Amerikas fieberhafter Abschied von der Vernunft

Illustration: KI-generiert

Es gibt politische Slogans, die eine Verheißung in sich tragen, und solche, die eine Drohung verschleiern. „Make America Healthy Again“, das gesundheitspolitische Credo der zweiten Trump-Administration, gehört unzweifelhaft zur zweiten Kategorie. Unter der Regie des Gesundheitsministers Robert F. Kennedy Jr., eines Mannes, dessen Karriere auf der Demontage wissenschaftlichen Vertrauens aufgebaut ist, vollzieht sich in den Vereinigten Staaten keine Reform des Gesundheitssystems, sondern dessen gezielte Aushöhlung. Was als Befreiungsschlag gegen eine vermeintlich korrupte Pharmaindustrie und übergriffige Behörden inszeniert wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein systematischer Feldzug gegen die Evidenzbasierung in der Medizin. Dieser ideologische Kreuzzug opfert nicht nur die Errungenschaften der Vergangenheit, sondern verbaut auch die Zukunft – Amerikas Fähigkeit, kommenden Pandemien zu begegnen und seine Bürger vor vermeidbaren Krankheiten zu schützen, wird sehenden Auges demontiert. Die Trump-Regierung heilt nicht; sie infiziert den Staatskörper mit einem gefährlichen Virus: dem Misstrauen gegenüber der Wissenschaft.

Die Entkernung der Institutionen

Die Transformation des amerikanischen Gesundheitsapparates geschieht nicht durch laute Revolution, sondern durch leise, administrative Präzisionsschläge. Robert F. Kennedy Jr. hat verstanden, dass die wahre Macht nicht in Gesetzen, sondern in den Gremien, Protokollen und Personen liegt, die den wissenschaftlichen Alltag der Nation gestalten. Seine Strategie ist die der institutionellen Entkernung. Schlüsselbehörden wie die Food and Drug Administration (FDA) und die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), einst globale Goldstandards für wissenschaftliche Integrität, werden systematisch ihrer Expertise beraubt.

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Der entscheidende Hebel hierfür ist die personelle Neuausrichtung. Das einflussreiche Advisory Committee on Immunization Practices (ACIP), jenes Gremium, das Impfempfehlungen für die gesamte Nation formuliert, wurde im Handstreich von renommierten Infektiologen und Impfstoffforschern gesäubert. An ihre Stelle traten handverlesene Skeptiker und prominente Kritiker der bisherigen Covid-Politik, was die wissenschaftliche Debatte durch eine politische Loyalitätsprüfung ersetzt. Ähnliche Muster zeigen sich in der gesamten Hierarchie: Kritische Führungskräfte wie der oberste FDA-Impfstoffregulierer Dr. Peter Marks werden entlassen, während Akademiker wie Dr. Marty Makary, Dr. Jay Bhattacharya und Dr. Vinay Prasad, die sich während der Pandemie als Kritiker der etablierten Maßnahmen profilierten, in Schlüsselpositionen aufsteigen. Diese Personalrochaden sind mehr als nur ein Austausch von Köpfen; sie sind ein Signal an die Tausenden von Wissenschaftlern in den Behörden, dass nicht mehr die beste Evidenz, sondern die politische Konformität über Karrieren entscheidet. Die Folgen sind bereits sichtbar: Tausende von Kündigungen und ein Klima der Angst und Selbstzensur.

Ein Feldzug gegen die Evidenz

Die ideologische Inkonsistenz der „Make America Healthy Again“-Bewegung ist frappierend und entlarvend zugleich. Sie offenbart, dass es weniger um eine kohärente Gesundheitsphilosophie als um die Macht der Destruktion geht. Der größte Widerspruch manifestiert sich in der Person von Donald Trump selbst. Als Präsident feierte er die „Operation Warp Speed“ – die historisch schnelle Entwicklung der mRNA-Impfstoffe – als eine seiner größten Errungenschaften. In seiner zweiten Amtszeit jedoch duldet und fördert er einen Gesundheitsminister, der ebenjene Technologie verteufelt und ihr Erbe zu tilgen versucht. Kennedy selbst laviert in öffentlichen Anhörungen, weigert sich anzuerkennen, dass diese Impfstoffe Leben gerettet haben, und preist gleichzeitig Trumps Initiative.

Diese Widersprüchlichkeit zieht sich durch die gesamte Bewegung. Prominente Köpfe wie Bhattacharya und Prasad, die zu Beginn der Pandemie noch für eine schnelle Durchimpfung plädierten, um die Rückkehr zur Normalität zu beschleunigen, rechtfertigen nun die Streichung von 500 Millionen Dollar für die mRNA-Forschung nicht mit wissenschaftlichen, sondern mit rein politischen Argumenten. Es entsteht das Bild einer Koalition von Opportunisten, die sich auf den Trümmern des öffentlichen Vertrauens, das während der Pandemie erodierte, eine neue Machtbasis errichtet. Die Bewegung legitimiert sich durch die Kanalisierung einer diffusen Unzufriedenheit und eines tief sitzenden Misstrauens gegenüber Eliten und Institutionen. Die wissenschaftliche Wahrheit ist dabei nur ein Kollateralschaden. Die Administration nutzt die verständliche Verunsicherung vieler Bürger nicht, um durch Transparenz Vertrauen wiederherzustellen, sondern um sie für ihre eigene Agenda des institutionellen Abrisses zu instrumentalisieren.

