
Unter dem Deckmantel des Glaubens vollzieht sich in den Vereinigten Staaten eine schleichende Revolution. Donald Trumps zweite Amtszeit ist nicht nur von radikalen Christen beeinflusst – sie ist das exekutive Werkzeug für deren theokratische Agenda. Eine Bewegung, die einst als extremistischer Rand galt, hat die Korridore der Macht in Washington besetzt und arbeitet mit akribischer Präzision daran, die älteste Demokratie der Welt nach dem Vorbild biblischer Gesetze umzuformen. Es ist ein systematischer Angriff auf die Grundfesten des säkularen Staates, der die amerikanische Republik in ihrem Wesen bedroht.
In der politischen Landschaft Washingtons, nur wenige Gehminuten vom Kapitol entfernt, hat eine neue Kirche ihre Pforten geöffnet. Sie ist keine gewöhnliche Gemeinde, sondern ein ideologischer Vorposten, ein Symbol für eine tektonische Verschiebung in der amerikanischen Machtarchitektur. Wenn hier am Sonntagmorgen der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, Pete Hegseth, mit seiner Familie am Gottesdienst teilnimmt, ist das mehr als eine private Glaubensbekundung. Es ist ein politisches Statement. Hegseth, ein Mann, dessen Körper von Kreuzritter-Tätowierungen geziert wird und der in seinem Buch „American Crusade“ von einem Kampf schrieb, der „noch nicht“ mit Schusswaffen geführt werde, verkörpert die neue Symbiose aus politischer Macht und religiösem Fanatismus, die das Amerika unter Donald Trump definiert.

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Diese Entwicklung ist das Ergebnis eines paradoxen, aber machtpolitisch hochwirksamen Paktes. Eine Bewegung, die sich auf die absolute Autorität der Bibel beruft, hat in Donald Trump, einem Mann, dessen Lebensstil kaum weiter von christlichen Geboten entfernt sein könnte, ihren messianischen Heilsbringer gefunden. Er ist ihr „Chaos-Kandidat“, wie es der Prediger Lance Wallnau formulierte, von Gott gesalbt für den „speziellen Zweck“, die liberale, „woke“ Ordnung zu zerschmettern. Trump seinerseits hat die ungeheure mobilisierende Kraft dieser Bewegung erkannt und instrumentalisiert sie mit strategischer Kälte. Er bedient ihre apokalyptische Weltsicht, inszeniert sich nach einem überstandenen Attentat als von Gott geretteter Erlöser und verkauft für 60 Dollar teure „God Bless the USA“-Bibeln. Die Instrumentalisierung des Glaubens erweist sich für Trump als machtpolitisches Kalkül von bestechender Effizienz, das eine loyale Wählerbasis an ihn bindet, die in ihm nicht den Staatsmann, sondern den göttlich legitimierten Vollstrecker ihrer apokalyptischen Visionen sieht.
Die Architekten des Gottesstaates
Die Transformation Amerikas wird von einer Kaste neuer Theokraten vorangetrieben, die Trump systematisch in den innersten Zirkeln der Macht installiert hat. Es sind nicht irgendwelche Christen, sondern überzeugte christliche Nationalisten, die die Verfassung als sekundär gegenüber der Heiligen Schrift betrachten. Ihre Interpretation der Bibel dient als Rechtfertigung für eine zutiefst illiberale Agenda: für die Restauration einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, für Rassismus und die Verachtung sexueller Minderheiten. An der Spitze des Pentagons steht mit Pete Hegseth ein Mann, der die Ansichten des radikalen Predigers Douglas Wilson teilt, welcher offen die Abschaffung des Frauenwahlrechts fordert. Hegseth verkörpert den militanten, maskulinen Arm dieser Bewegung, der politische Auseinandersetzungen als spirituellen, potenziell auch physischen Kreuzzug begreift.
Neben ihm agiert Russell Vought als Leiter des mächtigen Haushaltsbüros im Weißen Haus. Vought, einer der zentralen Architekten des „Project 2025“, ist der administrative Arm der Bewegung. Er übersetzt die theologische Ideologie in konkrete Politik und Haushaltspläne, die darauf abzielen, den Einfluss des Staates in Bereichen wie Klimaschutz zurückzudrängen und gleichzeitig christlich-konservative Institutionen zu stärken. Die ideologische Munition liefert Douglas Wilson, der Gründer jener Kirchengemeinschaft, der Hegseth angehört. Jahrzehntelang galt Wilson selbst unter konservativen Evangelikalen als extremistischer Sonderling. Heute ist der Mann, der die Sklaverei verharmlost, praktizierenden Muslimen zur „Selbstabschiebung“ ermuntern will und mit dem Flammenwerfer gegen Symbole der „Dekadenz“ zu Felde zieht, ein gefeierter Star im Trump-Kosmos. Seine Rehabilitierung und die Gründung seiner Kirche im Herzen Washingtons sind das deutlichste Zeichen dafür, dass die radikalsten Ränder des christlichen Spektrums ins Zentrum der politischen Macht gerückt sind.
