Amerikas stiller Krieg: Wie Gewerkschaften in den Bundesstaaten die Macht über die KI erobern

Illustration: KI-generiert

In den Werkshallen, Büros und auf den endlosen Highways der USA hat ein neuer Konflikt begonnen. Er wird nicht mit Streikposten und Megafonen geführt, sondern in den Ausschusssälen der bundesstaatlichen Parlamente, in den Klauseln von Tarifverträgen und in den Zeilen von Softwarecode. Es ist ein stiller Krieg um die Zukunft der Arbeit selbst, ein Ringen um die Frage, wer die Regeln für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz schreibt. Während Washington unter Präsident Donald Trump eine Politik der freien Hand für die Technologieindustrie verfolgt, hat sich der Schauplatz des Geschehens verlagert. Es sind die Gewerkschaften, die nun, Bundesstaat für Bundesstaat, eine regulatorische Verteidigungslinie errichten, um zu verhindern, was sie als existenzielle Bedrohung ansehen: eine Zukunft, in der Algorithmen über das Schicksal von Millionen von Arbeitnehmern entscheiden.

Dieser dezentrale Abwehrkampf ist mehr als nur eine politische Taktik; er ist eine strategische Notwendigkeit in einem Land, in dem der föderale Schutzwall für Arbeitnehmerrechte bröckelt. Es entfaltet sich ein faszinierendes Experiment mit ungewissem Ausgang: Kann ein Flickenteppich aus lokalen Regeln eine nationale Technologiewelle gestalten, oder führt er das Land in ein neues Zeitalter der wirtschaftlichen Zersplitterung?

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Washington schweigt, die Staaten handeln: Warum der Kampf um KI lokal geführt wird

Die Entscheidung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, ihre Kräfte auf die Ebene der Bundesstaaten zu konzentrieren, ist kein Zufall, sondern eine direkte Reaktion auf ein Machtvakuum in der Hauptstadt. Der Versuch, ein bundesweites Moratorium zu verhängen, das den Bundesstaaten für zehn Jahre jegliche KI-Regulierung untersagt hätte, ist im Senat gescheitert. Dieser gescheiterte Vorstoß war für die Gewerkschaften ein Weckruf. Er signalisierte, dass die Tür für bundesstaatliche Initiativen offenstand – und dass man diese Chance nutzen musste, bevor sie sich wieder schließt. Unter der Regierung von Präsident Trump, die frühere KI-Regeln der Biden-Administration zurückgenommen hat und der Tech-Industrie freie Hand lassen will, ist die Hoffnung auf bundesweiten Arbeitnehmerschutz durch KI-Gesetze auf einen Nullpunkt gesunken.

Diese politische Realität zwingt die Gewerkschaften, dort zu kämpfen, wo sie noch politischen Einfluss haben: in den Hauptstädten der Bundesstaaten. Der mächtige Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, der 63 nationale und internationale Gewerkschaften vertritt, hat diesen dezentralen Ansatz formalisiert, indem er eine nationale Task Force ins Leben rief. Ihr Ziel ist es, in den kommenden Monaten Mustergesetze zu entwickeln, die den Parlamentariern in den Bundesstaaten als Vorlage dienen können. Die Befürchtung, die sie antreibt, ist fundamental: Wenn sie nicht jetzt handeln, um Leitplanken für den Einsatz von KI zu definieren, könnten Arbeitnehmerrechte irreparabel ausgehöhlt werden und Entscheidungen über Entlassungen oder Disziplinarmaßnahmen würden intransparent und ohne ausreichende menschliche Kontrolle getroffen.

