Amerikas Gesundheitswesen am Abgrund: Wie Robert F. Kennedy Jr. die Wissenschaft demontiert und Krankheiten zurückbringt

Illustration: KI-generiert

Ein Gespenst geht um in Amerikas Kinderarztpraxen. Es ist die Angst vor Krankheiten, die Mediziner wie Dr. Perri Klass jahrzehntelang nur aus Lehrbüchern kannten. Polio, Keuchhusten, Diphtherie – einst durch die Triumphe der modernen Medizin in die Geschichtsbücher verbannte Schreckgespenster, drohen mit erschreckender Wucht in den Alltag zurückzukehren. Im Zentrum dieses medizinischen und gesellschaftlichen Dramas steht ein Mann: Robert F. Kennedy Jr., der neue Gesundheitsminister der Vereinigten Staaten. Mit einer Mischung aus ideologischem Eifer und politischem Kalkül hat er einen Feldzug gegen die wissenschaftlichen Institutionen seines Landes begonnen, der das Fundament des amerikanischen öffentlichen Gesundheitswesens erschüttert.

Seine Amtszeit markiert eine radikale Zäsur. Kennedy demontiert nicht nur einzelne Programme; er greift die Autorität der Wissenschaft selbst an. Er tauscht etablierte Expertenräte gegen handverlesene Skeptiker aus, ignoriert bewährte Prozesse zur Politikberatung und nutzt seine Macht, um lange widerlegte Thesen zu Impfschäden und den Ursachen von Autismus wieder salonfähig zu machen. Die Folgen sind bereits jetzt spürbar und messbar: Die USA erleben den schlimmsten Masernausbruch seit 33 Jahren, mit Todesopfern unter Ungeimpften. Führende medizinische Fachgesellschaften sehen sich gezwungen, die eigene Regierung zu verklagen, um die grundlegendsten Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung zu verteidigen.

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Doch diese Krise entstand nicht im luftleeren Raum. Kennedys Angriff trifft auf ein System, dessen Vertrauensbasis bereits tief erodiert ist. Die Jahre der COVID-19-Pandemie mit ihren politischen Verwerfungen und oft widersprüchlich anmutenden Empfehlungen haben eine Vertrauenslücke hinterlassen, die nun gezielt ausgenutzt wird. Einige Analysten gehen sogar weiter und sehen in der aktuellen Misere das unausweichliche Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, in der das öffentliche Gesundheitswesen seine Mission überdehnte, sich zunehmend politisierte und so seine eigene Glaubwürdigkeit untergrub. Die Ironie dabei: Kennedy, der angetreten ist, um „Amerika wieder gesund zu machen“ („Make America Healthy Again“), scheint durch seine Politik genau jene Strukturen zu schwächen, die für die Gesundheitsversorgung der schwächsten Amerikaner unerlässlich sind. Es ist die Geschichte eines paradoxen Angriffs, der im Namen der Gesundheit geführt wird, aber Krankheit und Misstrauen sät.

Der systematische Umbau: Kennedys Feldzug gegen die Institutionen

Der Angriff auf das wissenschaftliche Fundament der amerikanischen Gesundheitspolitik erfolgt nicht willkürlich, sondern folgt einer klaren Strategie. Anstatt sich auf die Expertise der etablierten Gremien zu verlassen, hat Kennedy damit begonnen, die Architektur der wissenschaftlichen Beratung von Grund auf umzubauen. Ein zentrales Beispiel ist sein Vorgehen beim Impfstoff-Beratungsgremium der US-Gesundheitsbehörde CDC, dem Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP). Dieses Gremium aus unabhängigen Experten war jahrzehntelang das wissenschaftliche Rückgrat für Impfempfehlungen in den USA. Seine Empfehlungen bestimmen, welche Impfungen im Rahmen des staatlichen Programms „Vaccines for Children“ kostenlos zur Verfügung gestellt werden, das rund die Hälfte der amerikanischen Kinder versorgt.

