Tage der Vergeltung: Wie ein Ölgigant das Recht als Waffe gegen den Protest schmiedet

Illustration: KI-generiert

Es ist ein Kampf, der weit über die staubigen Ebenen North Dakotas hinausreicht. Im Fadenkreuz steht nicht nur eine Umweltorganisation, sondern die Zukunft des zivilen Ungehorsams in den Vereinigten Staaten. Ein Präzedenzfall zeigt, wie die fossile Industrie, gestärkt durch politische Allianzen im Weißen Haus, ihre Kritiker nicht mehr nur überzeugen, sondern finanziell vernichten will.

Es herrscht eine beklemmende Stille in St. James, Louisiana. In diesem Landstrich, kaum eineinhalb Autostunden von New Orleans entfernt, ist es gefährlich geworden, einfach nur aus dem Auto zu steigen und sich umzusehen. Wer hier spazieren geht, bewegt sich fast zwangsläufig im Schatten einer Pipeline oder einer Baustelle für fossile Infrastruktur. Doch die eigentliche Gefahr geht nicht von den flackernden Gasfackeln oder den Industrieanlagen aus, sondern von einem unsichtbaren Netz aus neuen Gesetzen und juristischen Drohungen. Ein falscher Schritt, ein Aufenthalt an einem Ort, den ein Anlagenbetreiber als störend empfindet, und es drohen nicht nur Handschellen, sondern der wirtschaftliche Ruin.

Mitten im vermeintlichen Kernland der Meinungsfreiheit hat sich die Angst so tief in das soziale Gewebe gefressen, dass selbst langjährige Gegner der Ölpolitik verstummen. Treffen werden abgesagt, Interviews verweigert. Der Grundtenor ist eindeutig: Es ist zu riskant geworden, sich im aktuellen politischen Kontext öffentlich zu äußern. Dieser Kontext trägt einen Namen, der in Kreisen der amerikanischen Umweltbewegung wie ein düsteres Omen klingt: das Jahr eins der Vergeltung – die zweite Amtszeit von Donald Trump, die Anfang 2025 begann.

Doch die Angst in den Dörfern Louisianas ist nur das Symptom einer weitaus größeren, systemischen Verschiebung. Während Aktivisten vor Ort mit Haftstrafen bedroht werden, vollzieht sich in den Gerichtssälen ein Angriff auf die organisierte Zivilgesellschaft, der in seiner Dimension historisch ist. Im Zentrum steht der Rechtsstreit zwischen dem Pipeline-Betreiber Energy Transfer und der Umweltorganisation Greenpeace – ein Konflikt, der das Potenzial hat, die Spielregeln für politischen Protest in den USA dauerhaft neu zu schreiben.

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Die Asymmetrie der Macht

Wer verstehen will, wie eine der bekanntesten Umweltorganisationen der Welt an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gedrängt werden konnte, muss den Blick auf Kelcy Warren richten. Der 70-jährige Texaner und Chef von Energy Transfer ist nicht einfach nur ein Unternehmer; er ist die Personifizierung des fossilen Booms, der durch die Fracking-Revolution entfesselt wurde. Warren, der einst die Pipelines des untergegangenen Enron-Konzerns zum Spottpreis aufkaufte, kontrolliert heute ein Röhrenimperium, das aneinandergelegt fast sechsmal um die Erde reichen würde.

Warren ist bekannt für seine aggressive Geschäftspolitik und seine markigen Sprüche. Umweltschützer, die sich seinen Projekten in den Weg stellen, gehören seiner Ansicht nach aus dem Genpool der Menschheit entfernt. Diese Rhetorik blieb nicht ohne Taten. Als sich 2016 in North Dakota indigene Gruppen vom Stamm der Standing Rock Sioux gegen den Bau der Dakota Access Pipeline (DAPL) stellten, weil sie ihre heiligen Stätten und ihr Trinkwasser gefährdet sahen, schwor Warren Rache. Er versprach, die Umweltschützer zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Instrument seiner Wahl war nicht der Dialog, sondern das Zivilrecht. Energy Transfer verklagte Greenpeace und forderte Schadenersatz in astronomischer Höhe. Der Vorwurf: Die Organisation habe die Proteste in Standing Rock nicht aus Sorge um die Umwelt unterstützt, sondern als kriminelle Vereinigung inszeniert, um Spenden zu generieren und das Geschäft des Unternehmens zu schädigen. Es ist eine Erzählung, die den legitimen Widerstand indigener Gruppen unsichtbar macht und ihn zu einer von außen gesteuerten Verschwörung umdeutet.

