem Establishment. Sie sehen sich als Renegaten, die durch die Pandemiepolitik radikalisiert wurden. Ihre Loyalität gilt nicht dem wissenschaftlichen Konsens, sondern der Disruption desselben.

Wenn Zweifel tödlich sind

Die Folgen dieser Politik sind nicht theoretischer Natur. Sie zeichnen sich bereits in den Krankenzimmern und Friedhöfen der Nation ab. Die Impfquoten sinken, während die Skepsis – nun staatlich legitimiert – steigt. In West Texas starben Kinder an Masern, einer Krankheit, die durch Impfungen fast eliminiert war. Als Reaktion auf solche Ausbrüche empfahl Kennedy nicht etwa Impfungen, sondern Vitamin A. Es ist die Rückkehr zur Medizin des 19. Jahrhunderts: Lebertran statt Vakzine.

Besonders alarmierend ist die juristische Flanke dieses Angriffs. In West Virginia, einem Staat, der lange stolz auf seine strengen Impfgesetze und hohen Schutzraten war, erstritt ein Gerichtsurteil das Recht auf religiöse Ausnahmen von der Impfpflicht. Angeführt wurde dieser Kampf unter anderem von Aaron Siri, einem engen juristischen Berater Kennedys. Das Urteil priorisiert die individuelle Glaubensfreiheit über den Schutz der Gemeinschaft und reißt Löcher in den Herdenschutz, die Viren wie Masern und Keuchhusten dankbar nutzen werden.

Die realen Auswirkungen zeigen sich auch in der Forschung. Kennedy hat Fördergelder in Höhe von 500 Millionen Dollar für die mRNA-Forschung gestrichen. Diese Technologie, die in Rekordzeit Leben rettete, wird nun als gescheitert betrachtet, weil sie Infektionen nicht zu 100 Prozent verhinderte – ein Standard, den kaum ein medizinisches Produkt erfüllen kann. Durch diese Defundierung verliert Amerika nicht nur seine biomedizinische Spitzenposition, sondern auch seine Rüstung für den nächsten viralen Angriff.

Die Illusion der Nuance

In Hintergrundgesprächen gibt sich Kennedy oft als differenzierter Denker. Er liest nächtelang Studien, wägt ab, spricht von Nuancen. Er beteuert, er wolle niemandem Impfungen wegnehmen, sondern nur für Sicherheit sorgen. Doch diese intellektuelle Fassade bröckelt, sobald sie auf die politische Realität der Trump-Administration trifft.

Ein Beispiel dafür ist die Debatte um Tylenol, auch bekannt als Paracetamol. Kennedy studierte wochenlang Daten über einen möglichen Zusammenhang mit Autismus und riet dem Präsidenten zu einer vorsichtigen Warnung. Trumps Reaktion war jedoch das verbale Äquivalent eines Vorschlaghammers: Nehmen Sie kein Tylenol. Kämpfen Sie wie die Hölle, es nicht zu nehmen. Während Kennedy sich in wissenschaftlichen Fußnoten verliert, übersetzt der Präsident die Skepsis in gefährliche Handlungsanweisungen, die medizinische Fachgesellschaften entsetzt zurücklassen. Kennedy mag sich als Gralshüter der wahren Wissenschaft sehen, doch er liefert die Munition für einen anti-wissenschaftlichen Kulturkampf, dessen Kollateralschäden Schwangere und Kinder sind.

Das Narrativ der Vereinnahmung

Kennedys mächtigstes rhetorisches Werkzeug ist die Erzählung von der Corporate Capture – der Vereinnahmung der Behörden durch die Industrie. Er argumentiert, dass die FDA und CDC Marionetten der Pharmakonzerne seien, die Profit über Gesundheit stellten. Dieses Narrativ verfängt, weil es einen wahren Kern hat: Der Einfluss der Lobbyisten ist real. Doch Kennedy nutzt diese berechtigte Kritik nicht, um die Aufsicht zu stärken, sondern um sie zu delegitimieren.

Indem er behauptet, Sicherheitsstandards seien korrumpiert, schafft er den Vorwand, diese Standards ganz abzuschaffen oder durch pseudowissenschaftliche Kriterien zu ersetzen. Er fordert Studien von einer methodischen Reinheit, die in der Realität kaum erreichbar ist – etwa placebokontrollierte Studien für seit Langem zugelassene Impfstoffe, was ethisch unvertretbar wäre, da man der Kontrollgruppe den Schutz verweigern müsste. Wenn diese Studien dann ausbleiben, wertet er dies als Beweis für Vertuschung. Es ist eine Zirkelschluss-Logik, die das Vertrauen in jede Form von regulierter Medizin untergräbt.

Die soziale Dimension: Gesundheit als Privileg

Die von Kennedy propagierte Make America Healthy Again-Agenda hat zudem eine zutiefst unsoziale Komponente. Die Verschiebung des Fokus von staatlicher Vorsorge wie Impfungen, sauberes Wasser und Medikamente hin zu individueller Lebensführung und dem Ziel, metabolisch gesund zu werden, ist ein Privileg der Wohlhabenden. Bio-Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel und Zeit für Sport sind Ressourcen, die ungleich verteilt sind.

Indem die Regierung suggeriert, chronische Krankheiten und Infektionsanfälligkeit seien primär das Resultat schlechter persönlicher Entscheidungen oder mangelnder Reinheit, stigmatisiert sie die Kranken. Wer an COVID stirbt oder Masern bekommt, hat in dieser Logik nicht Pech gehabt oder wurde vom Schutzsystem im Stich gelassen, sondern hat sein Terrain nicht ausreichend gepflegt. Dies erinnert fatal an religiöse Konzepte von Reinheit und Sünde, nur dass sie hier im Gewand der Wellness-Bewegung daherkommen.

Ein düsterer Ausblick

Wir stehen am Anfang eines Experiments mit offenem Ausgang. Die USA demontieren ihre Sicherheitsarchitektur gegen biologische Bedrohungen in einer Zeit, in der diese Bedrohungen eher zu- als abnehmen. Die Streichung von Forschungsgeldern, die Vertreibung von Expertise und die Erosion des Vertrauens in Impfungen schaffen ein Vakuum, das Viren und Bakterien füllen werden.

Kennedy mag glauben, er führe einen heiligen Krieg gegen Korruption und Gift. Seine Anhänger mögen in ihm einen Erlöser sehen, der ihnen in einer komplexen Welt einfache Antworten und spirituellen Trost bietet. Doch Viren interessieren sich nicht für Narrative. Masern lassen sich nicht durch Skepsis beeindrucken, und Polio kehrt nicht zurück, weil wir zu wenig Bio-Karotten essen, sondern weil wir aufhören, uns zu schützen.

Das Vertrauen in die Wissenschaft, einmal verloren, lässt sich nicht einfach per Dekret wiederherstellen. Wenn offizielle Regierungswebseiten Verschwörungsmythen adeln und Warnungen vor lebensrettenden Maßnahmen aussprechen, wird der gesellschaftliche Konsens über Realität und Wahrheit irreparabel beschädigt. Was bleibt, ist eine Nation, die im Angesicht der nächsten Pandemie nicht mehr auf ihre Ärzte hört, sondern auf Influencer und Ideologen. Robert F. Kennedy Jr. wollte die amerikanische Gesundheit retten. Es sieht so aus, als würde er sie stattdessen der Willkür des Zufalls und der Gnade der Natur überlassen. Und die Natur ist, wie Kennedy aus seinen eigenen Falkner-Tagen wissen sollte, grausam.

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