Amerikas neue Härte: Wie die Trump-Administration mit ICE eine Nation neu definiert

Illustration: KI-generiert

Eine mit Milliarden-Budgets aufgeladene Einwanderungsbehörde, Razzien gegen Nicht-Kriminelle und eine Rhetorik, die an dunkle Kapitel der Geschichte erinnert: Die aktuelle Einwanderungspolitik der USA ist mehr als nur die Umsetzung von Gesetzen. Sie ist der Versuch, die amerikanische Identität an sich neu zu verhandeln – mit tiefgreifenden und zerstörerischen Folgen für Rechtsstaat und Gesellschaft.

Es sind Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen: Maskierte Beamte in Zivilkleidung zerren Menschen in unmarkierte Fahrzeuge. Einsatzkräfte zertrümmern Autoscheiben, und Familien warten verzweifelt vor abgeriegelten Haftzentren auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen. Was wie eine Szene aus einem autoritären Staat anmutet, ist zur neuen Realität in den Vereinigten Staaten unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump geworden. Im Zentrum dieses Geschehens steht eine Behörde: die U.S. Immigration and Customs Enforcement, kurz ICE. Ausgestattet mit einem drastisch erhöhten Budget und einem weitreichenden politischen Mandat agiert sie als Speerspitze einer Agenda, die weit über die reine Grenzsicherung hinausgeht.

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Diese Analyse, die auf einer Auswertung zahlreicher Berichte und Kommentare basiert, zeichnet das Bild einer systematischen Transformation. Es ist die Geschichte einer Behörde, die sich von der Verfolgung Krimineller ab- und der Massenverhaftung von langjährig ansässigen, oft unbescholtenen Einwanderern zuwendet. Es ist die Erzählung einer Politik voller innerer Widersprüche, die einerseits auf die Arbeitskraft von Migranten angewiesen ist, andererseits aber ein Klima der Angst schürt, das ganze Gemeinschaften lähmt. Vor allem aber ist es die Analyse einer ideologischen Kampagne, die den Kern des amerikanischen Selbstverständnisses angreift: die Frage, wer sich in diesem Land zu Recht „amerikanisch“ nennen darf.

Wem gehört Amerika? Der ideologische Kern der neuen Härte

Um die Radikalität der aktuellen Einwanderungspolitik zu verstehen, muss man die Rhetorik ihrer Architekten entschlüsseln. Wenn Stephen Miller, einer der Vordenker dieser Politik, proklamiert, „Amerika ist für Amerikaner und nur für Amerikaner“, dann ist das mehr als nur ein populistischer Slogan. Es ist der Ausdruck eines exklusiven, kämpferischen Nationalismus, den kein Präsident so wirkungsvoll als politisches Werkzeug eingesetzt hat wie Donald Trump. Seine Administration instrumentalisiert den Begriff „Amerika“ nicht als Symbol der Einheit, sondern als Brandbeschleuniger in den Kulturkriegen der Nation.

Diese Politik ist, wie der Historiker Greg Grandin aufzeigt, nicht ohne historische Vorläufer. Sie knüpft an eine lange Tradition des „Anglo-Saxonism“ an, die tief in der amerikanischen Geschichte verwurzelt ist. Schon George Washington erklärte den Namen „Amerikaner“ exklusiv zum Eigentum der US-Bürger und grenzte sich damit von einer pan-amerikanischen Vision ab, wie sie etwa südamerikanische Revolutionäre wie Simón Bolívar vertraten. Für sie war „Amerika“ ein Symbol des Internationalismus und der Befreiung, nicht des Nationalismus.

Im 19. Jahrhundert wurde diese Abgrenzung zunehmend rassistisch aufgeladen. Die Expansion nach Westen und der Krieg gegen Mexiko wurden mit der angeblichen Überlegenheit der „angelsächsischen Rasse“ über die „gemischten Rassen“ Mexikos gerechtfertigt. Politiker wie Senator John C. Calhoun warnten davor, Mexikaner als Bürger zu integrieren, da die USA eine „Regierung des weißen Mannes“ sei. Lateinamerikanische Republiken wurden quasi als die ursprünglichen „shithole countries“ der Welt betrachtet.

