Chicago: Chronik einer angekündigten Eskalation

Illustration: KI-generiert

Über den Wolkenkratzern von Chicago liegt an diesen Tagen ein flirrender Spätsommer, doch in den Straßen der Stadt, entlang des Ufers des Lake Michigan und in den weitläufigen Vierteln im Süden und Westen, braut sich ein Sturm zusammen. Es ist kein meteorologisches, sondern ein politisches Unwetter, dessen Blitze von Washington D.C. aus zucken und dessen Donner die Grundfesten des amerikanischen Föderalismus erschüttert. Die Stadt am See, dieses Herz des Mittleren Westens, ist zur Bühne eines dramatischen Konflikts geworden, der weit mehr ist als nur ein Streit über Kriminalitätsraten und Migrationspolitik. Es ist ein Ringen um Macht, Wahrheit und die Seele der Nation.

Die Trump-Administration inszeniert in Chicago ein politisches Schauspiel, bei dem Migration und Kriminalität nicht die eigentlichen Probleme, sondern die wirkungsvollsten Requisiten sind. In diesem Stück geht es um die Demonstration unnachgiebiger Stärke gegenüber einem politischen Gegner und die gezielte Eskalation eines Konflikts, dessen Begründung bei näherer Betrachtung zerfällt wie ein morsches Bühnenbild. Chicago, so die These dieses Beitrags, wird bewusst in eine doppelte Krise gedrängt – eine reale humanitäre und eine strategisch fabrizierte politische –, um ein Exempel zu statuieren, das die Grenzen zwischen exekutiver Macht und lokaler Autonomie neu definieren soll.

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Zwischen humanitärer Pflicht und politischem Kalkül

Die erste Belagerung, der sich Chicago ausgesetzt sieht, ist leise, aber zermürbend. Seit August 2022 ist die Stadt zum Ziel einer beispiellosen Aktion geworden: Mehr als 46.000 Migranten wurden, zumeist auf Initiative des texanischen Gouverneurs Greg Abbott, mit Bussen in die Metropole verfrachtet. Was als politisches Manöver begann, um die Belastungen der Grenzstaaten für demokratisch regierte „Sanctuary Cities“ spürbar zu machen, entwickelte sich für Chicago zu einer ernsten Zerreißprobe. Die Stadt hat seit Beginn dieser Welle über 460 Millionen Dollar aufgewendet, um die Neuankömmlinge notdürftig zu versorgen – eine Summe, die die kommunalen Haushalte an ihre Grenzen bringt und die nur unregelmäßig und unzureichend durch Gelder von Bund und Staat abgefedert wird.

Diese humanitäre Anstrengung erzeugt spürbare Verteilungskonflikte. In historisch marginalisierten, überwiegend schwarzen Vierteln im Süden und Westen der Stadt wächst der Unmut. Anwohner, die seit Jahrzehnten auf Investitionen und staatliche Unterstützung warten, sehen mit Frustration, wie nun Ressourcen für die Neuankömmlinge mobilisiert werden. Es ist ein gefährlicher Nährboden für Ressentiments, den die Stadtverwaltung nur schwer befrieden kann. Obwohl sie beteuert, keine Gelder aus bestehenden Programmen abzuziehen, bleibt das Gefühl einer Ungleichbehandlung, einer priorisierten Hilfe, die alte Wunden aufreißt.

Gleichzeitig formiert sich die zweite Belagerung, eine, die laut und martialisch ist. Aus dem Weißen Haus tönt die unermüdliche Rhetorik von einer Stadt im Chaos, einem „killing field“, das von einer „inkompetenten“ Stadtführung in den Abgrund regiert werde. Präsident Trump hat Chicago wiederholt als sein nächstes Ziel für einen großangelegten „Crackdown“ auserkoren, eine Operation, die nach dem Vorbild von Einsätzen in Los Angeles und Washington D.C. ablaufen soll. Die Pläne sind erschreckend konkret: Hunderte Beamte der Einwanderungsbehörde ICE sollen für eine massive Razzia mobilisiert werden, für die sogar die Nutzung der nahegelegenen Naval Station Great Lakes als logistische Basis im Raum steht. Pentagon-Mitarbeiter skizzieren bereits Optionen für die Entsendung von mehreren Tausend Nationalgardisten, die ab September in der Stadt für Ordnung sorgen sollen.