Das Urteil als Waffe

Der juristische Schlagabtausch gipfelte im Februar 2025 in einem Urteil, das Schockwellen durch die amerikanische Zivilgesellschaft sendete. Ein Geschworenengericht in North Dakota befand Greenpeace schuldig und verhängte eine Schadenersatzsumme von ursprünglich über 660 Millionen US-Dollar. Zwar reduzierte der zuständige Richter James D. Gion die Summe Ende Oktober nachträglich auf rund 345 Millionen Dollar, indem er technische Rechtsfragen korrigierte und feststellte, dass Energy Transfer in einigen Fällen gar nicht nachweisen konnte, Eigentümer des betroffenen Landes zu sein. Doch auch der reduzierte Betrag übersteigt das Jahresbudget von Greenpeace USA bei Weitem und bedroht die Organisation existenziell.

Die Strategie hinter diesem Prozess lässt sich als klassische SLAPP-Klage charakterisieren – eine strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung (Strategic Lawsuit Against Public Participation). Das Ziel solcher Verfahren ist selten die Wahrheitsfindung, sondern die Einschüchterung. Kritiker sollen durch horrende Forderungen und jahrelange, kostspielige Rechtsstreitigkeiten mürbe gemacht und finanziell ausgetrocknet werden.

Besonders perfide ist dabei die Konstruktion einer kollektiven Haftung. In der Logik der Anklage wird eine Organisation für die Handlungen einzelner, oft unbekannter Akteure verantwortlich gemacht. Wenn irgendwo im Umfeld eines Protests ein Zaun beschädigt wird oder ein Unbekannter eine Baumaschine sabotiert, soll die organisierende Gruppe dafür haften – selbst wenn sie ausdrücklich zu Gewaltfreiheit aufgerufen hat. Diese Rechtsauslegung hängt wie ein Damoklesschwert über jeder Form von organisiertem Protest. Sie zwingt NGOs dazu, jedes Risiko zu meiden, da sie potenziell für das Fehlverhalten jedes einzelnen Teilnehmers einer Demonstration zur Kasse gebeten werden könnten.

Ein politisch vergifteter Boden

Dass dieses Urteil in North Dakota fiel, ist kein Zufall. Der Bundesstaat ist ökonomisch massiv von der Ölförderung abhängig. Kritiker bemängelten schon bei der Auswahl der Geschworenen, dass ein fairer Prozess in einem Landkreis, dessen Alltag über Monate von den Protesten geprägt war und der wirtschaftlich am Tropf der Klägerin hängt, kaum möglich sei. Greenpeace versuchte vergeblich, den Prozess in eine neutralere Umgebung zu verlegen, doch die Gerichte lehnten ab.

Zusätzlich wird die Atmosphäre durch lokale Medien beeinflusst, die im Vorfeld negative Berichte über die Proteste streuten, was die Unparteilichkeit der Jury weiter infrage stellte. Es ist ein Musterbeispiel dafür, wie lokale Machtstrukturen und ökonomische Interessen eine Echokammer bilden, in der abweichende Meinungen kaum noch Gehör finden.

Die juristische Offensive wird flankiert von einer aggressiven Gesetzgebung. Lobbyistenverbände wie der American Legislative Exchange Council (ALEC) entwarfen Blaupausen für Gesetze, die unter dem Deckmantel des Schutzes kritischer Infrastruktur Proteste kriminalisieren. Diese Vorlagen wurden in 19 Bundesstaaten dankbar von Parlamentariern übernommen, die oft weder die Ressourcen noch das Personal haben, eigene Gesetze zu formulieren.

In Louisiana etwa gelten Formen des zivilen Ungehorsams nun als organisierte Kriminalität. Wer sich an der Planung eines Protests beteiligt, der als Störung empfunden wird, riskiert bis zu 50 Jahre Haft und Zwangsarbeit. Selbst der bloße Aufenthalt in der Nähe einer Pipeline kann drakonische Strafen nach sich ziehen. Diese Gesetze sind präzise geschliffene Werkzeuge, um den Raum für zivilgesellschaftliches Engagement so eng zu ziehen, dass kaum noch Luft zum Atmen bleibt.

Die Allianz im Weißen Haus

Der Rückenwind für diesen Feldzug gegen den Umweltschutz kommt direkt aus Washington. Donald Trump hat aus seiner Nähe zur fossilen Industrie nie einen Hehl gemacht, doch in seiner zweiten Amtszeit fallen letzte Hemmungen. Kelcy Warren gehörte im Wahlkampf 2024 zu den großzügigsten Spendern und überwies 5,8 Millionen Dollar zur Unterstützung des Kandidaten. Eine Investition, die sich bezahlt macht.

Kaum im Amt, erließ Trump ein Notstandsdekret zur Priorisierung der heimischen Öl- und Gasförderung. Er hob Moratorien für Flüssiggas-Exportterminals auf – Projekte, die für Warrens Expansionspläne essenziell sind. Zudem besetzte er die Umweltbehörde EPA mit Lobbyisten der Branche und installierte einen Fracking-Unternehmer als Energieminister. Die Kartellwächter, die Warrens aggressive Übernahmepolitik bremsen könnten, wurden auf eine unternehmensfreundliche Linie eingeschworen.