Die Waffe des Zweifels

Der vielleicht perfideste Aspekt dieser neuen Gesundheitspolitik ist die methodische Pervertierung des wissenschaftlichen Prozesses. Anstatt auf randomisierte, kontrollierte Studien und große epidemiologische Daten zu setzen, erhebt die Administration den anekdotischen Einzelfall zum Goldstandard. Unter dem Vorwand der Transparenz hat die FDA unter dem Druck Kennedys eine Neubewertung seltener und oft unbestätigter Meldungen über Impfnebenwirkungen gestartet. Im Fokus stehen Berichte über Todesfälle bei Kindern und Geburtsfehler nach Covid-Impfungen.

Diese Vorgehensweise ist wissenschaftlich unseriös und manipulativ. Sie speist sich aus dem Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS), einer Datenbank, die bewusst als offenes, ungefiltertes Frühwarnsystem konzipiert ist. Jeder kann hier einen Verdachtsfall melden, ohne dass ein kausaler Zusammenhang nachgewiesen sein muss. Die Berichte reichen von tragischen, aber impfunabhängigen Ereignissen wie Suiziden bis hin zu vagen Beschreibungen aus dritter Hand. Die Administration pickt nun gezielt dramatische Einzelfälle heraus – etwa zwei Dutzend Todesfälle bei Kindern – und präsentiert sie einer einflussreichen CDC-Kommission, während sie den statistischen Kontext vollständig ausblendet. Dem stehen rund 1.800 nachgewiesene Covid-Todesfälle bei Minderjährigen und Millionen von sicher verabreichten Impfdosen gegenüber. Dieser fundamentale Zielkonflikt zwischen dem legitimen Wunsch nach Aufklärung seltener Risiken und der Verantwortung, keine Massenpanik durch die Überbetonung unbestätigter Anekdoten zu schüren, wird bewusst zugunsten der Panik entschieden. Der Zweifel wird zur Waffe, um die überwältigende Evidenz für die Sicherheit und den Nutzen von Impfungen zu untergraben.

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Ein teurer Triumph der Ignoranz

Die Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels sind bereits jetzt verheerend und werden sich in den kommenden Jahren potenzieren. Ökonomisch legt sich ein lähmender Schatten über die amerikanische Biotech- und Pharmaindustrie, einst der Motor globaler Innovation. Investoren ziehen sich aus der Impfstoffentwicklung zurück, weil das regulatorische Umfeld unkalkulierbar geworden ist. Risikokapitalfirmen reduzieren ihre Investitionen drastisch, und Unternehmen wie Vaxcyte oder Vaxart müssen vielversprechende klinische Studien auf Eis legen oder werden von der Börse genommen. Die explizite Abkehr von der mRNA-Technologie ist nicht nur ein Schlag gegen die künftige Pandemievorsorge, sondern auch gegen die Entwicklung neuer Therapien für Krebs und andere Krankheiten.

Gleichzeitig zerfällt das nationale Gesundheitssystem in einen Flickenteppich. Während die Bundesregierung den Zugang zu Covid-Impfungen auf Hochrisikogruppen beschränkt, was zu Verwirrung und Abweisungen in Apotheken führt, versuchen einige demokratisch regierte Bundesstaaten, diese restriktiven Vorgaben durch eigene Regelungen zu umgehen und einen breiteren Zugang zu ermöglichen. Dies schafft ein System der gesundheitlichen Ungleichheit, in dem der Wohnort über den Schutz vor Krankheiten entscheidet.

Die langfristigen Risiken sind noch gravierender. Die systematische Schwächung der Pandemievorsorge durch die Auflösung entsprechender Regierungseinheiten und den Rückzug aus der WHO macht die USA und die Welt verwundbarer für die nächste globale Gesundheitskrise. Im Inneren droht die Rückkehr von Krankheiten, die dank hoher Impfquoten fast besiegt schienen. Erste Masernausbrüche sind bereits zu verzeichnen, und wenn die Impfmandate für Schulkinder weiter fallen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Polio und andere Schreckgespenster der Vergangenheit wieder Realität werden. Der größte Schaden aber ist womöglich der immaterielle: die Zerstörung des Vertrauenspaktes zwischen Bürgern, Wissenschaft und Staat. Es ist, wie es ein ehemaliger FDA-Kommissar mit dem Bild von Humpty Dumpty umschrieb: Wenn dieses Vertrauen einmal zerschlagen ist, lässt es sich kaum wieder zusammensetzen.

Die Regierung Trump verkauft ihren Feldzug als einen Akt der Befreiung. In Wahrheit ist es ein Akt der Selbstverstümmelung. Sie beraubt Amerika seiner wissenschaftlichen Führungskraft, seiner wirtschaftlichen Innovationsfähigkeit und, am tragischsten, seiner Fähigkeit, das Leben seiner Bürger zu schützen. Die bittere Ironie ist, dass eine Bewegung, die angetreten ist, Amerika gesund zu machen, es am Ende kränker, verwundbarer und uneiniger zurücklassen wird.

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