Die Ideologen des Trumpismus greifen diese Tradition wieder auf und imaginieren „Amerika“ als belagertes Kernland des Angelsächsischen, dessen größte Bedrohung erneut aus dem Süden, aus Mexiko, zu kommen scheint. Dieser ideologische Unterbau erklärt, warum die aktuelle Politik nicht nur auf Migranten, sondern auf das Konzept der Staatsbürgerschaft selbst zielt. Die Ankündigung, das Geburtsortsprinzip per Dekret zu beenden, die Priorisierung von Denaturalisierungsverfahren und die Abschiebung von in den USA geborenen Kindern sind Ausdruck dieses Kampfes. Selbst US-Bürger sind vor Übergriffen nicht mehr sicher, wie der Fall von Brian Gavidia zeigt, der von Grenzschützern brutal kontrolliert wurde und feststellen musste: „Wir sind nicht sicher, Leute, nicht sicher im heutigen Amerika“.

Die neue Abschiebungsmaschinerie: ICE im Angriffsmodus

Die ideologische Neuausrichtung wird durch eine beispiellose Aufrüstung der zuständigen Behörde flankiert. Ein republikanischer Haushaltsentwurf sieht eine massive Aufstockung der Mittel für ICE vor, um das Ziel von Massenabschiebungen zu verwirklichen. Vizepräsident JD Vance erklärte die Sicherung dieser „ICE money“ zur höchsten Priorität, wichtiger als Schulden oder Sozialkürzungen. Diese Finanzspritze soll eine Behörde „turbochargen“, die von Kritikern bereits als eine Art Geheimpolizei beschrieben wird.

Die entscheidende Veränderung zeigt sich jedoch nicht nur in der Quantität, sondern in der Qualität der Strafverfolgung. Eine Datenanalyse der Washington Post belegt eine dramatische Verschiebung der Prioritäten. Während die Gesamtzahl der Verhaftungen durch ICE stark angestiegen ist – zwischen Januar und Juni 2025 mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum –, sinkt der Anteil der Festgenommenen mit einer strafrechtlichen Verurteilung kontinuierlich. Im Juni 2025 hatten nur noch 30 Prozent der Inhaftierten eine Verurteilung vorzuweisen, verglichen mit 46 Prozent im Januar. Mehr als die Hälfte der seit Trumps Amtsantritt abgeschobenen Personen hatte keine kriminelle Verurteilung.

Der vielleicht schockierendste Befund: Die Zahl der von ICE verhafteten und inhaftierten Einwanderer ohne jeglichen kriminellen Eintrag ist im Vergleich zum Vorjahr um über 1.400 Prozent gestiegen. Diese Zahlen widerlegen die offizielle Darstellung der Regierung, man konzentriere sich auf die „schlimmsten der Schlimmen“. Stattdessen legt die Praxis nahe, dass die Anweisung von Hardlinern wie Stephen Miller, schlicht so viele Einwanderer wie möglich zu verhaften, konsequent umgesetzt wird. Das Ergebnis ist ein alles durchdringendes „Klima der Angst“, das weit über die direkt Betroffenen hinausgeht. Es trifft ganze Nachbarschaften, in denen die Menschen sich nicht mehr zur Arbeit trauen, und führt zu tragischen psychischen Belastungen, wie der Suizid eines Mädchens in Texas nach Mobbing mit ICE-Drohungen zeigt.

Zwischen Recht und Willkür: Die Taktiken der ICE-Agenten

Die Art und Weise, wie ICE-Agenten vorgehen, trägt maßgeblich zu dieser Atmosphäre der Angst bei und wirft gravierende rechtliche Fragen auf. Zwar gewährt der Immigration and Nationality Act den Beamten weitreichende Befugnisse, doch die aktuelle Praxis dehnt diese bis an die Grenzen der Legalität und darüber hinaus aus. Virale Videos von Verhaftungen zeigen ein Muster von Einschüchterung und Gewalt.