Kurz nach Amtsantritt entließ Kennedy die 17 amtierenden Experten des Gremiums und ersetzte sie durch acht handverlesene Mitglieder, von denen mehrere für ihre impfskeptische Haltung bekannt sind. Unmittelbar darauf kündigte das neu besetzte Gremium eine vollständige Überprüfung des gesamten Impfkalenders für Kinder an. Dieser Schritt wurde von Kinderärzten und Public-Health-Experten als direkter Angriff auf die Infrastruktur der Krankheitsprävention gewertet.

Noch deutlicher wurde Kennedys Bruch mit etablierten Prozessen bei der Änderung der Covid-Impfempfehlungen. Im Mai 2025 verkündete er in einem kurzen Video auf der Plattform X, flankiert von den Leitern der FDA und der National Institutes of Health (NIH), das Ende der pauschalen Impfempfehlung für gesunde Kinder und schwangere Frauen. Diese Entscheidung fiel ohne vorherige Konsultation mit den zuständigen CDC-Mitarbeitern oder dem ACIP-Gremium – ein beispielloser Vorgang, der die CDC-Beamten unvorbereitet traf. Medizinische Fachgesellschaften, die in einer Klage gegen Kennedy vorgehen, bezeichnen dieses Vorgehen als „willkürlich und unberechenbar“ und als klaren Verstoß gegen ordnungsgemäße Verwaltungsverfahren. Die Konsequenzen waren unmittelbar: In mehr als der Hälfte der US-Bundesstaaten, in denen die Impfbefugnis von Apothekern an die offiziellen Empfehlungen des Bundes geknüpft ist, konnten schwangere Frauen plötzlich keine Covid-Impfung mehr in Apotheken erhalten.

Die Rückkehr der Seuchen: Wenn Ideologie Leben kostet

Die politischen Manöver in Washington haben tödliche Folgen im ganzen Land. Die direkte Verbindung zwischen der Schwächung der Impfinfrastruktur, der Verbreitung von Desinformation und dem Wiederaufleben fast vergessener Krankheiten wird am Beispiel der Masern am deutlichsten. Die USA verzeichnen mit mindestens 1.277 Fällen in 38 Bundesstaaten die höchste Zahl an Maserninfektionen seit 1992. Mindestens 155 Menschen mussten hospitalisiert werden, und drei Ungeimpfte, darunter zwei gesunde Kinder in Texas, sind an den Komplikationen gestorben. Zum Vergleich: Zwischen 2001 und 2024 gab es landesweit insgesamt nur drei Todesfälle durch Masern.

Der größte Ausbruch konzentriert sich auf West-Texas, insbesondere in mennonitischen Gemeinschaften, in denen die Impfraten niedrig sind und viele Familien sich der staatlichen Gesundheitsvorsorge entziehen. Anstatt auf die Expertise der Gesundheitsbehörden zu vertrauen, wandten sich viele Familien an einen bekannten Anti-Impf-Arzt, der unbewiesene alternative Behandlungen anbot. Kennedy selbst unterstützte diesen Arzt und seine Methoden bei einem Besuch in der Region öffentlich. Seine Organisation, Children’s Health Defense, trug weiter zur Verwirrung bei, indem sie den Tod eines sechsjährigen Mädchens auf einen angeblichen Behandlungsfehler schob, anstatt die fehlende Impfung als Ursache anzuerkennen. Kennedys öffentliche Rhetorik, in der er den Ausbruch zunächst als Routine abtat („Wir haben jedes Jahr Masernausbrüche“) und seine Impfaufrufe mit unbegründeten Sicherheitsbedenken versah, hat das Vertrauen weiter untergraben.

Die Auswirkungen dieser Politik sind für Menschen an der Frontlinie des Gesundheitssystems allgegenwärtig. Kinderärzte berichten von einer wachsenden Angst und Verunsicherung bei Eltern und sorgen sich, dass bald ein Zwei-Klassen-System der Gesundheitsvorsorge entstehen könnte, in dem nur noch wohlhabende Familien für den Schutz ihrer Kinder zahlen können. Eine schwangere Ärztin, die als Klägerin in der Sammelklage gegen Kennedy auftritt, beschreibt, wie die neue Politik es ihr erschwert, sich und ihr ungeborenes Kind durch eine Impfung zu schützen, obwohl sie durch ihre Arbeit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt ist.