Das Gespenst von NAFTA: Wenn Algorithmen die neuen Fabriken sind

Um die Dringlichkeit zu verstehen, die in den Korridoren der Gewerkschaftszentralen herrscht, muss man ein Wort aussprechen, das für Millionen amerikanischer Arbeiter wie das Echo eines Traumas klingt: NAFTA. Lorena Gonzalez, eine der Vorsitzenden der neuen KI-Taskforce des AFL-CIO, brachte es auf den Punkt: „Wir können nicht zulassen, dass KI und Technologie unser nächstes NAFTA werden.“. Diese historische Analogie ist der emotionale und strategische Kern des gewerkschaftlichen Widerstands. Es geht nicht primär um die Technologie an sich, sondern um die Erinnerung an einen tiefgreifenden Vertrauensbruch.

Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) der 1990er Jahre steht für die Gewerkschaften symbolisch für eine Ära, in der politische Versprechen von gemeinsamem Wohlstand durch die harte Realität von Arbeitsplatzverlagerungen und Outsourcing nach Mexiko zunichte gemacht wurden. Die Parallele, die sie heute ziehen, ist erschreckend einfach: Damals wurden die Fabriken verlagert, heute könnten die Jobs direkt an Algorithmen „outgesourct“ werden. Die Bedrohung kommt nicht mehr von jenseits der Grenze, sondern aus dem Inneren der Software. Der Vergleich ist analytisch nicht perfekt – der technologische Wandel ist komplexer als ein Handelsabkommen –, aber seine politische Wucht ist enorm. Er mobilisiert eine tiefe, in der amerikanischen Arbeitergeschichte verankerte Angst vor dem Kontrollverlust und davor, von den Eliten und dem unaufhaltsamen Fortschritt zurückgelassen zu werden.

Die Allianz der Besorgten: Vom LKW-Fahrer bis zur Krankenschwester

Der Widerstand gegen die unregulierte Einführung von KI ist keine monolithische Bewegung. Er ist eine Koalition unterschiedlicher Berufsgruppen, die jeweils von spezifischen Ängsten getrieben werden, sich aber unter dem Dach des AFL-CIO zu einer gemeinsamen Strategie zusammenfinden. In Massachusetts kämpft die mächtige Teamsters-Gewerkschaft gegen die Expansion von Robotaxi-Diensten wie Waymo. Ihr Ansatz ist zweigleisig: Sie argumentieren nicht nur mit dem drohenden Verlust von Arbeitsplätzen, sondern auch mit der öffentlichen Sicherheit. Sie unterstützen einen Gesetzesentwurf, der für jedes autonome Fahrzeug einen menschlichen Sicherheitsfahrer vorschreibt, der jederzeit eingreifen kann. Dies würde fahrerlose Fahrten de facto unmöglich machen und ist ein klares Beispiel für eine Strategie, die auf die Verlangsamung und Kontrolle der Technologie abzielt, anstatt auf ein vollständiges Verbot.

In Oregon wiederum hat die Oregon Nurses Association bereits einen bemerkenswerten Erfolg erzielt. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz verbietet es, dass künstliche Intelligenz die Berufsbezeichnung „Krankenschwester“ oder verwandte Titel trägt. Auf den ersten Blick mag dies wie eine symbolische Geste wirken, doch es berührt einen Kernaspekt der Debatte: die Verteidigung der menschlichen Professionalität und des Vertrauens, das mit einem Berufsbild verbunden ist. In Kalifornien geht ein Gesetzesvorschlag noch weiter. Er zielt darauf ab, zu verhindern, dass Arbeitgeber sich bei Kündigungen oder Disziplinarmaßnahmen hauptsächlich auf KI-Software verlassen dürfen. Zudem sollen Werkzeuge verboten werden, die das Verhalten, den emotionalen Zustand oder die Persönlichkeit von Mitarbeitern vorhersagen. Jede dieser Initiativen spiegelt eine Facette der Gesamtbedrohung wider – vom physischen Ersatz des Fahrers über die Aushöhlung des Berufsstandes bis hin zur algorithmischen Überwachung des Individuums.