Ein zentraler Kritikpunkt ist die mangelnde Transparenz. Es gibt keine gesetzliche Vorschrift, die Beamte dazu zwingt, ihre Namen zu nennen. Auch das Tragen von Masken ist rechtlich nicht explizit verboten, wird von Kritikern aber als gezielte Einschüchterungstaktik gesehen, die an das Vorgehen von Geheimpolizeien in autoritären Regimen erinnert. Die Regierung verteidigt dies als Schutzmaßnahme für die Beamten.

Besonders brisant ist die Frage der Haftbefehle. Grundsätzlich benötigen Beamte einen richterlichen Haftbefehl, um private Wohnungen oder nicht-öffentliche Bereiche von Unternehmen zu betreten. Es gibt jedoch Ausnahmen, etwa wenn Fluchtgefahr besteht. In der Praxis werden diese Regeln jedoch offenbar häufig umgangen. Unternehmer berichten, dass bewaffnete Agenten ohne richterlichen Beschluss in ihre Geschäftsräume eingedrungen sind. Zudem setzen die Beamten auf Täuschungsmanöver, um sich Zutritt zu verschaffen.

Ein weiteres Feld sind die Razzien an Arbeitsplätzen. Anders als frühere Operationen, die zumindest teilweise auch auf die Bestrafung von Arbeitgebern abzielten, scheinen die aktuellen Razzien fast ausschließlich dazu zu dienen, die Zahl der Verhaftungen von Arbeitnehmern zu erhöhen. Eine Analyse der Washington Post konnte bei Dutzenden von öffentlich gemachten Razzien nur einen einzigen Fall identifizieren, in dem ein Arbeitgeber angeklagt wurde. Gleichzeitig werden Tausende Arbeiter festgenommen. Dieses Vorgehen zielt vor allem auf Kleinunternehmen wie Autowaschanlagen oder landwirtschaftliche Betriebe, die sich seltener juristisch zur Wehr setzen als große Konzerne.

Gesichter der Angst: Einzelschicksale im Visier der Behörden

Hinter den Statistiken und juristischen Analysen stehen menschliche Schicksale, die das Versagen des Rechtsstaats und die brutale Konsequenz der Politik verdeutlichen. Der Fall von Ward Sakeik ist hierfür ein erschütterndes Beispiel. Die 22-jährige, staatenlose Palästinenserin lebt seit ihrem achten Lebensjahr in den USA. Kurz nach ihrer Hochzeit mit einem US-Bürger wurde sie auf dem Rückweg von den Flitterwochen am Flughafen festgenommen. Obwohl sie keine Straftaten begangen hatte und ihr Mann sofort einen Antrag auf eine Green Card stellte, wurde sie 141 Tage lang unter teils katastrophalen Bedingungen festgehalten. Zweimal versuchte die Regierung, sie abzuschieben – einmal sogar unter Missachtung eines richterlichen Beschlusses, der ihre Abschiebung untersagte. Ihre Freilassung erfolgte plötzlich und ohne klare Begründung, was ihre Anwältin die offizielle Darstellung der Behörden als „faktisch inakkurat“ bezeichnen ließ. Ihr Fall, so Experten, zeigt, dass selbst Personen ohne Vorstrafen und mit engsten familiären Bindungen in den USA nicht mehr sicher sind.

Auch Prominenz schützt nicht vor der neuen Härte. Der bekannte mexikanische Boxer Julio César Chávez Jr. wurde kurz nach einem Kampf in Kalifornien von ICE verhaftet. Die Behörden bezeichneten ihn als „illegale ausländische Person“ und „ungeheuerliche Bedrohung für die öffentliche Sicherheit“ und wollten ihn in einem beschleunigten Verfahren ohne richterliche Anhörung abschieben. Die Nachricht von seinen angeblichen Verbindungen zum organisierten Verbrechen, die auf einem nie zuvor öffentlich gemachten Haftbefehl aus Mexiko beruhten, schockierte die Öffentlichkeit.