Wenn Fakten auf Fiktion treffen

Doch was, wenn die Diagnose selbst Teil der Krankheit ist? Was, wenn die angebliche Anarchie, die eine solch drastische Intervention rechtfertigen soll, in der Realität gar nicht existiert? Die Konfrontation der Erzählung aus Washington mit den lokalen Daten gleicht dem Zusammenprall zweier verschiedener Welten. Während der Präsident von einem unkontrollierten Anstieg der Gewalt spricht, verzeichnet die Chicagoer Polizei einen bemerkenswerten Rückgang. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Gewaltkriminalität um 23 Prozent gesunken. Die Zahl der Morde, ein besonders sensibler Indikator, ist seit dem Pandemie-Hoch im Jahr 2021 sogar um 50 Prozent gefallen. Chicago rangiert, anders als das Narrativ es will, nicht einmal unter den 25 gefährlichsten Städten der USA.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Migration. Die Busse aus Texas, die monatelang das Bild prägten, kommen nicht mehr. Seit die Biden-Administration im Juni neue, restriktivere Asylregeln einführte und Mexiko seine Grenzsicherung verstärkte, ist die Zahl der illegalen Grenzübertritte drastisch gefallen – auf den niedrigsten Stand seit September 2020. Die Notunterkünfte in Chicago leeren sich, die Zahl der Migranten, die auf eine Unterbringung warten, liegt im einstelligen Bereich. Die unmittelbare Krise an der Grenze, die als Begründung für die Entsendung der Busse diente, hat sich merklich entspannt.

Die Rechtfertigung für eine Bundesintervention erodiert damit von zwei Seiten gleichzeitig. Weder gibt es eine eskalierende Gewaltwelle, die lokale Kräfte überfordern würde, noch einen unkontrollierten Zustrom von Migranten, der ein Eingreifen von außen unumgänglich machte. Die Faktenlage stützt das Handeln der Bundesregierung nicht – sie widerlegt es. Das Vorgehen entpuppt sich als eine politische Operation, die ihre eigene Legitimation erschaffen will, indem sie eine Realität behauptet, die den Daten widerspricht.

Ein Ringen um die Grundfesten des Föderalismus

Der Konflikt verlagert sich damit unweigerlich auf die juristische und verfassungsrechtliche Ebene. Kann ein Präsident die Nationalgarde in einem Bundesstaat einsetzen, wenn dessen Gouverneur dies ausdrücklich ablehnt? Gouverneur J.B. Pritzker und Bürgermeister Brandon Johnson, beide Demokraten, haben eine rote Linie gezogen. Sie bestreiten nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Rechtmäßigkeit einer solchen Operation und haben angekündigt, jeden Versuch mit allen juristischen Mitteln zu bekämpfen. Ihre Haltung ist unmissverständlich: Es existiert kein Notstand, keine Rebellion, die einen derart massiven Eingriff in die Souveränität des Staates Illinois rechtfertigen würde.

Die Trump-Administration beruft sich auf Präzedenzfälle und eine maximalistische Auslegung präsidialer Macht. In Los Angeles nutzte Trump eine obskure Bestimmung in „Title 10“ des US-Gesetzeskodex, die einen Einsatz der Nationalgarde bei einer „Rebellion gegen die Autorität der Regierung“ erlaubt – eine mehr als dehnbare Interpretation der dortigen Proteste gegen ICE-Operationen. In Washington D.C. ist die Lage ohnehin anders, da der Präsident als Oberbefehlshaber der dortigen Nationalgarde eine direktere Kontrolle ausübt. Doch Illinois ist kein Bundesdistrikt. Hier ist der Gouverneur der Befehlshaber der Garde.