Fortschritt oder Fesseln? Das Dilemma zwischen Innovation und sozialem Frieden

Die Perspektive der Gewerkschaften ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen Tech-Unternehmen und Wirtschaftsverbände, die in den gewerkschaftlichen Bestrebungen eine gefährliche Form des Fortschrittspessimismus sehen. Rob Atkinson, Präsident der Handelsgruppe Information Technology and Innovation Foundation, bezeichnete die Kampagne als „Ludditen-inspiriert“. Seine Argumentation fußt auf einer klassischen wirtschaftsliberalen Sichtweise: Gesellschaftlicher Fortschritt und Wohlstand entstehen oft durch Technologien, die alte Arbeitsplätze überflüssig machen. Er verweist auf historische Beispiele wie den Fahrstuhlführer oder den Tankwart. Aus dieser Perspektive führen die Bemühungen des AFL-CIO, die KI-getriebene Produktivität zu begrenzen, zwangsläufig zu langsamerem Lohn- und Wirtschaftswachstum.

Diese Position basiert auf der Annahme, dass der Markt letztlich neue, oft bessere Arbeitsplätze schaffen wird, so wie es in früheren technologischen Revolutionen der Fall war. Eine strenge Regulierung, so die Warnung, könnte die internationale Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft untergraben und den Innovationsmotor abwürgen. Anstatt den Fortschritt zu blockieren, so Atkinson, sollte die organisierte Arbeiterschaft den Kongress dazu drängen, die Programme für versetzte Arbeitnehmer zu verbessern. Diese Argumentation offenbart den fundamentalen Zielkonflikt: Während die eine Seite versucht, den Wandel präventiv zu gestalten und Risiken zu minimieren, setzt die andere auf die disruptiven, aber letztlich wohlstandsfördernden Kräfte des Marktes und der Innovation. Die Debatte wird dabei von großer Unsicherheit geprägt, da belastbare Daten über die langfristigen Nettoeffekte von KI auf den Arbeitsmarkt noch fehlen.

Ein digitaler Flickenteppich: Droht den USA die regulatorische Zersplitterung?

Der dezentrale Ansatz der Gewerkschaften, so strategisch er in der aktuellen politischen Landschaft sein mag, birgt ein erhebliches Risiko: die Entstehung eines regulatorischen Flickenteppichs. Was passiert, wenn ein autonomer Lkw von einem deregulierten Arizona in ein Kalifornien mit strengen menschlichen Aufsichtspflichten fährt? Wie navigieren landesweit agierende Unternehmen einen Dschungel aus unterschiedlichen Vorschriften zur Nutzung von KI im Personalwesen? Diese Fragmentierung könnte zu erheblichen Rechtsunsicherheiten, steigenden Compliance-Kosten und potenziellen Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Bundesstaaten führen.

Ein solches Szenario würde nicht nur die Unternehmen vor Herausforderungen stellen, sondern könnte auch die Effektivität des Arbeitnehmerschutzes selbst untergraben. Es könnte ein „Race to the Bottom“ einleiten, bei dem Bundesstaaten mit laxen Vorschriften als attraktive Standorte für Unternehmen werben, die den strengeren Regeln anderswo entgehen wollen. Diese potenzielle Balkanisierung des digitalen Arbeitsrechts ist die unbeabsichtigte Kehrseite der gewerkschaftlichen Strategie. Sie zeigt, dass lokale Lösungen für ein nationales Phänomen ihre Grenzen haben. Der Kampf, der heute in Sacramento, Boston und Salem geführt wird, ist daher mehr als nur eine Summe einzelner Gesetzesinitiativen. Er ist ein unkontrolliertes Experiment, das darüber entscheiden wird, ob die USA in eine Zukunft mit einheitlichen, grundlegenden digitalen Arbeitnehmerrechten gehen oder in eine, die von unsichtbaren, aber wirkungsvollen digitalen Grenzen durchzogen ist. Der Ausgang dieses stillen Krieges wird die Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit für die kommenden Jahrzehnte neu definieren.

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