Diese Einzelfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Berichte sind voll von weiteren tragischen Geschichten: von einem sechsjährigen leukämiekranken Kind, das bei einem Gerichtstermin verhaftet wird; von der Ehefrau eines Marine-Veteranen, die ihrer stillenden Tochter entrissen wird; von einer schwangeren Frau, die in der Haft ihr Baby verliert und abgeschoben wird. Vor dem ICE-Haftzentrum in Los Angeles stehen Familien stundenlang an, um Medikamente oder Kleidung abzugeben, und werden oft ohne jede Information abgewiesen. Sie berichten von verzweifelten Insassen, die aus Toiletten trinken, weil sie durstig sind. Solche Erlebnisse zerstören das Vertrauen in staatliche Institutionen und hinterlassen tiefe Traumata.

Gewollte Härte, gebrauchte Hände: Der Widerspruch der Wirtschaft

So unerbittlich die Abschiebungsmaschinerie auch zu sein scheint, sie stößt an Grenzen, an denen die Ideologie mit der ökonomischen Realität kollidiert. Besonders deutlich wird dies in der Landwirtschaft und im Gastgewerbe – Sektoren, deren Überleben massiv von der Arbeitskraft undokumentierter Einwanderer abhängt. Hier offenbart sich ein zentraler Widerspruch in der Politik der Trump-Administration.

Präsident Trump selbst brachte diese Zerrissenheit auf den Punkt, als er sagte: „Ich bin auf beiden Seiten der Sache. Ich bin der stärkste Einwanderungstyp, den es je gab, aber ich bin auch der stärkste Bauerntyp, den es je gab“. Diese Ambivalenz ist das Ergebnis des wachsenden Drucks von Landwirten und Wirtschaftsverbänden, die über die negativen Folgen der Razzien für ihre Betriebe klagen.

Als Reaktion darauf hat die Regierung vage Andeutungen über mögliche Ausnahmen für diese Sektoren gemacht. Trump sprach von einem System, das es bestimmten Arbeitern erlauben würde, legal im Land zu bleiben und Steuern zu zahlen, jedoch ohne Aussicht auf die Staatsbürgerschaft. Es war die Rede von einem „temporären Pass“. Doch konkrete Pläne oder Details zu einer Umsetzung fehlen bis heute. Diese widersprüchlichen Signale haben zu erheblicher Verwirrung bei Unternehmern und Migranten geführt und sogar innerhalb des Weißen Hauses für Konflikte zwischen Hardlinern und pragmatischeren Kräften gesorgt. In der Praxis herrscht weiterhin Unsicherheit. Während ICE eine Weisung herausgab, Razzien an landwirtschaftlichen Standorten vorübergehend auszusetzen, berichten Gewerkschaften, dass die Einsätze vor Ort weitergehen.

Ein Angriff auf den Rechtsstaat

Zusammengenommen ergeben die historische Analyse der Rhetorik, die datengestützte Untersuchung der Verhaftungspraxis, die Beschreibung der brutalen Taktiken und die Schilderung der menschlichen Tragödien ein kohärentes und zutiefst beunruhigendes Bild. Die Einwanderungspolitik der zweiten Trump-Administration ist keine bloße Verschärfung bestehender Gesetze. Sie ist ein fundamentaler Angriff auf die Prinzipien des Rechtsstaats, der sozialen Kohäsion und der amerikanischen Identität.

Die ideologische Umdeutung dessen, was „amerikanisch“ bedeutet, dient als Rechtfertigung für eine Praxis, die systematisch langjährige Bewohner ohne Vorstrafen ins Visier nimmt. Die massive finanzielle Aufrüstung von ICE schafft die Mittel für eine beispiellose Verfolgung, deren Taktiken die Grenzen der Legalität testen und ein Klima der Angst erzeugen. Die menschlichen Kosten dieser Politik – zerrissene Familien, traumatisierte Kinder und ein schwindendes Vertrauen in staatliche Fairness – sind immens. Selbst die inneren Widersprüche, wie die halbherzigen Zugeständnisse an die Wirtschaft, lösen das grundlegende Problem nicht, sondern schaffen nur zusätzliche Verwirrung. Was bleibt, ist das Bild einer Nation, die im Namen einer exklusiven und historisch fragwürdigen Ideologie bereit ist, ihre eigenen Grundwerte zu opfern. Die Frage ist nicht mehr nur, wer nach Amerika kommen darf, sondern was von „Amerika“ selbst übrig bleibt.

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