Dieses Netzwerk erstreckt sich über die gesamte Regierung. Mike Huckabee, als Botschafter in Jerusalem, vertritt eine Politik, die von der endzeitlichen Vorstellung getrieben ist, die Rückkehr aller Juden ins Heilige Land sei eine Voraussetzung für die Wiederkunft Christi. Dies erklärt seine unbedingte Unterstützung radikaler jüdischer Siedler und seine Leugnung der humanitären Katastrophe in Gaza. Die gesamte Administration ist durchdrungen von diesem Geist. Vom Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, der seine Weltsicht direkt aus der Bibel ableitet, bis zu Justizministerin Pam Bondi, die Regierungskommissionen im privaten Bibelmuseum abhält, wird die Grenze zwischen Amtseid und Glaubensbekenntnis systematisch verwischt. Das Erkennungszeichen dieser Bewegung, die „Appeal to Heaven“-Fahne, weht nicht nur vor dem Büro des drittmächtigsten Mannes im Staat, sondern auch vor dem Privathaus des Supreme-Court-Richters Samuel Alito – ein subtiles, aber unmissverständliches Signal der Verbundenheit.
Die Aushöhlung der Verfassung
Der Angriff auf die säkulare Ordnung erfolgt nicht nur personell, sondern auch institutionell. Mit atemberaubender Geschwindigkeit demontiert die Trump-Regierung die verfassungsmäßig garantierte Trennwand zwischen Staat und Kirche. Eines der ersten Dekrete von Trumps zweiter Amtszeit war die Schaffung des „White House Faith Office“, geleitet von seiner spirituellen Beraterin Paula White, einer Vertreterin des „Wohlstandsevangeliums“, das Reichtum als Zeichen göttlicher Gunst deutet. Dieses Büro dient als offizielle Schnittstelle, um eine „Pro-Gott-Agenda“ in allen politischen Entscheidungen zu verankern.
Weitere Maßnahmen folgten in rascher Folge. Trump ermächtigte das Justizministerium, mit aller Härte gegen vermeintlich „antichristliche Gewalt“ vorzugehen – ein vager Tatbestand, der leicht zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden kann. Er erlaubte per Dekret, dass in Bundesbehörden nicht nur gebetet, sondern aktiv missioniert werden darf. Regierungsangestellte dürfen nun offiziell versuchen, andere von der Richtigkeit ihrer religiösen Haltung zu überzeugen. Auch wenn das Christentum nicht explizit erwähnt wird, ist der Adressat dieser Politik unmissverständlich.
Die ideologische Grundlage für diesen Umbau liefert das „Project 2025“. Ausgearbeitet unter der Federführung der konservativen Heritage Foundation, ist es eine detaillierte Blaupause für die autoritäre Transformation der USA. Das Projekt imaginiert ein Land, in dem Abtreibung verboten und Homosexualität geächtet ist, in dem christliche Privatschulen das öffentliche Bildungssystem ersetzen und Lehren über Klimawandel, Evolution oder systemischen Rassismus als Irrlehren verdrängt werden. Es ist der Versuch, die Aufklärung rückgängig zu machen und Wissen durch Glauben zu ersetzen. Obwohl Trump öffentlich behauptet, nichts mit dem Projekt zu tun zu haben, folgt seine Politik dessen Leitlinien mit bemerkenswerter Präzision. Jede Razzia gegen Migranten, jede Attacke auf Universitäten und jeder Angriff auf politische Gegner lässt sich aus der Perspektive dieses Plans als systematischer Schritt zur Erschaffung eines „gottgefälligen“ Staates deuten.
Ein Land im Glaubenskrieg
Die Ideologie des christlichen Nationalismus spaltet die amerikanische Gesellschaft in einem fundamentalen Ausmaß. Umfragen des Public Religion Research Institute zeigen eine tiefe Kluft: Während nur drei von zehn Amerikanern der Aussage zustimmen, die Regierung solle die USA zu einer rein christlichen Nation erklären, sind es unter den Republikanern 53 Prozent und unter weißen Evangelikalen sogar 65 Prozent. Diese Zahlen offenbaren, dass eine politisch hochmobilisierte Minderheit bereit ist, ihre religiöse Vision der gesamten Nation aufzuzwingen. Die Konsequenzen für eine pluralistische Gesellschaft sind verheerend. Andersgläubige werden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, Frauen auf ihre Rolle in einer patriarchalen Familienstruktur reduziert und die Existenz von LGBTQ-Personen als sündhaft gebrandmarkt.
Gefährlicher noch ist die Rhetorik, die diesen Kulturkampf begleitet. Politische Konflikte werden nicht mehr als zivilisierter Wettbewerb von Ideen verstanden, sondern als apokalyptische Schlacht zwischen Gut und Böse. Die Demokraten werden zu „Dämonkraten“ stilisiert, politische Gegner zu Agenten des Teufels, die es nicht nur zu besiegen, sondern zu vernichten gilt. Diese Dämonisierung senkt die Hemmschwelle für Gewalt. Wie der Religionswissenschaftler Robert Jones warnt, verführt eine solche Weltsicht dazu, politische Rivalen nicht mehr an der Wahlurne zu schlagen, sondern sie einzusperren, zu vertreiben oder sogar zu töten.