Trump selbst scheint diese juristischen Feinheiten als lästig abzutun. Seine Aussage, er habe „das Recht zu tun, was immer ich tun will“, offenbart ein imperiales Amtsverständnis, das die Gewaltenteilung und die föderale Struktur der USA infrage stellt. Der Konflikt um Chicago wird so zu einem Testfall von nationaler Bedeutung. Sollte der Präsident seine Pläne durchsetzen, könnte dies einen Präzedenzfall schaffen, der das Machtgleichgewicht zwischen Washington und den Bundesstaaten dauerhaft verschiebt. Es wäre ein Riss im Fundament der amerikanischen Republik.

Echos der Angst und Akte der Menschlichkeit

Während auf höchster Ebene um Paragrafen und Prinzipien gerungen wird, hallt der Konflikt in den Straßen Chicagos wider und legt die komplexen Bruchlinien der Stadtgesellschaft frei. Die Angst vor Kriminalität ist, ungeachtet der sinkenden Statistiken, für viele Bürger eine gefühlte Realität. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass sich zwei Drittel der Einwohner davor fürchten, nachts allein in der Nähe ihres Zuhauses unterwegs zu sein. Diese diffuse Angst ist das Einfallstor für die Rhetorik der harten Hand.

Gleichzeitig gibt es eine beeindruckende Welle der Solidarität. Freiwillige und gemeinnützige Organisationen wie das „New Vecinos program“ haben in den letzten zwei Jahren unter Hochdruck eine funktionierende Infrastruktur für die ankommenden Migranten aufgebaut. Es sind Geschichten von Bürgern, die spontan Geld spenden, von ehemaligen Asylsuchenden, die nun selbst als Helfer arbeiten, und von Migranten wie Miguel Mendoza, die nach Monaten im Obdachlosenheim eine Wohnung finden, arbeiten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten wollen.

Diese zivilgesellschaftliche Resilienz steht im scharfen Kontrast zur politischen Polarisierung. Die Anwohner, die eine militärische Präsenz befürchten, sehen darin keine Lösung, sondern eine Bedrohung. Sie fürchten die Einschüchterung von Einwandererfamilien, die Störung des Geschäftslebens und das Bild einer Stadt unter Besatzung. Es ist die Sorge, dass die vermeintliche Medizin tödlicher sein könnte als die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt. Die Alternative, die von lokalen Politikern und Aktivisten gefordert wird, ist eindeutig: keine Soldaten, sondern finanzielle Unterstützung für bewährte Programme zur Gewaltprävention, für soziale Arbeit und für die nachhaltige Integration von Migranten.

Chicago als Chiffre für ein zerrissenes Amerika

Am Ende steht Chicago als Chiffre für ein Land im Stresstest. Der Konflikt ist mehr als eine lokale Auseinandersetzung; er ist ein Symptom für die tiefen Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen. Es geht um die Frage, ob Politik auf der Basis von Fakten oder auf der Grundlage von Furcht gemacht wird. Es geht darum, ob der Föderalismus ein lebendiges Prinzip der Machtteilung bleibt oder zu einer leeren Hülse wird, die ein zentralistischer Präsident nach Belieben füllen kann.

Die Eskalationsstufen sind alarmierend. Ein erzwungener Einsatz der Nationalgarde würde unweigerlich zu einer Konfrontation vor den Gerichten führen, deren Ausgang ungewiss ist. Er würde das Misstrauen zwischen den Regierungsebenen vertiefen und die politische Polarisierung weiter anheizen. Langfristig droht eine Normalisierung des Einsatzes von Militär im Inneren zur Verfolgung politischer Ziele – ein Szenario, das die Väter der amerikanischen Verfassung mit Schaudern erfüllt hätte.

Die Stadt Chicago, die sich einst als „The City of Big Shoulders“ rühmte – die Stadt der breiten Schultern, die jede Last tragen kann –, stemmt sich derzeit gegen eine doppelte Last. Sie kämpft um ihre humanitären Werte im Angesicht einer beispiellosen Migrationswelle und zugleich um ihre Autonomie gegen einen Präsidenten, der sie zum Schauplatz seiner Machtdemonstration auserkoren hat. Der Ausgang dieses Ringens wird nicht nur das Schicksal dieser einen Stadt bestimmen, sondern auch ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte der amerikanischen Demokratie schreiben.

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