Es ist eine Symbiose aus Geld und Macht. Die Regierung liefert den deregulierten Rahmen, die Justiz in den konservativen Bundesstaaten liefert die Urteile, und die Industrie liefert das Kapital. In dieser Konstellation wirkt die Gewaltenteilung seltsam ausgehöhlt. Der Staat tritt nicht mehr als neutraler Schiedsrichter auf, sondern als Vollstreckungsgehilfe ökonomischer Interessen.

Der Chilling Effect: Wenn das Schweigen beginnt

Die Folgen dieser Entwicklung sind bereits spürbar, lange bevor das Urteil gegen Greenpeace rechtskräftig ist. Experten sprechen von einem Chilling Effect – einer abschreckenden Wirkung, die weit über den konkreten Fall hinausgeht. Wenn das Risiko, sich an einem Protest zu beteiligen, nicht mehr nur in einer Nacht in der Ausnüchterungszelle besteht, sondern im Verlust der bürgerlichen Existenz, werden es sich viele zweimal überlegen.

In Louisiana zeigt sich dies deutlich. Pastor Harry Joseph, der 2018 noch gegen eine Pipeline demonstrierte, sieht sich heute einer Gemeinde gegenüber, in der die Angst regiert. Damals wurden Aktivisten wegen Hausfriedensbruchs verhaftet – ein Vorwurf, der später fallen gelassen wurde. Doch unter den neuen Gesetzen wären die Konsequenzen verheerend.

Die Botschaft an Stiftungen und Spender ist ebenfalls unmissverständlich: Wer NGOs finanziert, die sich mit der Ölindustrie anlegen, könnte bald selbst ins Visier geraten oder sehen, wie seine Gelder in Schadenersatzzahlungen an Konzerne fließen. Dies könnte die finanzielle Basis der Umweltbewegung langfristig austrocknen.

Der transatlantische Graben

Während sich die Schlinge in den USA zuzieht, versucht Greenpeace, den Kampf auf internationales Parkett zu verlagern. Greenpeace International hat am Hauptsitz in den Niederlanden eine Gegenklage gegen Energy Transfer eingereicht. Die Organisation beruft sich dabei auf eine neue EU-Richtlinie gegen SLAPP-Klagen, die Kritiker vor genau solchen Einschüchterungsversuchen schützen soll.

Es ist der Versuch, den europäischen Rechtsraum als Schutzschild gegen die aggressive US-Litigation zu nutzen. Greenpeace argumentiert, dass das Vorgehen von Energy Transfer rechtsmissbräuchlich sei und verlangt Ersatz für die entstandenen Prozesskosten. Doch dieser Rettungsanker hat Haken: Die US-Ableger von Greenpeace sind von der niederländischen Klage nicht geschützt. Zudem betrachtet Energy Transfer den Vorstoß in Europa lediglich als Versuch, bereits in den USA entschiedene Fragen neu zu verhandeln und das Thema zu politisieren.

Der Fall offenbart damit auch einen tiefen kulturellen und juristischen Graben zwischen den USA und Europa. Während die EU Mechanismen stärkt, um die Zivilgesellschaft vor der Übermacht von Konzernen zu schützen, bewegen sich die USA in die entgegengesetzte Richtung. Dort wird das Rechtssystem zunehmend als Waffe eingesetzt, um Kritik zu pathologisieren und als kriminell zu brandmarken.

Ein Testfall für die Demokratie

Das Verfahren gegen Greenpeace ist mehr als ein Streit um eine Pipeline. Es ist ein Lackmustest für die Widerstandsfähigkeit demokratischer Grundrechte im Angesicht korporativer Macht. Energy Transfer nutzt diesen Fall, um Geschichte umzuschreiben: Der legitime Protest indigener Völker wird zur Verschwörung, ziviler Ungehorsam zum Geschäftsschaden.

Sollte das Urteil in der Berufung Bestand haben, wäre dies eine Blaupause für andere Branchen. Jeder Konzern, der sich durch Proteste gestört fühlt, könnte nach dem Vorbild von Kelcy Warren versuchen, seine Kritiker in den Ruin zu klagen. Die Einstufung von Protestorganisationen als kriminelle Vereinigungen nach dem RICO-Gesetz – ursprünglich geschaffen, um die Mafia zu bekämpfen – markiert dabei eine gefährliche Entgrenzung.

Die Reduzierung der Strafe durch Richter Gion mag wie ein Teilerfolg wirken, doch sie ändert nichts an der fundamentalen Bedrohung. Greenpeace USA steht vor dem Abgrund. Und mit der Organisation steht auch die Idee zur Disposition, dass Bürger das Recht haben, sich mächtigen Interessen entgegenzustellen, ohne dafür ihr Leben zu ruinieren. In den Gerichtssälen von North Dakota und den Gesetzesblättern von Louisiana wird gerade entschieden, ob das Land der Freien diesen Titel noch verdient, oder ob die Freiheit dort endet, wo die Pipeline beginnt.

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