Die Früchte dieser vergifteten Saat sind bereits sichtbar. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 war maßgeblich von christlich-nationalistischen Symbolen und Gebeten geprägt. Es war der Versuch einer Teufelsaustreibung im Herzen der amerikanischen Demokratie, verübt von einem Mob, der glaubte, Gottes Werk zu verrichten. Die anschließende Begnadigung vieler Beteiligter durch Trump war ein klares Signal der Ermutigung. Die Gewalt setzt sich fort, wie der Mord an einer demokratischen Politikerin und ihrem Ehemann in Minnesota durch einen Mann zeigt, der an einem Bibel-College studierte und seinen Kindern textete: „Dad ist heute Nacht in den Krieg gezogen.“ Die verhaltene Reaktion der Trump-Regierung auf diese Tat, verglichen mit der beinahe heiligmäßigen Trauerfeier für den rechtsradikalen Influencer Charlie Kirk, offenbart eine gefährliche Asymmetrie in der Bewertung politischer Gewalt: Gewalt von rechts wird als bedauerlicher Exzess oder gar als Märtyrertum verstanden, während jede Bedrohung von links zur existenziellen Gefahr für die Nation stilisiert wird. Umfragen bestätigen diese Tendenz: Christliche Nationalisten halten politische Gewalt doppelt so häufig für gerechtfertigt wie andere Amerikaner.
Moscow, Idaho: Labor der Theokratie
Um zu verstehen, wie die Zukunft Amerikas aussehen könnte, sollte sich dieser Plan durchsetzen, muss man 4000 Kilometer westlich von Washington blicken, in die ländliche Idylle von Moscow, Idaho. Hier hat der Prediger Douglas Wilson über Jahrzehnte ein Imperium errichtet, das als Beta-Test für seine Vision einer amerikanischen Theokratie dient. Moscow ist eine Stadt, in der Wilsons Anhänger, die „Kirker“, schrittweise die Kontrolle übernommen haben. Sie betreiben nicht nur fünf Kirchen, eine Schule und ein College, sondern auch Galerien, Restaurants und Geschäfte. Sie haben eine Parallelgesellschaft geschaffen, in der man von der Wiege bis zur Bahre in einer geschlossenen, christlich-nationalistischen Welt leben kann.
Wilson nennt seine Schulen „Munitionsfabriken“, in denen die nächste Generation von Gotteskriegern herangezogen wird. Mehr als ein Drittel der Kinder in Moscow wird bereits in diesem System erzogen. Was er als friedliche, evolutionäre Übernahme beschreibt, erleben andere als feindliche Übernahme. Kritiker wie die ehemalige Wilson-Schülerin Sarah Bader sprechen von einem „extremistischen Kult“, der die Stadt verkrüppelt habe. Sie berichtet von Boykotten gegen Ladenbesitzer, die sich kritisch äußerten, von anonymen Drohungen und einem Klima der Angst, in dem die meisten lieber schweigen, um nicht ins Visier der christlichen Eiferer zu geraten. Moscow zeigt, dass die theokratische Vision nicht zu einer harmonischen, gottgefälligen Gemeinschaft führt, sondern zu einer repressiven Ordnung, die Pluralismus und Meinungsfreiheit erstickt. Die Strategie ist zweigleisig: Während in Washington die Institutionen von oben gekapert werden, wird in Orten wie Moscow die Gesellschaft von unten erobert.
Der bedrohte amerikanische Traum
Die Vereinigten Staaten stehen an einem Scheideweg. Der Pakt zwischen einem narzisstischen Machtpolitiker und einer dogmatischen, apokalyptischen Bewegung hat eine existenzielle Bedrohung für die amerikanische Demokratie geschaffen. Die systematische Unterwanderung des Staates, die Aushöhlung seiner säkularen Fundamente und die Umdeutung des politischen Diskurses in einen heiligen Krieg sind keine zufälligen Entwicklungen, sondern Teile einer konzertierten Strategie.
Was in den USA geschieht, ist mehr als nur ein weiterer Zyklus im Kulturkampf. Es ist der Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die Errungenschaften der Aufklärung zu negieren und eine freie Gesellschaft durch eine autoritäre, theokratische Ordnung zu ersetzen. Die Vorstellung von Amerika als einem Land, das auf der Freiheit des Einzelnen, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Toleranz gegenüber Andersdenkenden beruht, wird von innen heraus attackiert. Sollte dieser Kreuzzug erfolgreich sein, droht nicht nur der Verlust von Rechten für Minderheiten, sondern die Zerstörung des amerikanischen Experiments selbst. Der Kampf um die Seele Amerikas wird nicht mehr nur mit Gebeten und an der Wahlurne geführt. Er droht, in einen tatsächlichen Konflikt über die grundlegende Identität der Nation zu münden.