Gleichzeitig stehen die lokalen und staatlichen Gesundheitssysteme vor dem Kollaps. Die Bekämpfung eines Masernausbruchs erfordert enorme personelle und finanzielle Ressourcen. Der Ausbruch in New York City im Jahr 2019 kostete die Stadt 8,4 Millionen Dollar und band 550 Mitarbeiter. Doch just in dem Moment, in dem diese Ressourcen am dringendsten benötigt werden, werden die Budgets der Gesundheitsbehörden nach dem Ende der Pandemie-Sonderfinanzierung massiv gekürzt. In Dallas mussten 16 Mitarbeiter des Impfprogramms entlassen werden, während gleichzeitig die Masernfälle in Texas zunahmen – eine Situation, die der dortige Gesundheitsdirektor als „absolut sinnlos“ bezeichnete.

Gefährliche Erzählungen: Wie Kennedy die Debatte um Autismus zurückwirft

Neben dem direkten Angriff auf die Impfprogramme führt Kennedy einen zweiten, ebenso schädlichen Kampf an der rhetorischen Front, insbesondere im hochsensiblen Bereich der Autismusforschung. Sein Vorgehen wird von führenden Wissenschaftlern als Versuch beschrieben, die wissenschaftliche Uhr um Jahrzehnte zurückzudrehen. Kennedy ignoriert den überwältigenden wissenschaftlichen Konsens, der die genetischen Grundlagen von Autismus belegt, und bezeichnet die Genforschung als „Sackgasse“. Stattdessen propagiert er die vage These von „Umweltgiften“ als Hauptursache und impliziert dabei immer wieder einen Zusammenhang mit Impfungen – eine Theorie, die durch unzählige Studien widerlegt wurde.

Diese Rhetorik hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Autismus-Gemeinschaft. Kennedy verwendet eine Sprache, die von vielen als verletzend und stigmatisierend empfunden wird. Er beschreibt autistische Kinder als „Kinder, die niemals Steuern zahlen, niemals einen Job haben, niemals Baseball spielen, niemals ein Gedicht schreiben oder auf ein Date gehen werden“. Dieses „Tragödie-Narrativ“ widerspricht diametral dem modernen Verständnis von Autismus als einer Form der neurologischen Vielfalt, die Akzeptanz und Unterstützung erfordert, nicht aber als Krankheit, die „geheilt“ oder „beendet“ werden muss. Aktivisten und Eltern fühlen sich in ihren Bemühungen, autistische Menschen zu humanisieren, um Jahre zurückgeworfen.

Die Angst und Verwirrung, die durch Kennedys Initiative zur Schaffung einer neuen, umfassenden „Datenplattform“ für Autismus ausgelöst wurde, ist ein weiteres Beispiel für die realen Konsequenzen. Das vage angekündigte Projekt, das Daten aus verschiedensten Quellen – von Krankenakten über Versicherungsabrechnungen bis hin zu Smartwatches – zusammenführen soll, hat bei Eltern Panik ausgelöst. Ärzte berichten landesweit von Anrufen verängstigter Eltern, die darum bitten, Autismus-Diagnosen aus den Akten ihrer Kinder zu löschen oder geplante Untersuchungen abzusagen, aus Angst vor Stigmatisierung und Überwachung.

Gleichzeitig zeigt sich hier die Komplexität der Debatte. Einige Eltern von Kindern mit schwerem oder profundem Autismus, die oft auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen sind, fühlen sich von Kennedys expliziter Beschreibung der Herausforderungen zumindest gesehen und anerkannt. Sie kritisieren, dass ihre Realität im öffentlichen Diskurs, der sich oft auf hochfunktionale Autisten konzentriert, zunehmend marginalisiert wird. Dennoch warnen selbst diese Befürworter vor Kennedys pseudowissenschaftlichem Ansatz und der falschen Hoffnung, die er mit der Suche nach einfachen Ursachen und Heilmitteln weckt.

Ein Haus auf Sand gebaut? Die selbstverschuldete Krise des öffentlichen Gesundheitswesens

Um die Wucht von Kennedys Agenda und ihre Resonanz in Teilen der Bevölkerung zu verstehen, muss man die Vorgeschichte betrachten. Der Autor John Tierney argumentiert in „The Atlantic“, dass die aktuelle Vertrauenskrise nicht allein Kennedys Werk ist, sondern das Ergebnis einer jahrzehntelangen Erosion der Glaubwürdigkeit, für die die Public-Health-Institutionen selbst mitverantwortlich sind. Seiner Analyse zufolge begann das Problem, als das öffentliche Gesundheitswesen seine ursprüngliche Mission – die Bekämpfung ansteckender Krankheiten wie Cholera oder Pocken – verließ und sein Mandat auf persönliche Verhaltensweisen und soziale Probleme ausdehnte.

Die Bekämpfung von „Epidemien“ wie Tabakkonsum, Waffengewalt oder Rassismus und die Verfolgung von „sozialer Gerechtigkeit“ als Gesundheitsziel verwischten die Grenzen zwischen Wissenschaft und politischer Ideologie. Umstrittene und später teils widerlegte staatliche Ernährungsempfehlungen (z.B. für eine fettarme, kohlenhydratreiche Kost) oder der Kampf gegen sicherere Nikotinalternativen wie E-Zigaretten schufen den Eindruck, dass politische Ziele über wissenschaftliche Evidenz gestellt wurden.

Die COVID-19-Pandemie wirkte hier als Brandbeschleuniger. Die plötzliche Kehrtwende von der Ablehnung hin zur Befürwortung von Lockdowns (nach chinesischem Vorbild), die als politisch inkonsistent empfundene Duldung von Massenprotesten gegen Rassismus bei gleichzeitigem Verbot anderer Versammlungen und die rigorosen Masken- und Impfmandate in „blauen“ Staaten zementierten bei vielen, insbesondere konservativen Amerikanern, das Bild einer durch und durch politisierten Wissenschaft. Dieses vorbelastete Klima bot den idealen Nährboden für Kennedys Botschaften.

Gleichzeitig offenbart seine eigene „Make America Healthy Again“ (MAHA)-Agenda bemerkenswerte Widersprüche. Während er leidenschaftlich für die Bekämpfung chronischer Krankheiten durch Ernährungsumstellung wirbt, unterstützt er gleichzeitig massive Kürzungen bei Medicaid, dem staatlichen Versicherungsprogramm, das Millionen von einkommensschwachen und chronisch kranken Amerikanern überhaupt erst den Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht. Er kritisiert das Programm für schlechte Gesundheitsergebnisse bei hohen Kosten, ignoriert dabei aber, dass Medicaid für viele die einzige Lösung und nicht die Ursache des Problems ist. Ebenso auffällig ist sein Schweigen zu komplexen Gesundheitsproblemen wie dem weitverbreiteten Schlafmangel. Analysten vermuten, dass sich solche Themen nicht für seine politische Strategie eignen, da sie keinen klaren „Feind“ wie die Pharma- oder Lebensmittelindustrie bieten, gegen den man eine Bewegung mobilisieren kann.

Am Ende prallen zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite stehen die Ärzte, Wissenschaftler und Fachgesellschaften, die entsetzt auf die unmittelbaren, lebensbedrohlichen Folgen einer ideologisch getriebenen Politik blicken. Auf der anderen Seite steht eine historische Analyse, die nahelegt, dass die Institutionen durch ihre eigene Politisierung angreifbar wurden. Robert F. Kennedy Jr. ist somit beides: der Brandstifter, der das Feuer legt, und der Nutznießer eines Schwelbrandes, der schon lange im Fundament des amerikanischen Gesundheitswesens glomm. Der angerichtete Schaden geht weit über die aktuellen Krankheitsstatistiken hinaus. Er besteht in der Zerstörung von Vertrauen – einem Gut, das, einmal verloren, ungleich schwerer wieder aufzubauen ist als die Immunität gegen ein Virus.

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